Der Herr der Welt. Robert Hugh BensonЧитать онлайн книгу.
eine geringe Pension, wenigstens alle diejenigen, die arbeitsunfähig waren. Und doch, ich weiß nicht, ich glaube, es musste so kommen. Sie waren ja nur wenig mehr als pittoreske Überbleibsel, die nicht einmal die Gnade religiöser Überzeugung hatten.«
Percy seufzte wieder und blickte in das Gesicht des alten Mannes, der, froh gelaunt, Erinnerungen alter Zeiten auffrischte. Plötzlich, das Thema wechselnd, fragte er: »Wie denken Sie hinsichtlich des europäischen Parlaments?«
Der alte Herr begann von Neuem.
»O! … ich denke, das wird auch noch kommen, wenn der richtige Mann gefunden werden kann, der es durchsetzt. Das ganze abgelaufene Jahrhundert drängte, wie Sie sehen, darauf hin. Und der Patriotismus ist schnell ausgestorben; aber er musste verschwinden, wie die Sklaverei und anderes unter dem Einfluss der katholischen Kirche verschwunden sind. Nun ist es geschehen ohne die Kirche und die Folge davon ist, dass die Welt im Begriffe steht, sich gegen uns zu wenden, es ist ein organisierter Antagonismus, — eine Art katholischer, allgemeiner Antikirche. Die Demokratie hat besorgt, was die göttliche Monarchie getan haben sollte. Wenn das Projekt verwirklicht wird, glaube ich, mag uns noch einmal so etwas wie eine Verfolgung bevorstehen … Aber ich wiederhole, vielleicht rettet uns die Erhebung des Fernen Ostens, wenn sie zustande kommt … Ich weiß nicht …«
Einen Augenblick noch blieb Percy ruhig sitzen, dann stand er plötzlich auf.
»Ich muss gehen, Mr. Templeton«, sagte er, sich nun der Weltsprache Esperanto bedienend, »es ist bereits nach neunzehn Uhr. Meinen besten Dank. Kommen Sie mit, Father?«
Dieser in seinem dunkelgrauen Gewand, das den Priestern zu tragen gestattet war, erhob sich ebenfalls und nahm seinen Hut.
»Also, Father«, begann der alte Herr nochmals, »kommen Sie wieder einmal, wenn ich Ihnen heute nicht etwa zu schwatzhaft gewesen bin. Vermute ich recht, Sie haben noch Ihren Brief zu schreiben?«
Percy nickte. »Die Hälfte besorgte ich schon heute Morgen«, sagte er, »aber ich fühlte, es fehlte mir noch ein weiterer Überblick, wie er zum völligen Verständnis unbedingt notwendig ist, und ich danke Ihnen herzlich, dass Sie ihn mir gegeben haben. Es ist wirklich eine große Arbeit, dieser tägliche Bericht an den Kardinal-Protektor, und ich denke schon daran, zu resignieren, wenn man es mir gestattet.«
»Mein lieber Herr, tun Sie das nicht. Wenn ich mir erlauben darf, es Ihnen ins Gesicht zu sagen, ich glaube, Sie besitzen sehr scharfen Verstand; und ehe Rom nicht allseitig unterrichtet ist, kann es nichts tun. Ich bezweifle, ob Ihre Kollegen hierin so genau wären, wie Sie.«
Percy lächelte, durch Heben seiner dunklen Augenbrauen abwehrend.
»Kommen Sie, gehen wir«, sagte er.
Die beiden Priester trennten sich an der Schwelle des Korridors, und Percy stand eine oder zwei Minuten, in die wohlbekannte Herbstlandschaft hinausblickend und sich bemühend, sie ganz zu erfassen. Was er dort unten gehört hatte, schien ihm so eigentümlich diese Vision glänzenden Gedeihens, die da vor ihm lag, zu beleuchten.
