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Lord Jim. Joseph ConradЧитать онлайн книгу.

Lord Jim - Joseph Conrad


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solchen Hund geliebt worden ist. Daß einem all dies fortwährend vor Augen gestellt wurde, konnte einen schließlich aufbringen; wenn ich aber bedachte, daß ich diese leidigen Nachteile mit zwölfhundert Millionen anderer, mehr oder weniger menschlicher Wesen teilte, so ließ ich mir sein gutmütiges, geringschätziges Mitleid um des Gewinnenden und Anziehenden willen, das sonst in seiner Persönlichkeit lag, gern gefallen. Ich habe mir dieses Anziehende in ihm niemals klargemacht, doch gab es Augenblicke, wo ich ihn beneidete. Der Stachel des Lebens konnte seiner selbstzufriedenen Seele nicht mehr anhaben als ein Nadelstich einer glatten Felswand. Dies war beneidenswert. Wie er da so neben dem bescheidenen, blassen Polizeirichter saß, der die Verhandlung leitete, erschien sein Selbstgefühl mir und den Zuschauern hart wie Granit. Bald nachher beging er Selbstmord.

      Kein Wunder, daß Jims Fall ihm zu schaffen machte; und während ich beinah angstvoll die Größe seiner Verachtung für den jungen Mann, der unter Anklage stand, erwog, hielt er wahrscheinlich über seinen eigenen Fall Gericht ab. Das Urteil muß auf Schuldig ohne mildernde Umstände gelautet haben, und er nahm das Geheimnis dieses Schuldspruchs mit sich auf seinem Sprung in die See. Wenn ich etwas von Menschen verstehe, so war die Sache gewiß äußerst schwerwiegend, eine jener Geringfügigkeiten, die Ideen erwecken – einen Gedanken ins Leben rufen, mit dem es einer, der an solche Gesellschaft nicht gewöhnt ist, unmöglich findet, weiterzuleben. Ich kann mit Bestimmtheit sagen, daß weder Geld noch Trunksucht noch eine Frau die Ursache war. Er sprang über Bord, knapp eine Woche nach Schluß des Prozesses und nicht ganz drei Tage, nachdem er von jenem Hafen in See gegangen war, als hätte er genau an diesem Punkt inmitten des Meeres die Tore der anderen Welt zu seinem Empfang weit geöffnet gesehen.

      Doch war es kein plötzlicher Entschluß. Sein grauköpfiger Deckoffizier, ein äußerst tüchtiger Seemann und Fremden gegenüber ein netter alter Knabe, doch im Verkehr mit seinem Kommandanten der knurrigste Brummbär, der mir je vorgekommen ist, pflegte die Geschichte mit Tränen in den Augen zu erzählen. Demnach muß Brierly, bevor er morgens auf Deck kam, im Navigationsraum Briefschaften erledigt haben. »Es war zehn Minuten vor vier, und die Mittelwache war natürlich noch nicht abgelöst. Er hörte, wie ich auf der Kommandobrücke mit dem Zweiten Offizier sprach, und rief mich herein. Ich ging ungern, Kapitän Marlow – es ist wahr, ich konnte den armen Kapitän Brierly nicht ausstehen, ich sage es mit Beschämung; wir wissen nie, aus welchem Holz ein Mann gemacht ist. Er war über zu viele Köpfe hinweg, abgesehen von meinem eigenen, befördert worden, und er hatte eine verdammte Art, einen die Untergebenheit fühlen zu lassen, wenn er auch nur ›Guten Morgen‹ sagte. Ich redete ihn nie an, es sei denn in Dienstsachen, und dann mußte ich mir immer Mühe geben, nicht unhöflich zu werden.« (Damit schmeichelte er sich. Ich hatte mich oft gewundert, wie Brierly sich sein Benehmen länger als die halbe Fahrt gefallen lassen konnte.) »Ich habe eine Frau und Kinder«, fuhr er fort, »und war zehn Jahre bei der Gesellschaft gewesen, immer in Erwartung des nächsten Kommandos – Narr, der ich war. Sagt er also, gerade so: ›Kommen Sie hier herein, Herr Jones‹, mit seiner großtuerischen Stimme – ›kommen Sie hier herein, Herr Jones.‹ Ich ging hinein. ›Wir wollen den Schiffsort feststellen‹, sagte er und beugte sich mit einem Zirkel in der Hand über die Karte. Nach der Dienstordnung hätte das der abgehende Wachoffizier zu Ende seiner Wache zu tun gehabt. Ich sagte aber nichts und sah zu, wie er den Schiffsort mit einem winzigen Kreuz bezeichnete und Zeit und Datum dazuschrieb. Ich kann ihn noch jetzt vor mir sehen, wie er seine sauberen Zahlen schrieb: siebzehn, acht, vier a. m. Die Jahreszahl stand mit roter Tinte oben auf der Karte. Er benutzte seine Karten nie länger als ein Jahr, der Kapitän Brierly. Ich habe die Karte jetzt noch. Wie er fertig ist, sieht er das Zeichen an, das er gemacht hat, lächelt vor sich hin und sieht mich dann an. ›Noch dreißig Meilen geradezu‹, sagte er, ›dann sind wir klar, und Sie können den Kurs zwanzig Grad nach Süden ändern.‹

