Damals bei uns daheim. Hans FalladaЧитать онлайн книгу.
– und da lachten sogar meine Eltern mit!
Bei jenem Diner freilich waren sie vollkommen fassungslos und bekümmert, so etwas konnte auch nur in unserm Hause passieren! Mutter war immer besonders stolz auf unsern von einem Tafeldecker gerüsteten Festtisch. Zwar, Gläser und Bestecke mussten wir wie alle andern aus einem Verleihgeschäft entnehmen, das Service aber nicht, denn wir besaßen das weithin in der ganzen Bekanntschaft berühmte Wedgwoodservice für hundert Personen! Es war ein wahrhaft gargantuasisches Geschirr mit Bratenschüsseln, auf die man ganze Kälber legen konnte, mit Saucentöpfen, die zu Suppenschüsseln für mittlere Familien gereicht hätten, und einer verwirrenden Fülle von Tellern und Tassen aller Formate.
Dieses wahrhaft fürstliche Tafelgeschirr war wie vom Himmel gefallen in unserer gar nicht prunkhaften Familie gelandet. Als nämlich vor vielen, vielen Jahren ein Großonkel von mir durch die Stadt Aurich wandelte zu seinen Geschäftsräumen, die er als Justitiarius für das Publikum hielt, bemerkte er vor einer Haustür eine kleine Ansammlung von Menschen. Immer wissbegierig, was in seiner Heimatstadt vorging, trat er näher und erfuhr, dass hier der Nachlass eines Seekapitäns versteigert wurde. Schon wollte er weitergehen, da trat der ihm wohlbekannte Auktionator Kötz vor die Tür, hielt meinem Onkel einen bläulichen Krug unter die Nase, über dessen Fond griechelnde weiße Gestalten feierlich wandelten, und sprach: »Das wäre was für Sie, Herr Justitiar!«
Mein Onkel sah kurzsichtig auf den Krug, seinem Auge tat das sanfte Blau wohl, er sagte: »Drei Taler, Kötz! Schaffen Sie ihn nur in meine Wohnung!« und ging an seine Dienstgeschäfte.
Wie aber ward ihm, als dem Heimkehrenden mittags sein Weib in einem Zustande völliger Auflösung entgegentrat! Die ganze Wohnung war von dem erstandenen Service überschwemmt! Es gab keine Stelle, wo es nicht sanftblau zuging, wo nicht weiße Gestalten in strengem Faltenwurf wandelten. Mein Onkel hatte gemeint, einen Krug erstanden zu haben, er hatte eine Töpferei gekauft. Eine Ausgabe zieht die andere nach sich: ein ungeheurer Eichenschrank musste angefertigt werden, um diese Geschirrflut zu bändigen. Bis er fertig war, führten Onkel und Tante nur ein bedrängtes Leben in ihrem Heim.
Nach dem Tode des Onkels kam dieses Geschirr auf dem Wege der Erbschaft in unsere Familie mitsamt dem riesigen Eichenschrank, der nach meines Vaters Ausspruch jeden Gedanken an Umziehen unmöglich machte. Er sei eine weitläufige Burg, kein Schrank. Selbst Berliner Möbelleute seien ihm nicht gewachsen …
Es war übrigens die einzige Erbschaft, die uns der Onkel in Aurich vermachte, daher führt er bei uns den Beinamen »Der Familientäuscher«! Er, der nämlich Mitte der Dreißiger schon Witwer geworden war, schrieb uns zu jedem Geburtstage, zu jedem Weihnachtsfest: »Was soll ich euch schenken? Ihr erbt ja doch einmal alles!« Nachdem er aber fast vierzig Jahre im Witwerstand verharrt hatte, nahm er mit zweiundsiebzig Jahren ein junges Weib, dem er bald all sein irdisch Hab und Gut hinterließ, dieser Familientäuscher, der!
Aber wenigstens das Geschirr sandte uns die angeheiratete, unbekannte Tante, und dies wahrscheinlich auch nur, weil es ihr in seiner Überfülle lästig war, trotzdem nun schon manches Stück in den Händen der Abwaschenden das Zeitliche gesegnet hatte! Für vierzig Personen reichte es aber noch gut, und es machte sich wahrhaft prächtig auf der von Gläsern funkelnden, von Neusilber-Leihbestecken blitzenden Tafel. Ihrer Gewohnheit nach warf Mutter noch einen Blick auf den Festtisch, kurz ehe die Gäste kamen. Es war alles in bester Ordnung, und zwar viel schöner als das Porzellanweiß bei den Kollegen. Dann verschwand Mutter nach der Küche hin, um die letzten Anweisungen für die große Saalschlacht zu geben.
Jetzt war der Augenblick für meine Schwester Fiete (von Frieda) gekommen. Ein Kompottschüsselchen Blaubeeren in der Hand, schlich sie in den Speisesaal, an die Tafel und …
Ja, was tat sie nun eigentlich? Wie gesagt, sie hat es erst Jahre später gestanden und hat uns auch erklärt, warum sie es tat. Aber damals erschien alles ganz rätselhaft und beinahe verbrecherisch …
Meine Schwester Fiete war ein seltsames Kind. Meistens still und fast pomadig, war sie doch der lebhaftesten Zornesausbrüche fähig, besonders wenn man an »ihre Sachen« ging. Geschwister haben leicht eine etwas kommunistische Art, mit den Sachen ihrer Brüder und Schwestern umzugehen, bei Fiete war so etwas nicht empfehlenswert. Sie konnte dann in den unsinnigsten Zorn geraten. Ich erinnere mich noch sehr wohl, wie Fiete lauthals weinend ihre eigene Lieblingspuppe zertrampelte, bloß weil unsere älteste Schwester Itzenplitz – von Elisabeth – ihr einen Kuss gegeben hatte!
