Der Schimmelreiter und andere Novellen (103 Titel in einem Band). Theodor StormЧитать онлайн книгу.
nicht, daß das der Tod sei. – –
Er war aufgestanden, er wollte gehen. »Du wirst zu kalt«, sagte er. Aber sie drückte seine Hand an ihre Wange, sie legte ihre Stirn an seine. »Ich bin heiß! fühl nur, brennend heiß!« sagte sie. Sie schlug ihre Arme um seinen Nacken, sie ließ sich wie ein Kind an seinem Halse hängen, und sah ihn stumm und selbstvergessen an.
Acht Tage nach dieser kalten Nacht vermochte sie das Bett nicht zu verlassen; zwei Monate später war sie gestorben. Er hatte sie nicht wiedergesehen; aber seit ihrem Tode ist seine Begierde erloschen; er trägt jetzt schon jahrelang ihr frisches Bild mit sich herum und ist gezwungen, eine Tote zu lieben.
Ein grünes Blatt
Es war ein altes Buch, eine Art Album; aber lang und schmal wie ein Gebetbuch, mit groben gelben Blättern. Er hatte es während seiner Schülerzeit in einer kleinen Stadt vom Buchbinder anfertigen lassen, und später überall mit sich umhergeschleppt. Verse und Lebensannalen wechselten miteinander, wie sie durch äußere oder innere Veranlassung entstanden waren. In den letzteren pflegte er sich selbst als dritte Person aufzuführen; vielleicht um bei gewissenhafter Schilderung das Ich nicht zu verletzen; vielleicht – so schien es mir – weil er das Bedürfnis hatte, durch seine Phantasie die Lücken des Erlebnisses auszufüllen. Es waren meistens unbedeutende Geschichtchen oder eigentlich gar keine; ein Gang durch die Mondnacht, eine Mittagsstunde in dem Garten seiner Eltern waren oftmals der ganze Inhalt; in den Versen mußte man über manche Härte und über manchen falschen Reim hinweg. Dennoch, weil ich ihn liebte und da er es mir erlaubt hatte, las ich gern in diesen Blättern.
Auch hieher ins Feldlager hatte er das Buch im Ranzen mitgeführt; im nächtlichen Gefechte hatte es ihn begleitet, es hatte den Krieg mitgemacht; die letzten Seiten waren mit Zeichnungen von Schanzen und Fortifikationen angefüllt.
Unsere Kompagnie war auf Vorposten gewesen; jetzt lagen wir wieder in unserer Hütte. Sie war dicht und trocken; der draußen fallende Regen drang nicht herein.
Er hatte sein Putzzeug hervorgenommen und säuberte den Rost von unseren Büchsen; ich saß auf meinem Ranzen und studierte seine sämtlichen Werke, jenes seltsam geformte Tagebuch, das zugleich unsere ganze Feldbibliothek ausmachte. Und wie ich, so oft ich auch darin geblättert, doch jedesmal etwas gefunden, was ich zuvor übersehen hatte, so wurden jetzt zum erstenmal meine Augen durch ein eingelegtes Buchenblatt gefesselt. Daneben stand geschrieben:
Ein Blatt aus sommerlichen Tagen,
Ich nahm es so beim Wandern mit,
Auf daß es einst mir könne sagen,
Wie laut die Nachtigall geschlagen,
Wie grün der Wald, den ich durchschritt.
»Das Blatt ist braun geworden«, sagte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Lies nur die andere Seite.«
Ich wandte um und las:
Es mochte ein Student sein; vielleicht ein junger Doktor, der auf dem schmalen Fußsteige über die Heide ging. Die Kugelbüchse, welche er am ledernen Riemen über der Schulter trug, schien ihm schwer zu werden; denn jezuweilen im Weiterschreiten nahm er sie in die Hand oder hängte sie von einer Schulter auf die andere. Seine Mütze hatte er abgenommen; die Nachmittags sonne glühte in seinen Haaren. Um ihn her war alles Getier lebendig, was auf der Heide die Junischwüle auszubrüten pflegt; das rannte zu seinen Füßen und arbeitete sich durchs Gestäude, das blendete und schwärmte ihm vor den Augen und begleitete ihn auf Schritt und Tritt. Die Heide blühte, die Luft war durchwürzt von Wohlgerüchen.
Nun stand der Wanderer still und blickte über die Steppe, wie sie sich endlos nach allen Richtungen hinauszog; starr, einförmig, mit rotem Schimmer ganz bedeckt. Nur vor sich in nicht gar weiter Ferne sah er einen Waldzug, an dessen Ende ein Faden weißen Rauches in die klare Luft hinaufstieg. Das war alles.
