Seine Exzellenz Eugene Rougon. Emile ZolaЧитать онлайн книгу.
alten Wohnsitz Plassans und eilten nach Paris, wo sie sich im Hôtel du Périgord in der Rue Jacob einmieteten, um ihre Angelegenheit aus der Nähe zu verfolgen. Und diese Angelegenheit zog sich schon sechs Monate hin.
»Wir sind sehr traurig«, seufzte Frau Charbonnel, während Rougon den Brief las. »Ich wollte ja nichts von diesem Prozeß hören. Aber mein Mann sagte immer wieder, mit Ihrer Hilfe sei uns das Geld sicher, Sie brauchten nur ein Wort zu sagen, und die fünfhunderttausend Francs flössen in unsere Tasche ... Nicht wahr, Charbonnel?«
Der ehemalige Ölhändler schüttelte hoffnungslos den Kopf. »Das war ein Betrag«, fuhr die Frau fort, »dafür lohnte es sich, seine bisherige Lebensweise auf den Kopf zu stellen ... Ach ja, sie ist auf den Kopf gestellt worden, unsere Lebensweise! Denken Sie doch, Herr Rougon, noch gestern hat sich das Zimmermädchen geweigert, uns frische Handtücher zu geben! Das mir, die ich in Plassans fünf Schränke voll Wäsche habe!«
Und sie beklagte sich weiter bitter über Paris, das sie verabscheue.
Sie waren für acht Tage hierhergekommen, später hatten sie sich, da sie von Woche zu Woche hofften, abreisen zu können, nichts nachschicken lassen. Jetzt, als die Sache kein Ende nahm, ließen sie es eigensinnig bei ihrem möblierten Zimmer bewenden, aßen, was das Hausmädchen ihnen gerade brachte, und saßen ohne Wäsche, ja fast ohne Kleidungsstücke da. Sie hatten nicht einmal eine Bürste, und Frau Charbonnel frisierte sich mit einem zerbrochenen Kamm. Zuweilen setzten sie sich auf ihren kleinen Koffer und weinten vor Erschöpfung und Wut.
»Und dieses Hôtel hat so zweideutige Gäste!« murmelte Herr Charbonnel mit großen verstörten Augen. »Da wohnt ein junger Mann neben uns. Man hört da Sachen ...«
Rougon faltete den Brief zusammen.
»Meine Mutter«, sagte er, »gibt Ihnen den ausgezeichneten Rat, sich zu gedulden. Ich kann Sie nur auffordern, sich mit einem neuen Vorrat an Mut zu wappnen ... Ihr Prozeß scheint mir gut zu stehen; aber nun bin ich abgegangen, und da wage ich Ihnen nichts mehr zu versprechen.«
»Morgen verlassen wir Paris!« schrie Frau Charbonnel in einem Anfall von Verzweiflung.
Doch kaum hatte sie diesen Schrei ausgestoßen, als sie ganz blaß wurde. Herr Charbonnel mußte sie stützen. Und einen Augenblick lang standen sie wortlos da, sahen einander mit zitternden Lippen an und hätten am liebsten geweint. Es wurde ihnen schwach, ein jäher Schreck befiel sie, als seien ganz plötzlich die fünfhunderttausend Francs vor ihren Augen zerronnen.
Rougon fuhr herzlich fort: »Sie haben es mit einem starken Gegner zu tun. Monsignore24 Rochart, der Bischof von Faverolles, ist persönlich nach Paris gekommen, um die Eingabe der Schwestern von der Heiligen Familie25 zu unterstützen. Ohne sein Dazwischentreten hätten Sie schon lange gewonnenes Spiel. Der Klerus ist heute leider sehr mächtig ... Aber ich lasse hier Freunde zurück, ich hoffe, etwas tun zu können, ohne selber in Erscheinung zu treten. Sie haben so lange gewartet, daß, wenn Sie morgen abreisten ...«
»Wir werden bleiben. Wir werden bleiben«, beeilte sich Frau Charbonnel zu stammeln. »Ach, Herr Rougon, diese Erbschaft wird uns teuer zu stehen kommen!«
Rougon machte sich eifrig wieder an seine Papiere. Er ließ einen befriedigten Blick durch den Raum schweifen, erleichtert, weil er niemanden mehr sah, der ihn noch in eine Fensternische hätte führen können; die ganze Clique war abgespeist. In wenigen Minuten brachte er seine Arbeit ein gutes Stück weiter. Er besaß eine brutale Heiterkeit, mit der er sich über die Leute lustig machte, um sich für den Verdruß zu rächen, den man ihm verursachte. Eine Viertelstunde lang wurde er furchtbar für seine Freunde, deren Geschichten er sich eben noch mit soviel Wohlwollen angehört hatte. Er trieb es so weit, er zeigte sich so schroff gegen die hübsche Frau Bouchard, daß sich die Augen der jungen Frau mit Tränen füllten, obwohl sie nicht zu lächeln aufhörte. Die Freunde, an solche Keulenschläge gewöhnt, lachten. Niemals war es besser um ihre Angelegenheiten bestellt als in den Stunden, da Rougon seine Fäuste auf ihrem Nacken übte.
In diesem Augenblick wurde leise an die Tür geklopft.
