Seine Exzellenz Eugene Rougon. Emile ZolaЧитать онлайн книгу.
schlägt einander tot, aber man fügt einander keine Nadelstiche zu«, sagte er mit einem verächtlichen Achselzucken. »Jedermann hat solche dummen Briefe geschrieben, die bei anderen herumliegen.«
Und er nahm den Brief, steckte ihn an der Kerze in Brand, benutzte ihn als Fidibus, um den Stoß Papiere im Kamin anzuzünden. Einen Augenblick lang blieb er dort zusammengekauert, dennoch riesenhaft, hocken und bewachte die brennenden Papiere, die bis auf den Teppich rollten. Einige Verwaltungsakten aus dickem Papier wurden schwarz, drehten sich zusammen wie dünne Bleiplatten; mit häßlichen Handschriften besudelte Briefe und Zettel brannten mit kleinen blauen Flammenzungen, während in der Feuerglut, mitten in einem Gewimmel von Funken, ganz versengte Stücke heil und noch lesbar blieben.
In diesem Augenblick ging die Tür weit auf. Eine lachende Stimme sagte: »Gut, gut, ich werde Sie entschuldigen, Merle ... Ich gehöre zum Hause. Wenn Sie mich hindern wollten, hier einzutreten, würde ich, bei Gott, den Weg durch den Sitzungssaal nehmen!«
Das war Herr d'Escorailles, den Rougon vor sechs Monaten zum Auditeur22 beim Staatsrat hatte ernennen lassen. An seinem Arm führte er die hübsche Frau Bouchard mit herein, die in einer hellen Frühjahrstoilette strahlte.
»Das hat mir gerade gefehlt! Jetzt auch noch Frauen!« brummte Rougon.
Er ging nicht gleich vom Kamin fort. Er blieb auf dem Fußboden hocken, in der Hand die Schaufel, mit der er aus Angst vor einem Brand die Flamme erstickte. Und mit verdrossener Miene hob er sein großes Gesicht.
Herr d'Escorailles ließ sich dadurch nicht aus der Fassung bringen. Er und die junge Frau hatten schon beim Überschreiten der Schwelle aufgehört, einander anzulächeln, und statt dessen eine der Gelegenheit angemessene Haltung angenommen.
»Teurer Meister«, sagte er, »ich bringe Ihnen eine Ihrer Freundinnen, die Ihnen unbedingt ihr Bedauern aussprechen möchte ... Wir haben heute morgen den ›Moniteur‹ gelesen ...«
»Sie haben den ›Moniteur‹ gelesen, Sie alle«, knurrte Rougon, der sich endlich entschloß aufzustehen. Aber da gewahrte er jemanden, den er noch nicht bemerkt hatte. Nach einem Blinzeln murmelte er: »Ah, Herr Bouchard!«
Es war in der Tat ihr Ehemann. Still und würdevoll war er hinter den Röcken seiner Frau eingetreten. Herr Bouchard war sechzig Jahre alt, hatte einen völlig weißen Kopf und einen erloschenen Blick; sein Gesicht wirkte wie abgenutzt von seinen fünfundzwanzig Jahren Verwaltungsdienst. Er sprach kein Wort. Mit tief ergriffener Miene faßte er Rougons Hand, die er dreimal kräftig schüttelte.
»Na ja«, sagte Rougon, »es ist sehr nett von Ihnen, daß Sie alle zu mir gekommen sind; nur stören Sie mich entsetzlich ... Kurz, setzen Sie sich da drüben hin ... Du Poizat, geben Sie der gnädigen Frau Ihren Sessel.«
Als er sich umdrehte, sah er sich nun Oberst Jobelin gegenüber. »Auch Sie, Oberst!« rief er.
Die Tür war offengeblieben, und Merle hatte sich dem Eintreten des Obersten, der unmittelbar hinter den Bouchards die Treppe heraufgekommen war, nicht widersetzen können. Der Oberst hielt seinen Sohn an der Hand, einen großen Schlingel von fünfzehn Jahren, damals Schüler der dritten Klasse des Gymnasiums LouisleGrand.
»Ich wollte Ihnen Auguste herbringen«, erklärte er. »Im Unglück geben sich die wahren Freunde zu erkennen ... Auguste, gib die Hand.«
Aber Rougon stürzte zum Vorzimmer und schrie: »Machen Sie doch die Tür zu, Merle! Wo haben Sie denn Ihre Gedanken! Ganz Paris wird noch hereinkommen.«
Der Türhüter wandte ihm sein ruhiges Gesicht zu und sagte: »Das kommt davon, daß man Sie gesehen hat, Herr Präsident.«
Und er mußte beiseite treten, um die Charbonnels vorbeizulassen. Sie kamen nebeneinander herein, aber nicht untergefaßt, nach Atem ringend, tief unglücklich, bestürzt. Sie sprachen beide zugleich.
