Damals bei uns daheim. Hans FalladaЧитать онлайн книгу.
statt auf die Rehkeule zwischen die Petersilienkartoffeln geraten; und einmal entdeckten wir sogar in einer Omelette soufflée statt der Champignonfüllung einen veritablen Salzstreuer aus Glas – ein Sturmsignal dafür, welch fieberhafte Aufregung in der Küche herrschte!
Das schwere, ungewohnt kräftig gewürzte Essen versetzte uns Kinder bald in eine gehobene Stimmung. Wir lachten und lärmten so sehr, dass manchmal mahnend gegen unsere Tür geklopft werden musste. Dann war es nicht mehr weit, dass eine Raubexpedition in das Badezimmer erwogen wurde: so viel Essen macht Durst! Zwar war uns Alkohol von den Eltern streng verboten, aber in unserer Feststimmung waren wir geneigt, ein wenig lax über ein solches Veto zu denken. Und schon waren wir auf dem langen Gang, mit Horchposten sowohl gegen das Speisezimmer wie gegen die Küche. Alle Welt war unserm Labetrunk feindlich gesinnt! Wie oft mussten wir uns überstürzt wieder zurückziehen, wenn ein Lohndiener, geschirrbeladen, den endlosen, echt Berliner Gang entlangscheeste oder wenn grade in der stets offenen Küchentür Minna erschien mit dem Ruf: »Wollt ihr Rabanters woll machen, dass ihr in euer Zimmer kömmt! Gleich gibt es Eis, und wenn ihr nicht artig seid, essen wir es alleine!«
Aber dann das Glück, wenn wir mit einer Flasche Rheinwein oder gar Burgunder wieder in unserm Zimmer anlangten! Große Unterschiede machten wir zwar in den Sorten nicht, Wein war uns Wein, ein Getränk, das einen unbegreiflich lustig und unternehmend machte! Wir tranken ihn in kleinen Schlucken aus den Zahnputzgläsern der Schwestern und fühlten uns wie Seeräuber, die eine feine Prise gemacht haben.
In einer solchen echten Räuberstimmung unternahmen einmal mein Bruder Ede und ich eine kühne Expedition in die Speisekammer, deren Eingang direkt neben der Küchentür lag, so dass wir jeden Augenblick überrascht werden konnten.
Als wir aber erst darin waren, vergaßen wir jede Gefahr: von weißem Zuckerguss glänzend, standen vor uns die beiden großen Baumkuchen, die am Vormittag ein Konditorjunge gebracht und die seitdem mein und Edes Herz erregt hatten. Ich kannte als der Ältere sehr wohl meine Pflicht: ich streckte meine Hand aus, brach eine Zacke ab, und schon war sie in meinem Munde!
»Mir auch eine Nase! Ich will auch solche Nase!« verlangte Ede, und schon um einen Mitschuldigen zu haben, sagte ich: »Brich dir selber eine ab!«
Aber bald dachten wir nicht mehr an Schuld und Unschuld. Diese Nasen schmeckten zu verführerisch, wir brachen immer mehr ab. Hielten wir uns zuerst an einen Baumkuchen, und zwar an seinen unteren Rand, so trieb uns bald die Lust immer weiter. Damit wir einander nicht ins Gehege kämen, teilten wir die Kuchen unter uns auf: Ede brach links, ich rechts die Nasen. Ein unheilvoller Stern stand in dieser Nacht über meinem Elternhaus: kein Mensch kam in die Speisekammer und störte uns bei unserm frevlen Beginnen.
Wie wir es – nach einem überreichlichen Nachtessen – geschafft haben, ist mir noch heute unerklärlich. Jedenfalls standen in Kürze die beiden Baumkuchen völlig nasenlos vor uns.
Jetzt doch ein bisschen bedenklich, schauten wir einander an, selbst wir konnten nicht übersehen, dass dies Prachtgebäck erheblich an Schönheit eingebüßt hatte.
»Ich glaub, wir gehen gleich ins Bett«, meinte ich schließlich.
»Und das Erdbeereis?« gab Ede zu bedenken.
»Wenn sie das sehen«, sagte ich düster, »bekommen wir bestimmt kein Erdbeereis!«
»Vielleicht denken sie, Baumkuchen sind so?« schlug Ede vor.
Ich zuckte nur hoffnungslos die Achseln.
»Oder wir sagen einfach, der Konditorjunge hat’s gemacht!«
»Am besten gehen wir ins Bett«, wiederholte ich. »Ich stell mich schlafend.«
»Dann werde ich schnarchen«, entschied Ede. »Du bist der Ältere, zu dir kommen sie überhaupt zuerst.«
Wir lagen noch nicht lange in unsern Betten, als wir eine gesteigerte Unruhe auf dem Gang bemerkten. Dann hörten wir die aufgeregte Stimme meiner Mutter von der Küche her. Wir machten, dass wir unter die Decken krochen. Ede fing sofort an, in der lächerlichsten Weise zu schnarchen. Es war oft, meistens sehr schön, der Ältere von uns beiden Brüdern zu sein, doch hätte ich in dieser Stunde mein Erstgeburtsrecht für noch weniger als ein Linsengericht gerne hergegeben. Später hörte ich sogar Vaters Stimme aus dem Küchenbezirk. Man bedenke, unser Verbrechen war so riesengroß, dass beide Gastgeber von der Tafel weggerufen wurden! Ich konnte mir den Umfang der uns drohenden Strafe nicht einmal ausdenken!
