Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. СтендальЧитать онлайн книгу.
Ihr Herz gut, sogar edel. Und Sie besitzen einen überlegenen Geist. Mit einem Worte: es glüht ein Funken in Ihnen, den man nicht ausgehen lassen darf.«
»Nach fünfzehn Jahren voller Arbeit stehe ich im Begriffe, dies Haus zu verlassen. Man beschuldigt mich, den Seminaristen zu viel Freiheit gelassen und nichts für und nichts gegen die geheime Verbindung getan zu haben, von der Sie mir im Beichtstuhl berichtet haben. Ehe ich fortgehe, will ich etwas für Sie tun. Ich hätte es bereits vor acht Wochen gemacht, denn Sie haben es verdient, wenn nicht die Denunziation wegen der Adresse der Amanda Binet dazwischen gekommen wäre. Ich ernenne Sie hiermit zum Repetitor für das Alte und Neue Testament.«
Im Überschwange seiner Dankbarkeit durchzuckte Julian die Idee, er müsse in die Knie sinken und Gott danken. Doch er folgte einem aufrichtigeren Drange. Er ging auf den Abbé zu, ergriff seine Hand und führte sie an die Lippen.
»Was soll das?« rief der Direktor ärgerlich; aber da sah er, daß Julians Augen noch mehr verrieten als das, was er eben getan. Er war tief verwundert, just wie ein Mensch, der es im Laufe der Jahre aufgegeben hat, Herzensregungen zu begegnen. Dieses Erstaunen sah man dem Abbé an, und es lag ein seltsamer Klang in seiner Stimme, als er sagte: »Gewiß, mein Sohn, ich bin dir zugetan. Gott ist mein Zeuge, daß es wider meinen Willen ist, denn ich weiß, daß es meine Pflicht ist, gerecht zu sein, keinem zuliebe, keinem zuleide. Deine Laufbahn wird voller Mühen sein. Denn in dir lebt und webt etwas, das den großen Haufen verletzt. Neid und Verleumdung werden nicht von dir lassen. Wohin die Vorsehung dich auch stellen mag: Deine Gefährten werden dich nie ohne Haß betrachten. Selbst wenn sie tun, als hätten sie dich gern, so geschieht dies nur, um dich desto sicherer zu verraten. Dagegen hilft nur eines: Nimm deine Zuflucht zu Gott! Er ist es, der dir zur Strafe für deinen wissentlichen und unwissentlichen Hochmut den Haß der andern bereitet. Sei lauter in Handel und Wandel. Anders kommst du nimmer zu deinem Frieden. Wenn du unverbrüchlich und unablässig zur Wahrheit hältst, werden deine Widersacher früher oder später ermatten.«
Die Stimme eines Freundes hatte Julian sehr lange nicht vernommen, und so muß man ihm die Schwäche nachsehen, daß er in Tränen ausbrach. Gerührt schloß ihn der Abbé in die Arme. Es war ein Moment, gleich wonnesam für beide.
Julian war toll vor Freude. Das war seine erste Beförderung. Die Vorteile waren beträchtlich. Um sie zu ermessen, muß man dazu verdammt gewesen sein, monatelang, ohne eine Minute des Alleinseins, im engsten Verkehr mit Kameraden zu leben, die zum mindesten lästig, zumeist aber unerträglich sind. Schon ihr Geschrei reichte hin, eine sensible Natur zu verstimmen. Alle diese wohlgenährten und gutgekleideten Bauernjungen empfanden erst dann den vollen Genuß ihrer animalischen Fröhlichkeit, wenn sie recht lärmen konnten.
Fortan bekam Julian seine Mahlzeiten eine Stunde später als die andern Seminaristen, zunächst allein. Er erhielt einen Schlüssel zum Garten, wo er sich ergehen durfte, wenn kein Mensch darin war.
Zu seinem großen Erstaunen nahm er wahr, daß er jetzt weniger gehaßt wurde. Er hatte auf eine Verdoppelung des Hasses gerechnet. Sein geheimer, aber zu leicht erkennbarer Wunsch, von niemandem angeredet zu werden, hatte ihm ehedem manchen zum Feinde gemacht. Jetzt wurde das nicht mehr als Zeichen lächerlichen Hochmuts aufgefaßt. Jetzt war dies den Rohlingen, die ihn umgaben, eine berechtigte Äußerung seiner Würde. Die Feindseligkeit gegen ihn nahm zusehends ab, besonders unter den jüngeren Kameraden, die nun seine Schüler wurden und die er sehr höflich behandelte. Nach und nach gewann er sogar Anhänger, und bald galt es für unmanierlich, ihn Martin Luther zu nennen.
Seit Julian seine neue Würde bekleidete, sprach der Direktor Pirard absichtlich nur noch vor Zeugen mit ihm. Das war klug gehandelt, sowohl in Hinsicht auf den Lehrer wie auf den Schüler. Vor allem aber sollte es eine Prüfung sein. Als strenger Jansenist hatte Pirard folgenden Hauptgrundsatz: »Je mehr Verdienste ein Untergebener in unsern Augen hat, um so mehr muß man ihm all sein Tun und Trachten erschweren. Ist er wirklich etwas wert, so wird er die Schwierigkeiten umgehen oder überwinden.«
Zur Jagdzeit hatte Fouqué den Einfall, dem Seminar als angebliches Geschenk von Julians Eltern einen Hirsch und ein Wildschwein zu schicken. Dies Wildbret hing im Gang zwischen Küche und Refektorium, so daß alle Seminaristen es sehen mußten, wenn sie zum Essen gingen. Das war ein Ereignis, das die allgemeine Neugierde erregte. Acht Tage lang redete man von nichts anderm.