»Wir haben soeben den ›Moniteur‹ gelesen ... Ach, welche Nachricht! Wie verzweifelt wird Ihre arme Mutter sein! Und wir – in welch traurige Lage versetzt uns das!«
Diese zwei, naiver als die anderen, fingen sofort mit ihren unwichtigen Angelegenheiten an. Rougon brachte sie zum Schweigen. Er schob einen unter dem Türschloß verborgenen Riegel vor, wobei er murmelte, jetzt könne man die Tür seinetwegen einschlagen, und als er dann sah, daß offenbar nicht einer seiner Freunde sich entschließen mochte, das Zimmer zu verlassen, ergab er sich und versuchte, inmitten der neun Personen, die den Raum füllten, seine Arbeit zu Ende zu bringen. Das Ausräumen der Papiere hatte das Zimmer schließlich völlig in Unordnung gebracht. Auf dem Teppich lag ein wirres Durcheinander von Akten, so daß der Oberst und Herr Bouchard, die zu einer Fensternische gelangen wollten, die allergrößte Vorsicht walten lassen mußten, um auf dem Wege dorthin nicht irgend etwas Wichtiges zu zertreten. Auf allen Sitzgelegenheiten häuften sich verschnürte Bündel; einzig Frau Bouchard hatte sich auf einen leergebliebenen Sessel setzen können; und sie lächelte zu den Artigkeiten Du Poizats und Herrn Kahns, während Herr d'Escorailles, der keine Fußbank mehr fand, ihr einen dicken blauen, mit Briefen vollgepfropften Umschlag unter die Füße schob. Die in einer Ecke auf einen Haufen umgestürzten Schubfächer ermöglichten es den Charbonnels, sich für einen Augenblick hinzuhocken, um wieder zu Atem zu kommen, indes der junge Auguste, entzückt davon, in dieses Umzugsdurcheinander geraten zu sein, umherschnüffelte und hinter dem Berg von Schubfächern verschwand, in dessen Mitte sich Delestang verschanzt zu haben schien. Letzterer machte viel Staub, indem er von oben die Zeitungen aus dem Bücherschrank herunterwarf. Frau Bouchard hüstelte.
»Sie tun nicht gut daran, sich in diesem Schmutz aufzuhalten«, sagte Rougon, damit beschäftigt, die Schubfächer zu leeren, die nicht anzurühren er Delestang gebeten hatte.
Aber die junge Frau, ganz rosig vom Husten, versicherte ihm, daß sie sich sehr wohl fühle und ihr Hut den Staub vertragen könne. Und die Clique konnte ihre Anteilnahme gar nicht genug bekunden. Der Kaiser kümmere sich wahrlich nicht um das Wohl des Landes, wenn er sich von seines Vertrauens so wenig würdigen Männern umgarnen lasse. Frankreich erleide einen Verlust. Übrigens sei das immer so: gegen einen großen Geist verbündeten sich stets alle Mittelmäßigen.
»Regierungen sind undankbar«, erklärte Herr Kahn.
»Um so schlimmer für sie!« sagte der Oberst. »Sie treffen sich selbst, wenn sie ihre Diener schlagen.«
Aber Herr Kahn wollte das letzte Wort behalten. Er wandte sich zu Rougon um.
»Wenn ein Mann wie Sie stürzt, trauert das ganze Volk!«
Die Clique bestätigte: »Ja, ja, dann trauert das ganze Volk!«
Bei diesen plumpen Lobsprüchen hob Rougon den Kopf. Seine grauen Backen bekamen einen roten Schimmer, sein ganzes Gesicht lächelte verhalten vor Befriedigung. Er war so eitel auf seine Macht, wie es eine Frau auf ihre Anmut ist; und er liebte es, wenn die Schmeicheleien seine breite Brust, die so stark war, daß kein Pflasterstein sie zerschmettern konnte, aus nächster Nähe trafen. Unterdessen wurde es offensichtlich, daß seine Freunde einander im Wege waren; sie belauerten sich mit Blicken, versuchten sich gegenseitig zu verdrängen, wollten nicht deutlich reden. Jetzt, da der große Mann gezähmt zu sein schien, mußte man sich beeilen, ihm ein Versprechen zu entreißen. Und als erster faßte der Oberst einen Entschluß. Er führte Rougon, der, ein Schubfach unter dem Arm, widerstandslos mitging, in eine Fensternische.
»Haben Sie an mich gedacht?« fragte er ihn im Flüsterton, mit einem liebenswürdigen Lächeln.
»Gewiß, Ihre Ernennung zum Kommandeur der Ehrenlegion ist mir noch vor vier Tagen versprochen worden. Nur werden Sie wohl einsehen, daß es mir heute unmöglich ist, irgend etwas zuzusichern ... Ich fürchte, ich gestehe es Ihnen, meine Freunde werden die Folgen davon, daß ich in Ungnade gefallen bin, zu spüren bekommen.«
Die Lippen des Obersten zitterten vor Erregung. Er stammelte, man müsse kämpfen, er selber werde kämpfen. Dann drehte er sich plötzlich um und rief: »Auguste!«
Der Schlingel kauerte auf allen vieren unter dem Schreibtisch und war damit beschäftigt, die Aufschriften auf den Aktendeckeln zu lesen, was ihm ermöglichte,