Wie musste es also ein so veranlagtes Kind beunruhigen, dass meine Mutter, neben der sie bei Tisch saß, ständig »ihren« Löffel zum Kosten benutzte! Fiete war nämlich ausgesprochen kiesätig beim Essen. Immer hatte sie etwas auszusetzen, mal war ihr etwas zu salzig, mal zu süß, mal zu sauer, mal zu heiß, mal zu kalt, mal schmeckte es nach gar nichts. Es gab kein Essen, an dem Fiete nicht etwas auszusetzen gehabt hätte. Ich höre noch ihre hohe, gleichmäßig nörgelnde Stimme im Ohr, da ich dies schreibe, sie fing sofort damit an, sobald sie nur den ersten Löffelvoll im Munde hatte.
Dann nahm ihr Mutter einfach den Löffel aus der Hand, kostete von ihrem Teller und sagte gleichgültig: »Es ist alles in schönster Ordnung, Fiete. Du bist nur mal wieder kaufaul!«
Hundertmal hatte Fiete darauf die Mutter gebeten, doch den eigenen Löffel zum Kosten zu benutzen. Es half nichts, so hartnäckig wie Fiete meckerte, so hartnäckig nahm Mutter ihren Löffel, nicht als Strafe, aus reiner Gewohnheit, weil sie auch schon längst nicht mehr auf das hörte, was Fiete vorbrachte.
Aber nun war Fiete zu einem großen Rachewerk entschlossen … Eilig huscht sie um den Tisch. Bei jedem Gedeck bleibt sie stehen, nimmt Löffel für Löffel und zieht ihn sorgsam durch den Mund. Damit aber nicht nur in ihr das Gefühl, sich gerächt zu haben, lebe, nimmt sie ab und zu einen Mundvoll Blaubeerkompott – die Großen sollen schon sehen, wie das ist, wenn man die Sachen der Kinder missachtet!
Fiete hat ihr Werk beendet. Sie steht noch einen Augenblick da und mustert es. Der Tisch sieht für ein prüfendes Auge nicht mehr ganz so schön aus wie vordem, alle Löffel tragen bläuliche und schwärzliche Spuren. Fiete hat das Gefühl, sie müsse noch ein übriges tun: sie bückt sich und schnäuzt die Nase in einer Ecke des Tischtuchs. Dasselbe wiederholt sie an den andern drei Ecken. Dann verschwindet sie lautlos …
Natürlich konnte auch der taktvollste Gast dies nicht übersehen. Wohl erhoben sie die Hände zum lecker bereiteten Mahle und mit den Händen die Löffel, aber sie ließen sie wieder sinken, Staunen im Blick. Meine Mutter erglomm wie die Abendröte, mein Vater warf ihr einen beinahe strengen Blick zu.
»Ich verstehe es nicht«, stammelte meine unselige Mutter. »Ich habe den Tisch eben noch nachgesehen. Wer mir diesen Tort angetan hat …«
Mutter war nahe am Weinen. Wären nur Freunde dagewesen, sie hätte geweint. Aber es war manch eine unter den weiblichen Gästen, der sie den Gefallen nicht tun wollte, sie weinen zu sehen.
»Schnell!« sagte mein Vater zu den Lohndienern. »Die Bestecke einsammeln und abwaschen lassen! Nein, alles, auch die Messer und Gabeln …, man weiß ja nicht …«
Und mit einem Lächeln zu allen Gästen: »Kinder … Kinder … Sie wissen es ja alle, wie es ist, wo Kinder sind. Irgendein unbegreiflicher Kinderstreich!« Energischer: »Den ich aber bald begreifen werde!«
Aber nun erhob sich Widerspruch. Die meisten waren für einen Racheakt. Diese Dienstboten … ein uferloses Thema. Diese Lohndiener – ein ebenso uferloses Thema. Die Wartezeit, bis die Bestecke abgewaschen waren, verstrich auf das angenehmste, bis der Ruf »Attention, les servants!« erscholl.
Nur meine Mutter war ins Herz getroffen – wer konnte ihr dies nur angetan haben, wer nur –?! Auf Fiete riet sie nicht, auf Fiete riet keiner. Ihr Meckern über das Essen, ihre Klagen über die Löffelbenutzung waren so gewohnheitsgemäß, dass schon seit langem niemand sie mehr beachtete. Das Ereignis verlor sich allmählich im Strudel der Zeit, in dem alle Ereignisse, die einen schnell, die andern langsamer, untertauchen …
Freilich musste an diesem Abend meine Mutter doch noch weinen. Die Kollegenfrau Siedeleben, die meiner Mutter wegen ihres patronisierenden Wesens besonders unangenehm war, sagte beim Abschied huldvoll: »Es war wirklich ganz reizend! Und immer passiert etwas Interessantes bei Ihnen, so etwas