»Nein, nein, machen Sie nicht auf!« rief er Delestang zu, der aufgesprungen war. »Will man mich etwa zum Narren halten! Mir dröhnt schon der Kopf!«
Und als man die Tür heftiger erschütterte, knurrte er zwischen den Zähnen: »Ach, wie würde ich diesen Merle hinauspfeffern, wenn ich hierbliebe!«
Es klopfte nicht mehr. Auf einmal aber tat sich in einer Ecke des Zimmers eine kleine Tür auf, durch die sich ein riesiger Frauenrock aus blauer Seide rücklings hereinzwängte. Und dieser sehr helle, reich mit Bandschleifen verzierte Rock verhielt dort einen Augenblick, halb schon im Zimmer, ohne daß man etwas anderes sah. Draußen sprach lebhaft eine ganz zarte Frauenstimme.
»Herr Rougon!« rief die Dame, endlich ihr Gesicht zeigend. Es war Frau Correur in einem mit einem Rosensträußchen garnierten Hut.
Rougon, der wütend, die Fäuste geballt, näher gekommen war, ergab sich in sein Schicksal, drückte der Eintretenden die Hand und dienerte.
»Ich habe Merle gefragt, wie es ihm hier gefällt«, sagte Frau Correur und ließ dabei ihren Blick zärtlich auf dem großen Kerl von Türhüter ruhen, der aufrecht und lächelnd vor ihr stand. »Und Sie, Herr Rougon, sind Sie mit ihm zufrieden?«
»Aber ja, gewiß doch«, erwiderte Rougon liebenswürdig.
Merle behielt sein verzücktes Lächeln, die Augen starr auf Frau Correurs üppigen Hals gerichtet. Sie warf sich in die Brust, brachte mit einer Hand die Locken an den Schläfen in Ordnung.
»Es geht also gut, junger Mann«, sagte sie. »Wenn ich jemanden unterbringe, möchte ich, daß alle zufrieden sind ... Und wenn Sie einen Rat brauchen sollten, so kommen Sie zu mir, morgens, Sie wissen ja, zwischen acht und neun. Also, seien Sie brav.«
Und mit den an Rougon gerichteten Worten: »Nichts geht über die ehemaligen Soldaten«, trat sie ganz in das Arbeitszimmer. Dann gab sie ihn nicht mehr frei; sie führte ihn mit kleinen Schritten zu dem Fenster am anderen Ende und zwang ihn so, den ganzen Raum zu durchqueren. Sie schalt ihn, weil er nicht aufgemacht hatte. Wenn sich Merle nicht bereit gefunden hätte, sie durch die kleine Tür hereinzulassen, hätte sie also draußen bleiben müssen? Doch Gott wisse, wie nötig es für sie sei, ihn zu sprechen! Denn schließlich könne er doch nicht einfach weggehen wollen, ohne ihr zu sagen, wie es um ihre Bittgesuche stehe. Sie zog ein kleines, sehr kostbares, in rosa Moiré gebundenes Notizbuch aus der Tasche.
»Ich habe den ›Moniteur‹ erst nach dem Frühstück gesehen«, sagte sie. »Ich habe sofort eine Droschke genommen ... Hören Sie, wie steht es mit der Angelegenheit von Frau Leturc, der Hauptmannswitwe, die um einen Tabakladen bittet? Ich habe ihr für nächste Woche eine Entscheidung versprochen ... Und die Sache jener jungen Dame, Sie wissen schon, Herminie Billecoq, eine frühere Schülerin von Saint Denis26, die ihr Verführer, ein Offizier, zu heiraten eingewilligt hat, falls irgendeine ehrliche Seele die vorgeschriebene Mitgift vorstrecken will. Wir hatten an die Kaiserin gedacht ... Und all die anderen Damen, Frau Chardon, Frau Testanière, Frau Jalaguier, die seit Monaten warten?«
Rougon antwortete in aller Ruhe, erklärte die Verzögerungen, ging auf die geringsten Einzelheiten ein. Er gab Frau Correur jedoch zu verstehen, daß sie von nun an sehr viel weniger auf ihn zählen dürfe. Da wurde sie tieftraurig. Es beglücke sie doch so sehr, anderen zu helfen! Was denn aus ihr und allen diesen Damen werden solle? Und sie endete damit, von ihren persönlichen Angelegenheiten zu sprechen, die Rougon genau kannte. Sie wiederholte, daß sie eine Martineau sei, von den Martineaus in Coulonges, einer guten Familie aus der Vendée, in der man bis zu sieben aufeinanderfolgende Generationen Notare nachweisen könne. Niemals ließ sie sich deutlich darüber aus, wie sie selber zu dem Namen Correur gekommen war. Im Alter von vierundzwanzig Jahren war sie mit einem Metzgerburschen durchgebrannt, nachdem sie sich einen ganzen Sommer lang mit ihm in einem Schuppen getroffen hatte. Ihr Vater hatte unter dem Schlag dieses Skandals, einer Ungeheuerlichkeit, von der man noch jetzt in jener Gegend sprach, sechs Monate lang mit dem Tode gerungen. Seit jener Zeit lebte sie in Paris, für ihre Familie sozusagen gestorben. Zehnmal hatte sie an ihren Bruder, der jetzt dem Notariat vorstand, geschrieben,