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Hamburgische Dramaturgie. Gotthold Ephraim LessingЧитать онлайн книгу.

Hamburgische Dramaturgie - Gotthold Ephraim Lessing


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vollkommensten jungen Menschen erklaeren, ihn auch dafuer zu erkennen bereit sein sollten: so fangen wir vielmehr an, in die Einsicht aller dieser Personen ein Misstrauen zu setzen, wenn wir nie mit unsern eigenen Augen etwas sehen, was ihre guenstige Meinung rechtfertiget. Es ist wahr, in vierundzwanzig Stunden kann eine Privatperson nicht viel grosse Handlungen verrichten. Aber wer verlangt denn grosse? Auch in den kleinsten kann sich der Charakter schildern; und nur die, welche das meiste Licht auf ihn werfen, sind, nach der poetischen Schaetzung, die groessten. Wie traf es sich denn indes, dass vierundzwanzig Stunden Zeit genug waren, dem Siegmund zu den zwei aeussersten Narrheiten Gelegenheit zu schaffen, die einem Menschen in seinen Umstaenden nur immer einfallen koennen? Die Gelegenheiten sind auch darnach; koennte der Verfasser antworten: doch das wird er wohl nicht. Sie moechten aber noch so natuerlich herbeigefuehret, noch so fein behandelt sein: so wuerden darum die Narrheiten selbst, die wir ihn zu begehen im Begriffe sehen, ihre ueble Wirkung auf unsere Idee von dem jungen stuermischen Scheinweisen nicht verlieren. Dass er schlecht handele, sehen wir: dass er gut handeln koenne, hoeren wir nur, und nicht einmal in Beispielen, sondern in den allgemeinsten schwankendsten Ausdruecken.

      Die Haerte, mit der Julien von ihrem Vater begegnet wird, da sie einen andern von ihm zum Gemahle nehmen soll, als den ihr Herz gewaehlet hatte, wird beim Rousseau nur kaum beruehrt. Herr Heufeld hatte den Mut, uns eine ganze Szene davon zu zeigen. Ich liebe es, wenn ein junger Dichter etwas wagt. Er laesst den Vater die Tochter zu Boden stossen. Ich war um die Ausfuehrung dieser Aktion besorgt. Aber vergebens; unsere Schauspieler hatten sie so wohl konzertieret; es ward, von seiten des Vaters und der Tochter, so viel Anstand dabei beobachtet, und dieser Anstand tat der Wahrheit so wenig Abbruch, dass ich mir gestehen musste, diesen Akteurs koenne man so etwas anvertrauen, oder keinen. Herr Heufeld verlangt, dass, wenn Julie von ihrer Mutter aufgehoben wird, sich in ihrem Gesichte Blut zeigen soll. Es kann ihm lieb sein, dass dieses unterlassen worden. Die Pantomime muss nie bis zu dem Ekelhaften getrieben werden. Gut, wenn in solchen Faellen die erhitzte Einbildungskraft Blut zu sehen glaubt; aber das Auge muss es nicht wirklich sehen.

      Die darauf folgende Szene ist die hervorragendste des ganzen Stueckes. Sie gehoert dem Rousseau. Ich weiss selbst nicht, welcher Unwille sich in die Empfindung des Pathetischen mischet, wenn wir einen Vater seine Tochter fussfaellig um etwas bitten sehen. Es beleidiget, es kraenket uns, denjenigen so erniedriget zu erblicken, dem die Natur so heilige Rechte uebertragen hat. Dem Rousseau muss man diesen ausserordentlichen Hebel verzeihen; die Masse ist zu gross, die er in Bewegung setzen soll. Da keine Gruende bei Julien anschlagen wollen; da ihr Herz in der Verfassung ist, dass es sich durch die aeusserste Strenge in seinem Entschlusse nur noch mehr befestigen wuerde: so konnte sie nur durch die ploetzliche Ueberraschung der unerwartetsten Begegnung erschuettert, und in einer Art von Betaeubung umgelenket werden. Die Geliebte sollte sich in die Tochter, verfuehrerische Zaertlichkeit in blinden Gehorsam verwandeln; da Rousseau kein Mittel sahe, der Natur diese Veraenderung abzugewinnen, so musste er sich entschliessen, ihr sie abzunoetigen, oder, wenn man will, abzustehlen. Auf keine andere Weise konnten wir es Julien in der Folge vergeben, dass sie den inbruenstigsten Liebhaber dem kaeltesten Ehemanne aufgeopfert habe. Aber da diese Aufopferung in der Komoedie nicht erfolget; da es nicht die Tochter, sondern der Vater ist, der endlich nachgibt: haette Herr Heufeld die Wendung nicht ein wenig lindern sollen, durch die Rousseau bloss das Befremdliche jener Aufopferung rechtfertigen und das Ungewoehnliche derselben vor dem Vorwurfe des Unnatuerlichen in Sicherheit setzen wollte?—Doch Kritik, und kein Ende! Wenn Herr Heufeld das getan haette, so wuerden wir um eine Szene gekommen sein, die, wenn sie schon nicht so recht in das Ganze passen will, doch sehr kraeftig ist; er wuerde uns ein hohes Licht in seiner Kopie vermalt haben, von dem man zwar nicht eigentlich weiss, wo es herkoemmt, das aber eine treffliche Wirkung tut. Die Art, mit der Herr Ekhof diese Szene ausfuehrte, die Aktion, mit der er einen Teil der grauen Haare vors Auge brachte, bei welchen er die Tochter beschwor, waeren es allein wert gewesen, eine kleine Unschicklichkeit zu begehen, die vielleicht niemanden, als dem kalten Kunstrichter, bei Zergliederung des Planes, merklich wird.

