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ließ sie nach einer angemessenen Frist für tot erklären und erbte einen gehörigen Batzen des Humbert-Vermögens, inklusive der Ländereien, die nun die Grenze zwischen den beiden Anwesen bildeten.
Timothy betrachtete das Porträt eine ganze Weile, er musste zugeben, dass Lady Adelaide eine sehr schöne Frau gewesen war. Und ihm wurde bewusst, wie wenig die Legende von der Geisterlady vermutlich mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Lady Adelaide war ganz sicher kein höllisches Geschöpf, das nur darauf aus war, armen Wanderern auf dem Moor die Seele zu rauben. Sie war wohl eines gewaltsamen Todes gestorben und fand keine Ruhe im Jenseits. Und sie schien Heather aus irgendeinem Grund davor bewahren zu wollen, ein ähnliches Schicksal zu erleiden.
Der junge Mann wurde blass. Er blätterte weiter in der Chronik, las alle Kapitel, die sich mit den Verbindungen zwischen Humberts und Hanleys beschäftigten. Und sein makaberer Verdacht wurde bestätigt: Allen Eheschließungen zwischen den Familien war kein dauerhaftes Glück beschieden gewesen. Stets hatte ein Mitglied der Humberts einen frühen Tod gefunden. Und stets hatte ein Hanley geerbt.
Was, wenn Heather vielleicht gar nicht so mittellos war, wie es allgemein hieß? Womöglich gab es ein Vermögen, auf das die Hanleys aus waren. Wollten sie es sich in guter alter Tradition in die Tasche stecken? Timothy stöhnte gequält auf. Diese Möglichkeit erschien ihm nun noch viel schlimmer als eine Heirat Heathers mit einem anderen. Und die Notwendigkeit, das geliebte Mädchen zu retten, wurde drängender denn je …
Als Lord Cyrus erwachte, war er allein in der Bibliothek. Ein wenig verstimmt streckte er seine schmerzenden Knochen, wobei sein Blick auf eine Notiz fiel, die jemand in die Tasche seines Hausmantels gesteckt hatte. Als er sie auseinanderfaltete, las er: »Bin nach London gefahren, komme spät zurück, hoffe, dort Klarheit zu erlangen. Alles weitere mündlich, Timothy.«
Der Lord rieb sich nachdenklich das Kinn. Offenbar war sein Neffe auf etwas gestoßen. Er betrachtete die Seite in der Familienchronik, die noch aufgeschlagen war.
»Lady Adelaide also«, murmelte er dann. Timothy war offenbar fündig geworden. Doch was hatte er in dem alten Buch gelesen, das ihn zu einer überhasteten Reise nach London veranlasste? Lord Cyrus hatte keine Ahnung. Ihm blieb wohl nichts anderes übrig, als auf Timothys Rückkehr zu warten …
*
Heather schrak zusammen, als der Schlüssel gedreht und ihre Zimmertür geöffnet wurde. Doch es war keiner ihrer Verwandten, sondern Polly, die ihr ein abgedecktes Tablett brachte. Das Dienstmädchen schaute sie mitleidig an.
»Geht es Ihnen sehr schlecht, Miss Heather? Mrs. Hanley sagte, Sie wären krank.«
Heather zögerte nicht, dem Mädchen die Wahrheit zu sagen. Sie war sicher, dass sie Polly vertrauen konnte und erklärte deshalb hastig: »Ich bin nicht krank, ich werde hier gefangen gehalten. Bitte, Polly, hilf mir. Lass mich gehen!«
Polly musterte Heather misstrauisch. Diese konnte nicht ahnen, was Prudence dem einfachen Ding eingeredet hatte: Dass Heather gemütskrank war, unter Wahnvorstellungen litt und bei einer Verschlechterung ihres Zustandes wohl in eine Anstalt musste.
»Geh auf nichts ein, was sie sagt«, hatte sie Polly eingeschärft. »Sie würde alles tun, um das Haus zu verlassen und zu verschwinden. Dr. Wallace befürchtet, dass sie sich etwas antut, sobald sie die Gelegenheit dazu hat.«
Das wollte Polly natürlich nicht. Und so, wie Heather sie nun ansah, schien etwas dran zu sein an dem, was ihre Brotherrin behauptet hatte. Heather war bleich, ihr Blick irrte hektisch durchs Zimmer, sie schien auf dem Sprung zu sein. Das alles passte zu den Worten von Prudence. Deshalb stellte Polly nun das Tablett ab und bat: »Essen Sie etwas, das wird Ihnen gut tun. Ich komme später und hole das Tablett wieder ab.«
»Aber, Polly, hast du mich denn nicht verstanden?«, rief Heather verzweifelt. »Ich werde hier als Gefangene gehalten!«
»Ja, Miss, sicher.« Das Dienstmädchen wollte gehen, da packte Heather sie am Arm und herrschte sie an: »Wir sind doch Freundinnen. Wieso lässt du mich im Stich?«
»Sie sind nicht meine Freundin, Miss. Ich fürchte mich vor Ihnen. Lassen Sie mich in Ruhe«, murmelte Polly und flüchtete richtiggehend aus dem Zimmer, Hastig schlug sie die Tür hinter sich zu und schloss ab. Heather hörte, wie das Mädchen weglief, als sei der Leibhaftige hinter ihm her. Was hatte das zu bedeuten? Warum war Polly plötzlich so verändert? Hatten die Hanleys sie gegen Heather aufgehetzt? Das schien die einzige Erklärung zu sein.
