Der Gesundheitsminister. Ulrich HildebrandtЧитать онлайн книгу.
die Komponenten, die Player, genannt, die heute das Sagen haben. Die sollst du verstehen lernen, darin wollen wir dich fit machen. Zum Wohlergehen unseres Gesundheitswesens. Du wirst das wollen.“
Jakob fährt nachdenklich nach Hause. Seine Gedanken sind gefangen von dem Treffen mit seinen Freunden. Beinahe hätte er einen Fußgänger auf der Motorhaube gehabt, als er in seinen Kiez einfährt. Um diese Zeit wechselt das Partyvolk stimmungsgeladen aus den Kneipen in die Clubs. Wirtschaft, sein Fach, und Gesundheit, nicht sein Fach, erscheinen ihm an diesem Abend bezugsreicher, als bisher gedacht. Mal abwarten, was Isabell dazu sagen wird.
Sie sehen sich nicht jeden Tag. Isabell besteht auf zwei getrennten Wohnungen. Anders könne sie nicht arbeiten, auf die Rückzugsoase keineswegs verzichten. Weil es so bleibt, empfindet auch Jakob, dass Rückzug guttut. Sie telefonieren fast täglich, manchmal nur ein kurzes Hallo, ganz oft brauchen sie sich gegenseitig. Um den Tag abzuschließen, um Gefühle auszutauschen, um sich für anstehende Herausforderungen einzurichten. Das hilft ungeheuer. Jeder hat sein eigenes Terrain, völlig anders, aber längst nicht mehr fremd. Einer ist Ratgeber des anderen. Aber nur, wenn es sein muss, wenn er gebraucht wird. Oft reicht es schon, wenn sie ein Thema nur anreißen. Bereits wenige Gedanken, von dem anderen ausgesprochen, können einen gangbaren Weg durch das Dickicht bahnen. Jakob will mit Isabell über die Idee seiner Freunde reden. Über die Idee, mehr ist es in seinen Augen noch nicht. Aber keine Bemerkung zu Isabell, bevor er das Papier gelesen hat.
Es vergehen zwei Tage an denen ein Termin und eine Sitzung die andere jagt. Schließlich findet er Zeit für das Papier. Es trägt die Überschrift „Selbstverwaltung im Gesundheitswesen“.
Jakob liest den Text seiner Freunde.
Eigentlich müsste der Staat das Gesundheitswesen organisieren und im Griff haben. Wer denn sonst, wenn nicht er. Dass seine Bürger gesund und leistungsfähig bleiben, ist doch wohl Voraussetzung für ein funktionierendes Staatsgebilde. Oder anders gesagt: die Aufgabe ist von öffentlichem Interesse.
Er tut es aber nicht. Warum nicht? Vielleicht aus erzieherischen Überlegungen. Um zu demonstrieren, wie schwierig es ist, Gesetze zu machen und dann mit den Gesetzen zu leben. Vielleicht auch um seine Mitbürger am Gemeinwesen aktiv zu beteiligen. Staat sind wir doch alle. Den gewählten Vertretern die ganze Last des Staates aufzubürden, das soll es nicht sein.
So hat der Staat, für uns alle, die Selbstverwaltung erfunden. Selbstverwaltung ist die organisierte Mitwirkung an Aufgaben, die durch Gesetze definiert sind. Natürlich, oder zum Glück, muss nicht jeder mitmachen, an der Selbstverwaltung. Da es eine öffentliche Aufgabe ist, also etwas wovon alle profitieren sollen, wurden Institutionen geschaffen, die sich mit dieser Aufgabe beschäftigen.
Selbstverwaltung gab es schon im Mittelalter und davor. Die ging nicht vom Staat aus, sondern von Handwerkern und Kaufleuten. Besonders erfolgreich war die Hanse, eine Vereinigung von Kaufleuten, die ihre Waren auf Schiffen über die Nord-, und Ostsee transportierten. Die Sicherheit der Transportwege und die Vertretung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen machten die Hanse stark und die Hansestädte reich.
In Zünften organisierten sich vom Mittelalter bis in das neunzehnte Jahrhundert die Handwerker eines Standes. Heute würden wir sagen, dass die jeweilige Berufsgruppe ein soziales und ökonomisches Netzwerk bildete. Diese Netzwerke gibt es nach wie vor. Heute heißen sie Körperschaften und sind nicht mehr freiwillig, daher auch der Begriff „öffentlich-rechtlich“.
Mag es einem gelegentlich auch anders vorkommen, so sind die Handwerks-, Ärzte-, und Rechtsanwaltskammern keine mafiösen Vereinigungen, sondern gesetzlich vorgeschriebene Körperschaften. Die Mitgliedschaft in diesen, selbstverwalteten, Kammerberufen ist allerdings Pflicht.
