So viele Killer: Vier Kriminalromane. Alfred BekkerЧитать онлайн книгу.
Verfolgung auf, es gelang ihm aber, sie im Verlauf einer Stunde raffiniert auszupunkten. Ich habe bis drei Uhr morgens alle verfügbaren Kräfte losgehetzt, um seiner habhaft zu werden, musste aber unverrichteter Dinge aufgeben.“
Raymond Taggart dachte, ihn habe der Blitz getroffen, aber in seiner Antwort kam seine disziplinierte Fairness zum Durchbruch:
„Das ist allerdings eine schlechte Nachricht, Dunn. Aber da es nun schon passiert ist, hat es keinen Sinn, Vorwürfe und Gegenvorwürfe zu erheben. Ich werde meinen bewährten Sergeant Hulbert zu Ihnen abstellen — wenn es Ihnen recht ist — und er wird die weitere Verfolgung der Affäre an Ort und Stelle beobachten ...“
„Sie trauen mir also nicht mehr! Well, das habe ich verdient.“
„Unsinn, Dunn, Sie können doch nicht alles selbst machen! Und gegen die menschliche Unzulänglichkeit seiner Untergebenen ist kein Vorgesetzter gefeit. — Was haben Sie unternommen?“
„Ich habe das Personal des Postamtes verhört, soweit es je mit dem Postlagerschalter zu tun hatte, und dabei Folgendes ermittelt: Verschiedenen Beamten ist der Abholer seit Jahren bekannt. Man erinnert sich daran, dass er regelmäßig jede Woche einmal nach Briefen fragte, wogegen normalerweise nur einmal im Monat etwas einging. Beschrieben wird er als ein grauhaariger, in jeder Hinsicht unauffälliger Mann zwischen fünfundfünfzig und sechzig Jahren, eins siebzig groß, mit einem länglichen Gesicht.“ Beschwörend klang Dunns Stimme, als er fortfuhr:
„Seien Sie davon überzeugt, Taggart, dass ich alles tun werde, um die Scharte auszuwetzen.“
„Himmeldonnerwetter — wenn man eben nicht alles selber macht!“, machte Raymond Taggart seinem Grimm Luft, als er aufgelegt hatte. Er sah Hulbert fragend an. „Es passt Ihnen doch, dass ich Sie nach Worcester schicke?“
„Es passt mir zwar ganz und gar nicht, weil Sie mich hier in London dringend benötigen, aber ich muss wohl in den sauren Apfel beißen. Kann ich mir von der Fahrbereitschaft einen unauffälligen Wagen geben lassen?“
„Fahren Sie gleich nach Hause und packen Sie. In der Zwischenzeit werde ich mit Superintendent Heytesbury sprechen.
Den Wagen schicke ich Ihnen dann zur Wohnung, fahren Sie unverzüglich los. Was Sie zu tun haben, wissen Sie ja selbst.“
*
Als Raymond Taggart Sergeant Hulbert nach Worcester abgefertigt hatte, wurde seine Hoffnung, sich seiner Arbeit zuwenden zu können, endgültig zerstört. Der Vorzimmerbeamte meldete Helen Craigie.
„Ich lasse bitten“, murmelte der Inspector schlechtgelaunt.
Die pikante Frau trat ein — nein, sie trat auf, wie auf der Bühne. Mit temperamentgeladener Freundlichkeit streckte sie Taggart beide Hände entgegen und überfiel ihn mit einem Wortschwall.
„Guten Tag, Mrs. Craigie!“, sagte der Inspector schnell, als sie gerade einmal Luft schöpfte. „Welche Freude, Sie hier zu sehen.“ Er deutete auf seinen Besuchersessel. „Was verschafft mir die Ehre und das Vergnügen Ihrer Anwesenheit?“
Miss Craigie nahm kokett Platz, schlug die Beine übereinander und sorgte dafür, dass sie in Taggerts Blickfeld gerieten. Helen Craigie trug ein tief ausgeschnittenes Sommerkleid aus gelber Seide, das in der Taille von einem goldenen Gürtel zusammengehalten wurde, dazu schwarze Pumps mit sehr hohen Absätzen sowie Stulpenhandschuhe von gleicher Farbe. Einige kostbare Ringe hatte sie über dem Leder auf die Finger gesteckt. Das Gebilde auf ihrem Haar, das Taggart für ein notgelandetes Modellflugzeug gehalten hatte, entpuppte sich bei näherem Hinsehen als Hut.
„Da ich rein zufällig hier in der Nähe zu tun hatte, dachte ich mir, schaust du bei dem charmanten Inspector vorbei und fragst, ob man immer noch nichts von der armen Elga gehört hat ...“ Sie sagte das sehr leichthin, aber in ihren Augen glaubte Taggart einen besorgten Schimmer wahrzunehmen. Ihm lag auf der Zunge zu sagen: Ihre Lügen widern mich an, Miss Chilten! Aber er hatte das sichere Empfinden, dass es zu früh sei, seine Kenntnis ihrer wahren Identität zu offenbaren — und deshalb hielt er sich zurück.