Aber was dann eintrat, war schlimmer als jede Strafe: es trat nämlich gar nichts ein. Ich lag mit immer stärker klopfendem Herzen in meinem Bett und erwartete das Jüngste Gericht. Aber niemand kam. Ich wartete, ich flehte fast um Erlösung: niemand kam. Ede war längst richtig eingeschlafen, und immer noch lag ich wach, schlaflos über tausend Möglichkeiten grübelnd. Ich lag, wie man so sagt, die ganze Nacht wach, schließlich wäre mir die schlimmste Strafe lieber gewesen als dieses Warten. Als ich dann hörte, wie sich Frau Pikuweit von unserer Minna und Charlotte verabschiedete, drehte ich mich mit einem tiefen Seufzer zur Wand. Ich war böse mit meinen Eltern, dass sie das Schwert der Rache so lange über mir schweben ließen.
Und der nächste Morgen kam, die Eltern schliefen noch. Als Frühstück bekamen wir Jungens Baumkuchen, die Schwestern aber Butterbrote. Sie wollten protestieren, Charlotte, übermüdet, sehr unwirsch, sagte nur, der Herr Rat habe es angeordnet. Als wir in der Schule unsere Frühstücksbrote auspackten, fanden wir keine Brote, sondern Baumkuchen. Beim Mittagessen – Vater war auf dem Gericht – blieb Mutter recht kühl zu uns, sagte aber kein Wort von Baumkuchen. Dafür mussten wir ihn essen, nur Baumkuchen, während die andern sich an den herrlichsten Resten delektierten. Sie bekamen auch Eis!
Vesper, Abendessen: unser Speisezettel hieß unverändert Baumkuchen. Der nächste Tag: Baumkuchen! Die andern aßen zu Mittag Brühkartoffeln mit schöner grüner Petersilie und schierem Rindfleisch, wir hatten Baumkuchen! Es wurde uns immer schwerer, unsern Hunger mit Baumkuchen zu stillen. Wir fanden, Baumkuchen war ein überschätztes Gebäck. Bald entdeckten wir, dass wir Baumkuchen hassten! Expeditionen nach Speisekammer und Küche blieben erfolglos: die Speisekammer war verschlossen, und aus der Küche wurden wir prompt verjagt.
Ein dritter Tag zog herauf – Baumkuchen! Wurden diese elenden beiden Baumkuchen denn nie alle? Und immer starrten uns die Bruchstellen, an denen die Nasen gesessen hatten, anklagend an. Wir wagten nicht zu meutern, wir wagten nicht einmal zu bitten … Mit immer lahmeren Kinnbacken kauten wir an unserm Baumkuchen …
Und das allerschlimmste war dabei, dass nie jemand ein Wort über unsere etwas gleichförmige Speisenfolge verlor. Es schien das Selbstverständlichste, dass wir allein mit Baumkuchen ernährt wurden, von Urzeiten her, bis in alle Ewigkeiten! Wagten die Schwestern in ihrer albernen Gänsemanier wirklich einmal, über unsere Leidensmienen zu gniggern, so brachte sie ein strenger Blick meiner Eltern sofort wieder zur Ruhe. Selbst Minna und Charlotte, die sonst immer sofort bereit waren, uns zu bedauern, verloren nicht ein Wort über diese unsere Prüfung. Mein Vater sagte ihnen selten etwas, aber tat er es, so folgten sie ihm blindlings. Sie liebten ihn beide schwärmerisch wegen seiner Güte und Gerechtigkeitsliebe, die alte mürrische Minna ebensosehr wie die junge vergnügte Charlotte.
Ach Gott, was wären Ede und ich glücklich gewesen, wenn wir wie andere Jungens eine kräftige Tracht Prügel gekriegt hätten! Aber mein Vater war weder für Prügel noch für Schelten, alles Gewaltsame und Laute widerstrebte seiner Natur. Er strafte haargenau auf dem Gebiet, auf dem man gesündigt hatte. Die Gier nach Baumkuchen strafte er durch Übersättigung mit Baumkuchen. Auch der Dümmste begriff dies ohne ein Wort …
Und schließlich war der Baumkuchen dann alle. Den Mittag, ich weiß es noch, gab es westfälische dicke Bohnen, süßsauer, mit Räucherfleisch, ein Essen, dem ich bis dahin immer abgeneigt gewesen war. Ich aß davon wie ein Verhungerter. »Junge, du isst dich ja wohl zuschanden!« rief meine Mutter, als ich mir den Teller zum drittenmal füllen ließ.
Vater aber sagte nur: »Sieh da! Sieh da!« und lächelte mit all den vielen Fältchen um seine Augenwinkel. –
Was aber wollte eine solche knabenhafte Leckerhaftigkeit besagen gegen ein gradezu geheimnisvolles Verbrechen, das bei einem Festessen ein oder zwei Jahre später geschah –?! Lange, lange blieb der Täter trotz allen