Es schien heller Tag zu sein. Künstliches Sonnenlicht hatte alles überwunden, und London kannte jetzt keinen Unterschied mehr zwischen Dunkelheit und Licht. Er befand sich in einer Art emaillierter Arkade, grob gepflastert mit einer Kautschukmasse, die den Fußtritt lautlos machte. Unter ihm, am Fuße der Treppe, strömte eine endlose Doppellinie von Leuten, durch ein Geländer getrennt, nach rechts und links hin, geräuschlos, abgesehen von dem Gemurmel der Esperantoworte, die sie während des Gehens austauschten. Durch die klaren, massiven Scheiben des öffentlichen Gangsteiges sah man auf eine breite, glatte Straße von dunklem Aussehen, nach den Seiten hin ansteigend und in der Mitte gefurcht, die bezeichnenderweise leer war. Und als er so dort stand, tönte ein Geräusch fernher von Alt-Westminster, gleich dem Summen eines Riesenbienenstockes und mit dem Näherkommen stärker werdend. Im nächsten Augenblick sauste ein durchsichtiges, nach allen Seiten Licht ausstrahlendes Etwas vorüber, und dann nahm das Geräusch wieder ab, in Summen und schließlich Schweigen übergehend, — der große Staatsmotor vom Süden war vorbeigerast, um die Post nach dem östlichen London zu befördern. Dies war eine reservierte Straße, nur Staatsfahrzeuge durften sie benützen, und auch diesen war eine Schnelligkeit von nicht mehr als hundert englischen Meilen in der Stunde gestattet.
Alles andere Geräusch war in dieser kautschukgepflasterten Stadt unterdrückt; die Zirkulationswege für Fußgänger waren hundert Yards entfernt, und der Untergrundverkehr lag zu tief, um sich anders als durch ein schwaches Vibrieren fühlbar zu machen. Diese Vibration zu beseitigen und den Lärm der gewöhnlichen Fahrzeuge abzuschwächen, das war während der letzten zwanzig Jahre das Streben der staatlichen Sachverständigen gewesen.
Und ehe er weiterging, vernahm er wieder über sich einen lang gezogenen, auffallend wohlklingenden und durchdringenden Laut, und als er sein Auge von dem Schimmer des ruhig dahinfließenden Stromes, der allein allen Wandlungen standgehalten hatte, erhob, sah er hoch über sich in den schweren, lichten Wolken einen langen, schlanken Gegenstand von sanftem Licht umgeben gen Norden schweben und auf ausgespannten Schwingen entschwinden. Dieser wohltönende Klang ging von einem der Luftschiffe der europäischen Linie aus, das seine Ankunft in der Hauptstadt Großbritanniens anzeigte.
»Bis unser Heiland wiederkehrt«, dachte er bei sich selbst, und das Elend überkam einen Moment sein Herz. Wie schwer war es doch, den Blick auf jenen fernen Horizont gerichtet zu halten, während diese Welt vor ihm lag, so bestrickend in ihrem Glanze und ihrer Kraft. O, noch vor einer Stunde hatte er sich mit Father Francis darüber unterhalten, dass ein Unterschied bestehe zwischen äußerer und innerer Größe, und dass ein imponierendes Äußeres nicht ein unbedeutendes Inneres ausschließe; und er war so fest überzeugt von diesem seinem Standpunkte, — und dennoch blieb ein Zweifel, bis er ihn endlich selbst zum Schweigen zwang, indem er in seinem Herzen zu dem armen Manne von Nazareth emporflehte, er möge sein Herz dem Herzen eines Kindes gleich bewahren.
Seine Züge nahmen den Ausdruck der Entschlossenheit an. Wie lange wohl Father Francis seinen Standpunkt würde aufrechterhalten können, dachte er bei sich und stieg die Treppe hinab. —
1 Stadtteil in der Innenstadt Londons <<<
2 Die englischen Katholiken legen den Weltgeistlichen den Titel: Father (Vater) bei.