Bleiben wir beim Gesundheitswesen und blicken wir zurück in das 19. Jahrhundert. Zurück bis zum ersten deutschen Kaiser, Wilhelm I. Es ist die Zeit des Wandels vom Agrar-, zum Industriestaat. Schlechte Arbeitsbedingungen in den Fabriken führten zu Streiks und zur Gründung der Arbeiterbewegung. Reichskanzler Otto von Bismarck erkannte die Sprengkraft der extremen sozialen Gegensätze. Er sah die Monarchie und das begünstigte Bürgertum in Gefahr. Durch die Einführung der staatlichen Sozialgesetzgebung erhoffte er sich, den Sozialdemokraten, der treibenden Kraft, ihre politische Grundlage entziehen zu können.
Auf Bismarcks Initiative verabschiedete der Reichstag am 15. Juni 1883 das „Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter“. Versicherungspflichtig waren Arbeiter, die mehr als 2000 Mark im Jahr verdienten. 2/3 der Beiträge bezahlte der Versicherte, 1/3 der Arbeitgeber. Eine Gesetzgebung, die dem Staat nichts kostete. Davon betroffen waren nahezu alle lohnabhängigen Beschäftigten im Kaiserreich. Das klingt nach viel, betraf jedoch in der Anfangszeit nur 9 % der Bevölkerung. Bei einem Wechsel des Arbeitgebers blieb der Versicherungsschutz erhalten. Das war neu gegenüber den betrieblichen Krankenversicherungen, die es vorher schon gab. Im Krankheitsfall trug die Kasse die Kosten für die ärztliche Behandlung und für die Medikamente. Vom dritten Krankheitstag an zahlte die Versicherung die Hälfte des durchschnittlichen Lohnes. Das reichte aber nicht, um eine vierköpfige Familie zu ernähren.
Bismarcks wegweisende Krankenversicherung für Arbeitnehmer war im Ansatz ein Gesetz zur Verhinderung politischer Unruhen. Also in erster Linie politisch, in zweiter Linie sozial. Der politische Ansatz überwog. Auf Druck der erstarkenden Arbeiterbewegung folgte ein Jahr später die Unfallversicherung. 1889 verabschiedete der Reichstag die Invaliditäts- und Altersversicherung. 1891 kam die Rentenversicherung dazu. Sie wurde ab dem 70. Lebensjahr wirksam, allerdings nicht für viele, weil kaum einer 70 Jahre alt wurde. Alle Komponenten zusammen bilden die Sozialversicherung. Seinem Initiator zu Ehren die Bismarck’sche Sozialversicherung.
Otto von Bismarck hat den Startschuss gegeben für die Entstehung eines Systems, das einmal als Selbstverwaltung begann und zur Selbstbedienung verkam: das heutige deutsche Gesundheitssystem.
Unser heutiges Gesundheitssystem ist nicht auf dem Reißbrett entstanden, sondern von dem Geist seiner langen Entstehungsphase geprägt. Wie man bei Bismarck erkennen kann, war die Krankenversicherung für Lohnarbeiter keine soziale Wohltat, sondern politisches Kalkül. Aber daraus wurde die Versicherung, die heute fast 90 % der Bevölkerung unseres Landes im Krankheitsfall gesetzlich absichert. Aus dem ursprünglich einfachen Konstrukt ist aber auch ein Konglomerat aus Institutionen, Berufsgruppen und Einrichtungen entstanden, die, gelinde gesagt, unterschiedliche Interessen verfolgen.
Unsere Aufgabe wird sein, dieses Konglomerat zu entwirren. Wir möchten dir das Zusammenspiel der konträren Komponenten verständlich machen. Wir wollen dir die Partner der gemeinsamen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen einzeln vorstellen. Du sollst deren Struktur, deren Handlungsweise und deren Absichten erkennen. Es sind einige, von denen wir sprechen werden: das Bundesministerium für Gesundheit (BMG), der gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), die Deutsche Krankenhausgesellschaft e. V. (DKG), die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) und die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV).
Du sollst erkennen, dass Egoismus allgegenwärtig ist. Dass jeder Partner primär seinen Vorteil sucht. Soweit wir das überblicken können, sollst du es erfahren.
Da wir sicher sind, dass unsere Darstellung dich anspornen wird, die Missstände anzugehen, müssen wir dich nicht weiter bekehren. Du ganz persönlich wirst den Willen haben, den eisernen Rechen in die Hand zu nehmen. Wir kennen dich, wir wissen, dass die Aufgabe wie für dich gemacht ist.
Am Ende wirst du das Gesundheitssystem umkrempeln, auf ein neues Podest stellen. Ein Podest, das du aus deinen Erkenntnissen gebaut haben wirst. Dabei wollen wir dir helfen. Es ist Zeit für eine Erneuerung und du bist der Erneuerer.
Jakob legt das Papier aus der Hand. Irgendwie ist ihm unwohl. Er hat das Gefühl, dass andere in sein Leben eingreifen. Wären es nicht seine Freunde, dann hätte er dem Gefühl sofort Recht gegeben. Bisher hatte er immer selbst entschieden. Sein Weg in der Partei war nicht mit Gefälligkeiten gepflastert. Es waren immer seine Schritte, er wurde nie getragen. Er war ausschließlich