Der Herr der Welt. Robert Hugh BensonЧитать онлайн книгу.
geistigen Brüderlichkeit wirksam entgegenzuarbeiten. Der heilige Paulus hatte, so erklärte er, recht, wenn er die Scheidewände zwischen den Nationen niederriss, unrecht aber in seiner Verhimmelung Jesu Christi. Dieser Gedanke bildete die Einleitung zu seinen Ausführungen über die Vorlage zum Armengesetz, und nach einem Hinweis auf die wahre, aller religiösen Motive entkleidete, unter den Freimaurern existierende Nächstenliebe, erinnerte er an deren bekannte philanthropische Werke auf dem Kontinent; und durch die Begeisterung über den Erfolg des Gesetzes hatte die Loge einen bedeutenden Aufschwung an Mitgliedern genommen.
Die alte Mrs. Brand war heute in ihrem besten Staate und blickte mit ziemlicher Erregung auf die dicht gedrängte, unabsehbare Menge, die sich eingefunden hatte, um der Rede ihres Sohnes zu lauschen. Rund um die Bronzestatue des Staatsmannes war eine Tribüne errichtet, in einer Höhe, dass dieser, wenn auch um ein weniges über seine Umgebung hervorragend, mitten unter den Rednern zu stehen schien; auf dieser Tribüne, die mit Rosen geschmückt und von einem Schalldache überragt war, befanden sich ein Stuhl und ein Tisch.
Soweit man den Platz übersehen konnte, stand Kopf an Kopf, und das Gesumme von Tausenden von Stimmen wurde ab und zu übertönt von dem Geschmetter der Trompeten und dem dumpfen Wirbel der Trommeln, wenn die Wohltätigkeitsvereine und demokratischen Gilden mit ihren Bannern von Nord, Süd, Ost und West her aufmarschierten und den großen, eingefassten Raum einnahmen, der ihnen vorbehalten war. Auch die Fenster alle waren dicht besetzt; kolossale Gerüste zogen sich längs der Front der Nationalgalerie und St. Martinskirche hin gleich vielfarbigen Gartenbeeten hinter den stummen, weißen Bildsäulen, welche rings den Platz umstanden, von Braithwaite angefangen, vorbei an den Größen aus der Zeit Victorias — John Davidson, John Burns und den übrigen — bis zu Hampden und de Montford auf der Nordseite. Die alte Säule mit ihren Löwen war entfernt worden. Nelson war mit der Entente Cordiale1 nicht mehr in Einklang zu bringen, und auch die Löwen hatten vor der neuen Kunst keine Gnade gefunden; an ihrer Stelle war nun ein freier Platz zu sehen mit terrassenförmigen Steinstufen, die zur Nationalgalerie hinanführten, über den Dächern hoben sich enggedrängte Friese von Köpfen gegen den blauen Sommerhimmel ab. Nicht weniger als hunderttausend Personen waren um Mittag innerhalb der Seh- und Hörweite der Plattform zusammengedrängt.
Als die Uhren die Stunde verkündeten, kamen hinter der Statue zwei Gestalten hervor, traten in den Vordergrund, und wie auf einen Schlag wuchs das Murmeln zu einem Beifallssturm an.
Zuerst erschien der alte Lord Pemberton, eine grauhaarige, aufrechte Erscheinung, dessen Vater mitgeholfen hatte, das Herrenhaus, dessen Mitglied er war, anlässlich seines Falles vor mehr als siebzig Jahren, in Anklagezustand zu versetzen und in seinem Sohn war ihm ein würdiger Nachfolger erwachsen. Dieser Mann war nun Mitglied der Regierung und Vertreter von Manchester, und er war es, der bei dieser vielversprechenden Gelegenheit den Vorsitz zu führen berufen worden war. Nach ihm kam Oliver, unbedeckten Hauptes, tadellos in seinem Äußeren, und selbst auf diese Entfernung hin konnten seine Mutter und Mabel seine energischen Bewegungen, sein frohes Lächeln und beifälliges Nicken erkennen, als sein Name aus dem stürmischen Lärm, der sich rund um die Plattform erhoben hatte, ertönte. Lord Pemberton trat vor, erhob die Hand und machte ein Zeichen, und in einem Augenblicke erstarken die Hochrufe unter dem plötzlich einsetzenden Rollen der Trommeln und der sich daranschließenden Intonierung der Freimaurerhymne.