Mit einem resignierten Seufzen ließ Heather sich am Tisch nieder und dreckte das Tablett ab. Darauf stand ein Teller mit Porridge und ein Glas Wasser.
»Das Essen für eine Zuchthäuslerin«, ging es Heather in einem Anflug von Galgenhumor durch den Sinn. Denn genau so fühlte sie sich nun auch.
Das Porridge roch nicht appetitlich, Agatha schien ein wenig Mandelaroma hinzugegeben zu haben, um es genießbar zu machen. Heather wollte eben einen Löffel voll essen, als etwas Kaltes ihren Nacken streifte. Die feinen Härchen dort stellten sich auf und ein Schauer lief über ihren Rücken. Heather saß mit dem Rücken zur Tür, sie hatte das Fenster vor sich. Und da es draußen bereits dunkel war, sah sie deutlich die Spiegelung in der Scheibe. Jemand war bei ihr – die Geisterlady!
Im ersten Impuls wollte Heather flüchten, auch wenn sie wusste, dass es in ihrem kleinen Zimmer kaum ein Ausweichen geben konnte. Aber dann dachte sie an das, was Timothy bei ihrem letzten Treffen gesagt hatte: Dass sie sich nicht vor der unheimlichen Erscheinung fürchten musste, weil diese ihr nichts Böses wollte. Er hatte diese Behauptung nicht erklären können, denn Reginald war aufgetaucht und hatte sie gewaltsam nach Hanley-Hall geschleift. Doch Heather war überzeugt, dass Timothy einen triftigen Grund für seine Worte hatte. Und sie vertraute ihm. Deshalb blieb sie nun ruhig sitzen und betrachtete die Spiegelung in der Scheibe. Sie sah, wie die Geisterlady langsam etwas näher kam und dann neben ihr stehen blieb.
»Heather, du bist in Gefahr«, sagte sie mit einer monotonen Stimme, die nichts Menschliches mehr an sich hatte. Das junge Mädchen spürte die Kälte, die von der Erscheinung ausging, aber auch noch etwas anderes, etwas wie Traurigkeit. Sie wagte es, den Blick zu wenden und die Frau, die nun neben ihr stand, kurz anzusehen.
»Du musst dich nicht vor mir fürchten«, fuhr sie fort. »Ich will dir nichts Böses.«
»Wer bist du?«, fragte das Mädchen scheu.
»Mein Name war Adelaide Humbert. Ich wurde in eine vornehme Familie hinein geboren und verlebte eine sorglose Kindheit. Dann freite Oliver Hanley um mich. Er war stattlich und charmant. Ich verliebte mich und erkannte zu spät, was für ein verderbter, haltloser Charakter sich hinter der glatten Fassade verbarg. Er nahm mir alles, Glück, Freude und zuletzt das Leben. Aber ich war nicht die Einzige. Viele Humberts brachte eine Ehe mit einem Hanley in ein frühes Grab. Sie sind raffgierige Mörder!«
Heather hatte ihr mit wachsendem Entsetzen zugehört, nun wollte sie bestürzt wissen: »Aber was wollen sie von mir? Ich besitze ja so gut wie nichts.«
Lady Adelaide wandte den Kopf, ihre unheimlich leuchtenden Augen richteten sich auf das junge Mädchen, das ängstlich den Kopf neigte. »Du besitzt mehr, als du weißt. Dein Essen ist vergiftet. Du darfst nichts zu dir nehmen und musste versuchen, dieses Haus zu verlassen, bevor es zu spät ist.«
»Vergiftet?« Heather konnte es nicht fassen. Als sie den Blick wieder hob, war Lady Adelaide verschwunden. Es dauerte eine Weile, bis sie das unheimliche Erlebnis ganz begriffen hatte. Und bis ihr das Ausmaß der Gefahr bewusst wurde, in der sie sich befand: Prudence und Reginald hatten es offenbar auf ein Vermögen abgesehen, von dem sie nichts wusste. Sie wollten sie vor ihrer Großjährigkeit beseitigen, um das Geld behalten zu können. Heather wurde übel vor Angst. Was sollte sie nur tun?
Sie war überzeugt, dass die Hanleys alle im Haus gegen sie eingenommen hatten. Vermutlich hatten sie gemeine Lügen erzählt, denn anders war Pollys Reaktion nicht zu erklären.
Heather überlegte fieberhaft, wem sie in Hanley-Hall noch vertrauen konnte, und da kam ihr nur eine Person in den Sinn …
Als Polly eine Weile später das Tablett abholte, wunderte