Vor dem Mast – ein Nautiker erzählt vom Beginn seiner Seefahrt 1951-56. Klaus PerschkeЧитать онлайн книгу.
Auch diese Dame war nach den verlorenen Krieg ganz bescheiden auf den Boden der Tatsachen zurückgekommen. Wahrscheinlich war sie heilfroh, dass sie diesen fürchterlichen Schlamassel 1945 überhaupt lebend überstanden hatte.
Drei Jahre war ich während meiner Schulzeit stundenweise bei dem Buchhändler Hans Neubauer beschäftigt. Der Nachteil war, meine Leistungen in der Mittelschule ließen nach, die Sinuskurve der Zensuren hatte bereits den Zenit durchlaufen und neigte sich stark nach unten. Als ich eines Tages im Frühjahr bei der Versetzung von der 7. in die 8. Klasse auf der Strecke blieb und die 7. Klasse noch einmal wiederholen musste, da war es meinem Vater zu bunt: Runter von der Mittelschule und zurück auf die Volksschule. Für diesen Mittelschulspaß seines Kronsohnes war ihm das Geld zu schade. Immerhin musste mein Vater 50 DM im Vierteljahr an die Schulbehörde abdrücken, und die fehlten als Wirtschaftsgeld in unserer mageren Haushaltskasse. Also kam ich das letzte Schuljahr zurück in die Gorch-Fock-Volksschule. Ich war etwas traurig, weil ich mich als Versager fühlte. Okay, abends, wenn man aus dem Geschäft nach Hause kam und gegessen hatte, dann war oft keine große Energie mehr zum Erledigen der Hausaufgaben vorhanden, es langte meistens gerade noch zu den schriftlichen Schularbeiten. Beim Kopftraining, also Vokabeln auswendig lernen, schlief ich meistens ein, keine Kraft mehr. War das alles?
Nein, nicht ganz, denn ich hatte ein so genanntes angeborenes Talent, in dem ich in der Mittelschule ziemlich gut dastand: Ich konnte zeichnen und malen. Ich zeichnete und malte in meiner Freizeit gerne. Meine Eltern hatten es registriert, mein Kunstlehrer, in der Mittelschule, also Herr Riedel, hatte es entdeckt und mich gefördert, soweit er konnte. Aber das war’s auch schon. Im Grunde genommen kam keiner der Erwachsenen auf die Idee, dass man mein Talent vielleicht in eine berufliche Ausbildung umlenken könnte. Nichts geschah. Es klingelte auch bei Vater Willi nicht! Er war eben ein typischer Berufssoldat. Nachmittags, wenn ich als Bote an den Kinos vorbei kam, entdeckte ich riesige, handgemalte Filmankündigungsreklame zu beiden Seiten des Eingangs des UT-Kinopalastes in der Deichstraße. Alle diese faszinierenden riesigen Plakate mit den darauf dargestellten Schauspielern waren mit „Krollmann“ signiert. Und dieser Kunst- und Reklamemaler Krollmann hatte sein Atelier im Atlantikhaus, direkt gegenüber dem Bahnhof in Cuxhaven. Dorthin begab ich mich als 15jähriger eines Tages während meines Botengangs und stellte mich bei dem Künstler direkt vor. Das war im Frühjahr 1950. Ich erzählte ihm ganz unkonventionell meine Begeisterung für seine Reklameposter zu beiden Seiten der Kinoeingänge und bat ihn, mich als Lehrling anzunehmen und auszubilden. Bei dieser Unterhaltung erkundigte sich Herr Krollmann nach meinen Talenten und Hobbys, meiner Schulbildung und was ich sonst noch so in meiner Freizeit unternehmen würde. Er war erstaunt, dass ich als Bote für die Firma Hans Neubauer nach der Schulzeit Geld verdiente und verstand auch die Gründe. Auf jeden Fall ließ er durchblicken, dass er bereits zehn Bewerbungen hatte und davon nur drei Bewerber übernehmen könne. Ich sollte ihm aber ein paar Probezeichnungen nachreichen, damit er sich eine Beurteilung über mein Talent machen könne. Diese hatte ich gleich einen Tag später bei ihm vorbeigebracht, und er zeigte sich nicht ablehnend.
Plötzlich war ich euphorisch, ich tat alles, was meine Chefin, Frau Neubauer, mir auftrug, und diese Wandlung war ihr nicht verborgen geblieben. Eines Nachmittags, es waren zufällig keine Kunden im Laden, erkundigte sie sich nach dem Grund meiner Zufriedenheit, und ich dusseliger Bengel erzählte ihr von der Begegnung mit dem Reklamemaler (heute sagt man Graphiker) Krollmann und der Bewerbung bei ihm um einen Ausbildungsplatz, wobei ich nach meiner Einschätzung gute Chancen hätte, genommen zu werden. Statt sich mit mir zu freuen, schwieg meine Chefin und wünschte mir alles Gute zum eventuellen Ausbildungsplatz. Meine liebe Chefin war eine sehr kalkulierende Geschäftsfrau. Ohne dass ich es ahnte, hatte sie mich bereits als zukünftigen Lehrling mit in ihr Geschäft eingeplant. Doch jetzt begann sie aktiv zu werden. Jetzt setzte sie sich mit ihrem Geschäftsfreund Krollmann in Verbindung und bat ihn, eine Entscheidung über meine Bewerbung hinaus zu zögern, sozusagen auf die lange Bank zu schieben, damit sie mich in der Zwischenzeit breit quatschen und überzeugen könnte, dass es meine einzige Chance wäre, bei ihr eine Lehre zum Buchhandlungsverkäufer anzunehmen. Ihr Gatte, Hans Neubauer, der eigentliche Boss im Laden, hatte nichts zu melden, sie wollte alles mit mir einfädeln und regeln. Natürlich war ich ahnungslos, machte nach der Schule weiter meinen Job bei ihr im Laden, bis ich eines Tages ganz durch Zufall hinter ihre Intrigen kam.