In seiner Nähe, zur Seite des Steiges, lag ein niedriger Hügel, voll Brombeerranken und wilder Rosenbüsche, ein Grabmal unbekannten Volkes, wie hier viele sind. Er stieg hinauf und übersah auch von diesem höheren Standpunkte noch einmal die unermeßliche Fläche; aber er gewahrte nichts, als nur am Saume des Waldes eine einsame Kate, aus deren Dach der Rauch emporquoll, den er zuvor gesehen hatte. Er riß einen Büschel Heide aus dem harten Boden und senkte sein Auge in den feinen Stern der Blüte; dann nahm er seine Büchse herunter und streckte sich in die warmen Kräuter, den Kopf in die Hand gestützt, die Blicke vor sich hinsendend, bis seine Gedanken in der heißen zitternden Luft zergingen.
Und wie nun so auch der Hall des eigenen Schrittes, der bisher mit ihm gewandelt, aufgehört hatte, und er nichts vernahm, als die Heide entlang das Zirpen der Heuschrecken und das Summen der Bienen, welche an den Kelchen hingen, mitunter in unsichtbarer Höhe über sich den Gesang der Heidelerche, da überkam ihn unbezwingliche Sommermüdigkeit. Die Schmetterlinge, die blauen Argusfalter, gaukelten auf und ab, dazwischen schossen rosenrote Streifen vom Himmel zu ihm hernieder; der Duft der Eriken legte sich wie eine zarte Wolke über seine Augen.
Der Sommerwind kam über die Heide und weckte eine Kreuzotter, die sich nicht weit davon im Staube sonnte. Sie löste ihre Spirale und glitt über den harten Boden; das Kraut rauschte, als sie den schuppigen Leib hindurchzog. Der Schlafende wandte den Kopf, und halb erwachend sah er in das kleine Auge der Schlange, die neben seinem Kopfe hinkroch. Er wollte die Hand erheben, aber er vermochte es nicht; das Auge des Gewürmes ließ nicht von ihm. So lag er zwischen Traum und Wachen. Nur wie durch einen Schleier sah er endlich die Gestalt eines Mädchens auf sich zukommen, kindlich fast, doch kräftigen Baues, das Haar in dicken blonden Zöpfen. Sie bog die Ranken zur Seite und setzte sich neben ihm auf den Boden. Das Auge der Schlange ließ ihn los und verschwand; er sah nichts mehr. Dann kam der Traum. Da war er wieder der Hans im Märchen, wie er es oft als Knabe gewesen war, und lag im Grase vor der Schlangenhöhle, um die verzauberte Prinzessin zu erlösen. Die Schlange kam heraus und rief:
Aschegraue Wängelein,
Weh dem armen Schlängelein!.
Da küßte er die Schlange, und da war’s geschehen. Die schöne Prinzessin hielt ihn in ihren Armen, und – wunderlich war es – sie trug ihr Haar in zwei aschblonden Zöpfen und ein Mieder wie eine Bauerndirne.
Das Mädchen hatte ihre Hände um die Knie gefaltet und sah unbeweglich über die Heide hinaus. Nur das heimliche Rauschen und Wimmeln in der unendlichen Pflanzendecke, hie und da ein Vogelruf aus der Luft oder unten vom Moor herauf, dazwischen das Atmen des Schlafenden, sonst kein Laut. So verging eine Spanne Zeit. Endlich neigte sie sich über ihn; die langen Flechten fielen auf seine Wangen. Er schlug die Augen auf; und wie er so das junge Antlitz über dem seinen schweben sah, da sagte er noch halb im Traume: »Prinzessin, was hast du für blaue Augen!«
»Ganz blaue!« sagte sie, »die sind von meiner Mutter!«
»Von deiner Mutter? – Hast du denn eine Mutter!«
»Du bist nicht klug!« sagte das Mädchen, indem sie aufsprang. »Sie hat vor vier Wochen den Vogt geheiratet. Seitdem bin ich beim Großvater.«
Nun wurde er völlig wach. »Ich bin irregegangen«, sagte er, »in der eigenen Heimat. Du mußt mir auf den Weg helfen, du – wie heißt du denn?«
»Regine!« sagte sie.
»Regine … und ich heiße Gabriel!«
Sie sah ihn groß an.
»Nein, nicht der Engel Gabriel!«
»Lache nur nicht!« sagte sie, »den kenne ich besser als dich!«
»Der Tausend! So bist du wohl des Schulmeisters Enkelkind?«
Sie sagte: »Mein Vater war Schulmeister, er ist im vorigen Frühjahr gestorben.«
Beide schwiegen einen Augenblick; dann stand Gabriel auf und bedeutete ihr, wie er noch bis zum nächsten Morgen jenseit der