      Wir hielten uns auf dieser Reise im Norden der Hector Bank. Ich sagte: ›Jawohl, Herr Kapitän‹, und wunderte mich, was er hermachte, da ich ja sowieso den Kurs nicht ohne sein Beisein ändern konnte. Gerade da wurden acht Glasen geschlagen: wir traten auf die Brücke hinaus, und der Zweite sagt wie üblich, bevor er abgeht: ›Einundsiebzig auf dem Log.‹ Kapitän Brierly blickt auf den Kompaß und dann ringsumher. Es war dunkel und klar, und der Himmel so voller Sterne wie in einer Frostnacht unter hohen Breiten. Plötzlich sagt er wie mit einem kleinen Seufzer: ›Ich gehe achtern und stelle selbst für euch das Log auf Null, daß es keinen Irrtum geben kann. Zweiunddreißig Meilen weiter auf diesem Kurs, und ihr seid in Sicherheit. Halt mal – die Verbesserung auf dem Log ist sechs Prozent zu; sagen wir also dreißig nach dem Zeigerblatt, und ihr könnt sofort zwanzig Grad nach Steuerbord ändern. Es hat keinen Wert, Strecke zu verlieren, nicht wahr?‹ Ich hatte ihn nie so lange hintereinander und, wie es mir schien, zwecklos reden hören. Ich sagte gar nichts. Er ging die Treppe hinunter, und der Hund, der ihm Tag und Nacht, wohin er auch ging, auf den Fersen blieb, schlich mit tiefer Nase hinter ihm her. Ich hörte seine Absätze auf dem Hinterdeck, trapp, trapp, dann stand er still und sprach zu dem Hund: ›Zurück, Rover. Auf die Brücke, mein Sohn! Geh – vorwärts!‹ Dann rief er mir aus dem Dunkel zu: ›Sperren Sie den Hund in den Navigationsraum, Herr Jones, bitte!‹

      Dies war das letzte, was ich von ihm hörte, Kapitän Marlow. Es waren die letzten Worte, die er in Hörweite eines menschlichen Wesens sprach.« Dabei wurde die Stimme des Alten ganz zitterig: »Er hatte Angst, das arme Tier würde ihm nachspringen, wissen Sie. Ja, Kapitän Marlow. Er stellte das Log für mich; er tat sogar – würden Sie es glauben? – einen Tropfen Öl hinein. Das Ölkännchen stand daneben, wie er es gelassen hatte. Der Bootsmannsmaat kam um halb sechs mit dem Schlauch achtern, um aufzuwaschen, plötzlich wirft er alles hin und kommt auf die Brücke gerannt: ›Wollen Sie, bitte, achtern kommen, Herr Jones‹, sagt er. ›Da ist ein komisches Ding. Ich mag's nicht anrühren.‹ Es war Kapitän Brierlys goldener Chronometer, sorgfältig an der Kette unter der Reling aufgehängt.

      ,Sobald ich den sah, ging mir ein Licht auf, und ich wußte alles, Kapitän. Die Beine versagten mir. Mir war, als hätte ich ihn über Bord gehen sehen; und ich konnte auch sagen, wie weit wir ihn zurückgelassen hatten. Das Heckbord-Log zeigte achtzehndreiviertel Meilen, und vier eiserne Belegpinnen fehlten um den Großmast. Wahrscheinlich hatte er sie in die Taschen gesteckt, damit sie ihm hinunterhelfen sollten; aber, mein Gott! was sind vier eiserne Bolzen für einen starken Mann wie Kapitän Brierly! Mag sein, daß sein Selbstvertrauen zuletzt ein bißchen erschüttert war. Ich glaube, es ist das einzige Zeichen von Verwirrung, das er in seinem ganzen Leben gegeben hat; aber ich stehe dafür, daß er, einmal über Bord, nicht den leisesten Schwimmversuch gemacht hat, ebenso wie er die Kraft gehabt hätte, sich auf die Möglichkeit der Rettung hin einen ganzen Tag über Wasser zu halten, wenn er zufällig hineingefallen wäre. Ja, Kapitän. Es war ihm keiner über – wie er selbst sagte; ich habe es einmal von ihm gehört. Er hatte während der Mittelwache zwei Briefe geschrieben, einen an die Gesellschaft und den andern an mich. Er gab mir eine Menge Anweisungen wegen der Überfahrt – ich war schon beim Handwerk gewesen, bevor er noch ausgelernt hatte – und alle möglichen Winke, wie ich mich zu unsern Leuten in Schanghai zu stellen hätte, damit ich das Kommando über die Ossa behielte. Er schrieb wie etwa ein Vater an einen Lieblingssohn, Kapitän Marlow, und ich war fünfundzwanzig Jahre älter als er und hatte Salzwasser gekostet, bevor er die ersten Hosen bekam. In seinem Brief an die Schiffsreeder – er war für mich offengelassen worden – sagte er, daß er bis zu diesem Augenblick immer seinen Pflichten gegen sie nachgekommen sei, und auch jetzt täusche er ihr Vertrauen nicht, denn er lasse das Schiff in der Obhut eines so erfahrenen Seemanns, wie man ihn nur finden könne – damit meinte er mich, Kapitän, meinte mich! Er sagte ihnen, daß, wenn der letzte Akt seines Lebens ihm nicht all sein Ansehen bei ihnen verscherzte, sie bei der Besetzung des Postens, den sein Tod leer ließe, meine treuen Dienste und seine warme Empfehlung in Anschlag bringen möchten. Und noch manches der Art. Ich konnte meinen Augen nicht trauen. Ich war ganz fassungslos‹, fuhr er erschüttert fort und zerdrückte etwas in seinem Augenwinkel mit seinem spatelförmigen Daumen. Man hätte meinen können, er sei über Bord gesprungen, bloß um so einem Unglücksmann eine letzte Gelegenheit zum Weiterkommen zu geben. Sein jäher Tod in Verbindung mit der Aussicht, ein gemachter Mann zu sein, brachte mich eine Woche lang ganz aus dem Häuschen. Aber keine Bange. Der Kapitän des Pelion wurde auf die Ossa versetzt, kam in Schanghai an Bord, ein kleiner Laffe in graukariertem Anzug, der das Haar in der


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