Es war im Hochsommer 1950. Ich kam gerade von einer Auslieferungstour vorzeitig zurück, die Ladentür war weit auf, und nur ein Kunde befand sich im Laden. Ich wollte gerade nach hinten in den Geschäftsraum gehen. Sie saß mit dem Rücken zu mir und telefonierte. Ich trat leise ein, um sie nicht zu stören und blieb wie vom Blitz getroffen stehen, denn es war mein Name gefallen. Und nicht nur das, sie sagte dem Unbekannten am anderen Ende der Leitung: „Halte ihn noch 14 Tage hin, wir haben ihn bald weich geklopft.“ Ich dachte ich höre nicht richtig. Es ging um mich persönlich und um meine Bewerbung für den eventuellen Ausbildungsplatz bei Herrn Krollmann! Sie wollte verhindern, dass ich im Atelier Krollmann eine Lehre, wie man früher sagte, beginnen konnte. Ganz sicher wollte sie mich als Boten weiterarbeiten lassen, und vielleicht hätte ich dann 20 DM für die Sechstagewoche im Monat bekommen. Ich drehte mich geräuschlos um, ging fassungslos zurück bis in den alten Fischereihafen, setzte mich gegenüber der Bunkerfirma Glüsing am Kai auf einen Poller und ließ erst einmal den Kopf hängen. Das war ein starker Tobak, und ich wusste nicht mehr weiter. Ich hatte nie damit gerechnet, so verschaukelt zu werden. Hass kam in mir hoch, Hass auf die Erwachsenen, auf diese Käte Neubauer, für die ich nur eine Bauernfigur war im Schachspiel ihres Geschäftsumfelds und die mich nur benutzte. Hass auf meinen Vater, der mich als landwirtschaftlichen Lehrling auf einem Gut in Halchter bei Wolfenbüttel in der Nähe meiner dort verheirateten Cousine unterbringen wollte. Mehr fiel dem kleinen, abgetakelten Herrenmenschen nicht ein. „So nicht, ihr lieben Leute“, grollte ich. „Ihr kriegt mich nicht!“, schwor ich bei Gott und allen Heiligen. „Ihr schafft mich nicht!“, und dann sah ich die Fischkutter an dem Kai dümpeln, Hochseekutter aus Finkenwerder. Und ich sah die Männer an Bord. Und ich fasste mir ein Herz, nachdem ich meine Enttäuschung langsam runtergeschluckt hatte. Fragen kostet ja nichts. Vor mir lag zufällig der Hochseekutter „DOGGERBANK“, der dort Gasöl bunkerte. Ich überwand meine Scheu, fragte den Bestmann, ob ich an Bord kommen dürfe, stellte mich als Schüler vor und fragte, was ich unternehmen müsste, um als Schiffsjunge auf einem Kutter anzumustern und ob sie mich nehmen würden. Der Kapitän, der Bestmann und der Matrose schauten mich lange an, dann snackten sie auf Finkenwerder Platt, um mir die Formalitäten zu erklären. Ich hatte vorher noch nie platt gehört, denn bei uns zuhause wurde nur hochdeutsch mit schlesischem Akzent gesprochen. Aber diese Männer behandelten mich nicht ganz so wie einen dummen Jungen, wie meine Chefin es tat, und sie deuteten auch an, dass sie vielleicht so einen unterernährten Hungerhaken an Bord nehmen würden. Ich dankte ihnen nach der Unterredung. Trotz regte es sich in mir: „Euch Landratten zeig ich die Zähne, ihr werdet jede Wette verlieren, wenn ihr meint, dass ich in 14 Tagen reumütig an Land zurückkehren werde. Ich nicht!“ Das war die Trotzreaktion eines pubertierenden Jungen, verursacht durch die egoistische Manipulation oder das „brainwashing“ einer Geschäftsfrau, die die persönlichen Berufswünsche eines 15jährigen nicht respektierten wollte. Aber noch ging ich zur Schule. Erst musste ich meinen Schulabschluss machen, und der war erst im Frühjahr 1951. Und selbstverständlich musste ich die väterliche Einwilligung bekommen, denn das war die Voraussetzung, um überhaupt ein Seefahrtsbuch zu erhalten. Der Häuptling wird schon nachgeben, dessen war ich mir sicher. Denn, ersten hatte er in diesem Fall zunächst einen Esser weniger am Tisch. Weiterhin konnten wir uns von dem Arbeitslosengeld damals absolut keine großen Sprünge leisten. Und zweitens konnte er ja testen, wie lange der Bengel es in der so genannten „Christlichen Seefahrt“ aushält. Und hier beginnt der eigentliche Einstieg in meine schwimmende Biographie oder sagen wir ‚Episoden aus meinem maritimen Leben’ mit der Überschrift: „Mien Dschung, nu kook mol Aarvnsupp.“
Vorbemerkungen zur Seefahrt
Wichtige schiffsvermessungstechnische Begriffe und Definitionen