Diese Schenkung machte Julians Eltern zu Respektspersonen und beseitigte den Rest des Hasses gegen Julian. Der Reichtum seiner Familie sanktionierte seine Überlegenheit. Chazel und andre Größen der Seminaristenschaft suchten sichtlich den nähern Verkehr mit ihm. Beinahe hätten sie ihm einen Vorwurf daraus gemacht, daß er sie bisher vom Wohlstande seiner Familie nicht gehörig in Kenntnis gesetzt und sie in die peinliche Lage gebracht hatte, ihm die einem reichen Manne gebührende Hochachtung versagt zu haben.
Um diese Zeit fand eine Rekrutenaushebung in Besançon statt. In seiner Eigenschaft als Priesterschüler kam Julian frei. Dies bewegte ihn tief. »Ich bin zwanzig Jahre zu spät geboren! So habe ich die Zeit verpaßt, in der ich ein Held hätte werden können! Nie kehrt sie wieder!«
Als er an diesem Tage allein im Garten spazierenging, hörte er, wie einer der Arbeiter, die an der Umfassungsmauer zu tun hatten, bemerkte: »Na, nun müssen wir fort! Uns heben sie sicher aus.«
Ein andrer meinte: »Zu des Kaisers Zeit, ja, da wurde unsereiner wenigstens was, Offizier, sogar General. Man hat Beispiele!«
»Das war einmal!« lachte ein dritter. »Wer wird denn heutzutage Soldat? Arme Schlucker! Wer was hat, bleibt daheim!«
»Und wer im Dreck geboren ist, der bleibt im Dreck!«
»Sagt! Ist es denn eigentlich wahr, was man so sagt, daß er tot ist?«
»Die Angstmeier behaupten es.«
»Wie hat sich die Welt geändert! Zu seiner Zeit, das war ein ander Ding! Aber seine Marschälle haben ihn verraten. Die Schufte!«
Dies Gespräch tröstete Julian einigermaßen. Im Weitergehen seufzte er:
»Der einzige, den nie sein Volk vergißt!«
Die Examenszeit kam heran. Die Examinatoren waren von dem berüchtigten Großvikar von Frilair ernannt worden. Julian gab ausgezeichnete Antworten. Er machte die Wahrnehmung, daß selbst Chazel sein Licht nicht unter den Scheffel stellte.
Am ersten Prüfungstage mußten die Examinatoren Julian Sorel, der ihnen als Lieblingsschüler des Abbé Pirard bezeichnet worden war, zu ihrem Leidwesen allenthalben als Besten oder Zweitbesten in ihre i Listen eintragen. Schon wettete man im Seminar, Julian werde in der Schlußliste als Allererster stehen, was die Ehre nach sich zog, zu Seiner Hochwürden dem Bischof zu Tisch befohlen zu werden.
Gegen das Ende der Prüfung kam die Rede auf die Kirchenväter. Nachdem der betreffende gewandte Examinator vom heiligen Hieronymus und dessen Vorliebe für Cicero gesprochen hatte, schwenkte er auf Horaz, Virgil und andre profane Dichter über. Ohne Wissen seiner Mitschüler hatte Julian eine stattliche Anzahl Stellen aus diesen Autoren auswendig gelernt. Von seinen Erfolgen hingerissen, vergaß er den Ort, an dem er stand, und sagte auf wiederholtes Befragen des Prüfenden mehrere Oden des Horaz auf und erläuterte sie voll Begeisterung.
Zwanzig Minuten lang ließ ihn der Examinator sich begeistert aussprechen. Dann zog er plötzlich eine andre Miene auf und tadelte Julian scharf, daß er seine Zeit mit so weltlichen Studien vergeudet und sich den Kopf mit so unnützen und sündhaften Dingen beschwert habe.
»Es war töricht, Euer Hochwürden; ich sehe es ein«, erwiderte Julian bescheiden. Er erkannte, in welche schlau gelegte Falle er gegangen war.
Die Hinterlist des Examinators wurde unter den Seminaristen allgemein verurteilt. Der Abbé von Frilair aber, der Oberexaminator, der die Fäden der geheimen Kongregation zu Besançon in seiner geschickten Hand hielt, ein Intrigant, vor dessen Berichten nach Paris die Regierungsoberbeamten, die Richter, ja sogar hohe Offiziere der Garnison zitterten, setzte, mächtig wie er war, in gewichtigen Zügen die Ziffer 198 neben Julians Namen in die Schlußliste. Es bereitete ihm Vergnügen, seinem Feinde, dem Jansenisten Pirard, wieder einmal eins auszuwischen.
Seit einem Jahrzehnt war es das Ziel seiner Umtriebe, dem Abbé die Seminarleitung zu entreißen. Pirard