Zu singen verstanden diese Londoner, daran war nicht zu zweifeln. Es schien, als ob eine gigantische Stimme die klangvolle Melodie summte und sich zum Enthusiasmus emporschwang, bis die Töne der vereinten Musikchöre ihr folgten, gleich einem Banner, das sich an die Fahnenstange anschmiegt. Es war eine vor etwa zehn Jahren verfasste Hymne, und schon war ganz England vertraut mit ihr. Die alte Mrs. Brand warf mechanisch einen Blick auf das Programm und sah die ihr so wohlbekannten Worte: »Der Herr, der wohnt in Land und Meer …« Sie durchlas die Verse, welche, vom humanitären Standpunkte aus betrachtet, mit Geschick und Eifer abgefasst waren. Sie hatten ein religiöses Gepräge; der ungebildete Christ konnte sie singen, ohne darüber Skrupeln zu bekommen, und doch war ihr Sinn klar genug, — der alte menschliche Glaube, dass der Mensch das All sei. Selbst Christi eigene Worte waren darin angewandt worden; das Königreich Gottes, hieß es, liege im Herzen des Menschen, und die größte aller Gnaden sei die Nächstenliebe.
Sie blickte auf ihre Schwiegertochter und sah, dass diese aus ganzem Herzen mitsang, während ihre Augen, aus denen ihre ganze Seele sprach, auf die etwa hundert Meter entfernte dunkle Gestalt ihres Gatten geheftet waren. Und so begann denn auch die Mutter, im Chor mit den singenden Tausenden die Lippen zu bewegen.
Als die Hymne verklungen war, und ehe der Beifall sich wieder erheben konnte, stand der greise Lord Pemberton an dem vorderen Rand der Plattform, und seine dünne, metallische Stimme übertönte mit einigen kurzen Worten das Plätschern der Springbrunnen hinter ihm. Dann trat er zurück, und Oliver trat an seine Stelle. —
Sie waren zu weit entfernt, die beiden, um zu unterscheiden, was er sprach, aber Mabel drückte mit einem nervösen Lächeln der alten Dame ein Stückchen Papier in die Hand und beugte sich dann lauschend nach vorn.
Die greise Mrs. Brand warf auch einen Blick darauf; sie wusste, es war ein Auszug aus der Rede ihres Sohnes, dessen Worte zu verstehen sie nicht imstande war.
Er begann, indem er als Einleitung alle Anwesenden beglückwünschte, die sich hier eingefunden hatten, um den großen Mann zu ehren, der von seiner Plattform aus selbst bei dieser großen Jubiläumsfeier den Vorsitz führte. Dann kam ein Rückblick, in dem er die ehemaligen Zustände Englands mit den heutigen verglich. Noch vor fünfzig Jahren, sagte der Redner, galt Armut als eine Schande, das sei nun vorüber. Nur in den Ursachen, die zur Armut führten, konnte man entweder Schande oder Verdienst erblicken. Wer würde nicht einen Mann ehren, der sich im Dienste seines Landes aufgerieben, oder der schließlich Umständen unterlag, gegen die er bis an sein Ende, wenn auch vergebens, gerungen hatte? … Er zählte die Reformen auf, die genau an diesem Tage vor fünfzig Jahren zur Annahme gelangt waren, und durch welche die Nation ein für alle Mal die Hoheit der Armut und das Mitgefühl der Menschheit mit den Unglücklichen aussprach.
Und so, sagte er, sei es heute seine Aufgabe, zum Preise der duldenden Armut und deren Belohnung zu sprechen, und dies, meinte er, zusammen mit einer kurzen