„Ich arbeite jetzt den sechsten Tag an dem Fall und ich habe eine Menge Widerliches aufgedeckt — doch der entscheidende Schritt vorwärts ist mir nicht gelungen“, sagte er vorsichtig.
„Ja, richtig, die furchtbare Geschichte mit Captain Benham!“, murmelte Helen traurig. „Wer hätte gedacht, dass dieser hochbegabte, lebenslustige junge Mann auf solch tragische Weise enden werde! Ich habe Ihnen bei Ihrem Besuch neulich selbstverständlich alles gesagt, was ich weiß“, plapperte Helen Craigie scheinbar unbeschwert weiter, „und wenn ich jetzt noch etwas vorbringe, soll das nicht heißen, dass ich Ihnen neulich etwas verschwiegen hätte ...“
„Natürlich nicht“, meinte Taggart einsilbig und sah sie auffordernd an.
„Ja — hm — kann es nicht auch so sein, dass Elga auf Dunster Castle gefangen gehalten wird ...?“, sagte Helen geheimnisvoll und beugte sich etwas vor. „Ich erinnere mich nämlich daran, dass Elga schon früher den Namen Dunster Castle verschiedentlich rein beiläufig erwähnte. Nun, man kommt manchmal auf die drolligsten Gedanken — wenn man sich Sorgen macht, Sie verstehen ...“
„Das mit Dunster Castle ist so eine Sache“, Taggart musterte sie gespannt, „eine Sache, die auf keiner Kante passt, da Miss Peacock — nach dem Tod ihres Verlobten — plötzlich Stein und Bein schwört, die bewusste Begegnung mit Mrs. Elga am Abend des 23. August habe gar nicht stattgefunden, sondern beruhe auf einer reinen Erfindung Captain Benhams. Ich persönlich bin aber so gut wie sicher, dass Benham in diesem Punkt nicht gelogen hat.“
„So?“, fauchte Helen. „Sieh mal einer an, die kleine Eleanor! Ich habe ihr ja nie recht getraut — aber für dumm, nein, für dumm habe ich sie nie gehalten!“ Mit diesen Worten erhob sie sich und reichte Taggart die Hand. Dabei beugte sie sich etwas vor, er spürte den zarten Duft eines teuren Parfüms.
Minuten später war er wieder allein — aber der Duft war geblieben.
Nachdenklich, mit auf dem Tisch gefalteten Händen saß Taggart hinter seinem Schreibtisch und starrte die leere Wand an. So unmotiviert wie Helen Craigies Besuch erfolgt war, war er auch abgebrochen worden. Welchen Zweck hatte sie mit ihrem Besuch verfolgt? Taggart beschloss bei erstbester Gelegenheit, und zwar am gleichen Tag noch, Eleanor Peacock ein zweites Mal aufzusuchen.
*
„Mir ist nicht daran gelegen, die Rätsel zu lösen, die Sie mir aufzugeben belieben“, sagte Eleanor mit völlig sachlicher Stimme. „Sagen Sie schon klar und ohne Umschweife, was Sie noch von mir wollen, Inspector Taggart, oder ich muss Sie bitten, mein Appartement zu verlassen!“
Inzwischen war es sechzehn Uhr fünfzehn geworden. Ursprünglich hatte sich der Inspector beim Kriegsministerium telefonisch nach Miss Peacock erkundigt, dort aber lediglich die lakonische Auskunft erhalten, sie sei bis auf Weiteres zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit beurlaubt. Danach war er aufs Geratewohl zweimal nach Ealing gefahren, hatte sie aber beide Male nicht angetroffen und war erst beim dritten Anlauf, gegen sechzehn Uhr, glücklicher gewesen.
Taggart bemühte sich sein reizendes Visavis anzulächeln und spürte wieder, wie schwer es auch ihm wurde, sich ihrem bezwingenden Charme zu entziehen, den sie auch dann noch entwickelte, wenn sie traurig oder böse war. Im Augenblick schien sie beides zu sein. Sie hatte ein zeitloses Teagown an und trug das blonde Haar offen, bis zur Schulter hinunterhängend, aber es gelang ihr trotzdem nicht, Taggart von seinen dienstlichen Pflichten abzulenken.
„Also gut“, sagte er versöhnlich, „unterhalten wir uns ohne Umschweife. Was wissen Sie über Dunster Castle?“
Bei Erwähnung des Schlosses veränderte sich jäh das Verhalten der jungen Frau. „Warum eigentlich reiten Sie immerzu auf Dunster Castle herum?“, fragte sie ärgerlich. „Daran, dass es mit Elgas Verschwinden ganz und gar nichts zu tun hat, zweifelt doch keiner mehr.“
„Nur dann, wenn Captain Benham wirklich gelogen hat.“
„Captain Benham ...“ — ihre Lippen begannen zu zucken —