      Das Nachspiel dieses Abends war "Der Schatz", die Nachahmung des Plautinschen "Trinummus", in welcher der Verfasser alle die komischen Szenen seines Originals in einen Aufzug zu konzentrieren gesucht hat. Er ward sehr wohl gespielt. Die Akteurs alle wussten ihre Rollen mit der Fertigkeit, die zu dem Niedrigkomischen so notwendig erfodert wird. Wenn ein halbschieriger Einfall, eine Unbesonnenheit, ein Wortspiel langsam und stotternd vorgebracht wird; wenn sich die Personen auf Armseligkeiten, die weiter nichts als den Mund in Falten setzen sollen, noch erst viel besinnen: so ist die Langeweile unvermeidlich. Possen muessen Schlag auf Schlag gesagt werden, und der Zuhoerer muss keinen Augenblick Zeit haben, zu untersuchen, wie witzig oder unwitzig sie sind. Es sind keine Frauenzimmer in diesem Stuecke; das einzige, welches noch anzubringen gewesen waere, wuerde eine frostige Liebhaberin sein; und freilich lieber keines, als so eines. Sonst moechte ich es niemanden raten, sich dieser Besondernheit zu befleissigen. Wir sind zu sehr an die Untermengung beider Geschlechter gewoehnet, als dass wir bei gaenzlicher Vermissung des reizendern nicht etwas Leeres empfinden sollten.

      Unter den Italienern hat ehedem Cecchi, und neuerlich unter den Franzosen Destouches, das naemliche Lustspiel des Plautus wieder auf die Buehne gebracht. Sie haben beide grosse Stuecke von fuenf Aufzuegen daraus gemacht und sind daher genoetiget gewesen, den Plan des Roemers mit eignen Erfindungen zu erweitern. Das vom Cecchi heisst "Die Mitgift" und wird vom Riccoboni, in seiner Geschichte des italienischen Theaters, als eines von den besten alten Lustspielen desselben empfohlen. Das vom Destouches fuehrt den Titel "Der verborgne Schatz", und ward ein einziges Mal, im Jahre 1745, auf der italienischen Buehne zu Paris, und auch dieses einzige Mal nicht ganz bis zu Ende, aufgefuehret. Es fand keinen Beifall, und ist erst nach dem Tode des Verfassers, und also verschiedene Jahre spaeter, als der deutsche Schatz, im Drucke erschienen. Plautus selbst ist nicht der erste Erfinder dieses so gluecklichen, und von mehrern mit so vieler Nacheifrung bearbeiteten Stoffes gewesen; sondern Philemon, bei dem es eben die simple Aufschrift hatte, zu der es im Deutschen wieder zurueckgefuehret worden. Plautus hatte seine ganz eigne Manier, in Benennung seiner Stuecke; und meistenteils nahm er sie von dem aller- unerheblichsten Umstande her. Dieses z.E. nennte er "Trinummus", den Dreiling; weil der Sykophant einen Dreiling fuer seine Muehe bekam.

      Zehntes Stueck

       Den 2. Juni 1767

      Das Stueck des fuenften Abends (dienstags, den 28. April) war "Das unvermutete Hindernis oder das Hindernis ohne Hindernis" vom Destouches.

      Wenn wir die Annales des franzoesischen Theaters nachschlagen, so finden wir, dass die lustigsten Stuecke dieses Verfassers gerade den allerwenigsten Beifall gehabt haben. Weder das gegenwaertige, noch "Der verborgne Schatz", noch "Das Gespenst mit der Trommel", noch "Der poetische Dorfjunker" haben sich darauf erhalten; und sind, selbst in ihrer Neuheit, nur wenigemal aufgefuehret worden. Es beruhet sehr viel auf dem Tone, in welchem sich ein Dichter ankuendiget, oder in welchem er seine besten Werke verfertiget. Man nimmt stillschweigend an, als ob er eine Verbindung dadurch eingehe, sich von diesem Tone niemals zu entfernen; und wenn er es tut, duenket man sich berechtiget, darueber zu stutzen. Man sucht den Verfasser in dem Verfasser und glaubt, etwas Schlechters zu finden, sobald man nicht das naemliche findet. Destouches hatte in seinem "Verheirateten Philosophen", in seinem "Ruhmredigen", in seinem "Verschwender" Muster eines feinern, hoehern Komischen gegeben, als man vom Moliere, selbst in seinen ernsthaftesten Stuecken, gewohnt war. Sogleich machten die Kunstrichter, die so gern klassifizieren, dieses zu seiner eigentuemlichen Sphaere; was bei dem Poeten vielleicht nichts als zufaellige Wahl war, erklaerten sie fuer vorzueglichen Hang und herrschende Faehigkeit; was er einmal, zweimal nicht gewollt hatte, schien er ihnen nicht zu koennen: und als er nunmehr wollte, was sieht Kunstrichtern aehnlicher, als dass sie ihm lieber nicht Gerechtigkeit widerfahren liessen, ehe sie ihr voreiliges Urteil aenderten? Ich will damit nicht sagen, dass das Niedrigkomische des Destouches mit dem Molierischen von einerlei Guete sei. Es ist wirklich um vieles steifer; der witzige Kopf ist mehr darin zu spueren, als der getreue Maler; seine Narren sind selten von den behaglichen Narren, wie sie aus den Haenden der Natur kommen, sondern mehrenteils von der hoelzernen Gattung, wie sie die Kunst schnitzelt und mit Affektation, mit verfehlter Lebensart, mit Pedanterie ueberladet; sein Schulwitz, sein Masuren sind daher frostiger als laecherlich. Aber demohngeachtet,—und nur dieses wollte ich sagen,—sind seine lustigen Stuecke am wahren Komischen so geringhaltig noch nicht, als sie ein verzaertelter Geschmack findet;


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