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Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. СтендальЧитать онлайн книгу.

Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher - Стендаль


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der Himmel in seinem Zorne hatte ihm das Temperament eines Cholerikers gegeben. Gegen Beleidigungen und Gehässigkeit war er überempfindlich. Seine Feuerseele nahm jede Kränkung auf. Hundertmal schon wäre er freiwillig von seinem Posten gegangen, wenn er nicht den Glauben gehabt hätte, daß er auf dem Platze, an den die Vorsehung ihn gestellt, eine Aufgabe zu erfüllen habe. »Ich bin ein Prellstein gegen das Weitervordringen von Jesuitentum und Götzendienerei«, sagte er sich.

      Zur Zelt der Examina war es etwa zwei Monate her, daß er mit Julian gesprochen hatte, und doch war er acht Tage lang krank, als er den Prüfungsbericht des Oberexaminators durchlas und neben dem Namen des Schülers, den er für die Leuchte seiner Schule hielt, die Zensur 198 fand. Der strenge Moralist suchte seinen einzigen Trost darin, daß er sein Augenmerk auf Julian verdoppelte. Zu seiner Herzensfreude sah er ihn weder voll Wut noch voll Rachgier und auch nicht mutlos.

      Ein paar Wochen später bekam Julian zu seinem Schreck einen Brief aus Paris. »Endlich«, dachte er, als er den Poststempel las, »endlich erinnert sich Luise ihres Versprechens.«

      Ein angeblicher Verwandter, als Paul Sorel unterzeichnet, sandte ihm einen Scheck auf fünfhundert Franken und stellte die nämliche Summe alljährlich in Aussicht, wenn sich Julian weiterhin mit Erfolg dem Studium der lateinischen Klassiker widme.

      »Das ist sie! Das ist ihre Güte!« sagte sich Julian gerührt. »Sie will mich trösten. Aber warum sagt sie mir kein einziges liebes Wort?«

      Julian irrte sich in seiner Vermutung über den Absender des Briefes. Frau von Rênal lebte unter dem Einflusse ihrer Freundin Frau Derville einzig und allein noch ihrer Reue. Zwar mußte sie manchmal des seltsamen Menschen gedenken, dessen Erscheinung ihr ganzes Sein bis in den Grund umgewandelt hatte, aber sie hütete sich, ihm zu schreiben.

      Die Zusendung des Geldes war ein wundersamer Zufall, und niemand anders war ahnungslos der Anlaß als der Großvikar von Frilair.

      Vor zwölf Jahren war er in Besançon eingezogen, mit einem leichten Ränzlein, von dem die Sage ging, es habe sein gesamtes Hab und Gut geborgen. Jetzt war er einer der reichsten Grundbesitzer im Regierungsbezirk. Unter anderm besaß er ein Gut, dessen andre Hälfte durch Erbschaft an den Marquis von La Mole gefallen war. Hierüber hatte sich ein großer Prozeß zwischen den beiden entsponnen.

      Trotz seiner glänzenden Stellung in der Residenz und seiner Hofämter erfuhr der Marquis am eigenen Leibe, wie gefährlich es war, mit einem Besançon Großvikar, der Regierungspräsidenten ein-und absetzte, im Streit zu liegen. Anstatt sich mit einer Vergleichssumme von fünfzigtausend Franken zu begnügen, die sich irgendwie im Budget hätte unterbringen lassen, hatte sich der Marquis in die Sache verbissen. Er glaubte im Recht zu sein. Ein schöner Grund. Wo in der Welt gibt es einen Richter, der nicht einen Sohn oder wenigstens einen Neffen vorwärtsbringen will?

      Nachdem der Großvikar in der ersten Instanz ein Urteil zu seinen Gunsten durchgesetzt hatte, genierte er sich durchaus nicht, in der Kutsche des Bischofs bei seinem Rechtsanwalt vorzufahren und ihm eigenhändig das Kreuz der Ehrenlegion zu überbringen. Einem Blinden hätten da die Augen aufgehen müssen! Der Marquis von La Mole war über das Gebaren seines Prozeßgegners ein wenig betroffen. Es kam ihm vor, als erlahmten seine Anwälte. Deshalb wandte er sich an den Abbé Chélan mit der Bitte um seinen Rat. Chélan setzte ihn mit Pirard in Verbindung.

      Das war vor mehreren Jahren. Der Abbé Pirard hatte seinen Wahrheitseifer auch auf diese Sache übertragen. In steter Verbindung mit den Anwälten des Marquis hatte er sich in die Akten vertieft, hatte gefunden, daß das Recht auf der Seite des Marquis war, und war vor aller Welt sein Geschäftsträger gegen den allmächtigen Großvikar geworden. Der war über diese Unverschämtheit eines armseligen Jansenisten empört, und höhnisch äußerte er sich im Kreise seiner Vertrauten: »Da sieht man übrigens, wie es mit dem Hofadel, der sich für so mächtig hält, in Wahrheit steht! Dieser Marquis hat seinem Helfershelfer hier in Besançon noch nicht einmal den lumpigsten Orden verschafft. Ja, er sieht ruhig zu, wie er abgehalftert wird. Dabei schreibt man mir, daß der edle Pair keine Woche verstreichen läßt, ohne sich beim Justizminister im Schmucke seiner Orden und Würden sehen zu lassen.«

      In der Tat erreichte der Marquis trotz der Rührigkeit des Abbé Pirard und trotz seiner vorzüglichen Beziehungen zu dem Justizminister und den ihm unterstellten Beamten innerhalb von sechs Jahren nichts weiter, als daß er seinen Prozeß nicht endgültig verlor.

      Sein ununterbrochener Briefwechsel mit Pirard in einer Sache, die sie beide mit Passion verfochten, war der Anlaß, daß der Marquis von La Mole schließlich persönliches Gefallen an Charakter und Gesinnung des Abbé fand. Trotz des großen Abstandes ihrer gesellschaftlichen Stellung wurde der Ton ihrer Briefe allmählich freundschaftlich. Pirard klagte dem Marquis gelegentlich, daß man ihn durch Schikanen dazu dränge, seinen Abschied einzureichen. In seinem Zorn erzählte er ihm auch die niederträchtige Art und Weise, die man offenbar gegen Julian Sorel angewendet hatte, und dessen ganze Lebensgeschichte.

      Der große Herr war bei allem Reichtum durchaus nicht geizig. Er hatte den Abbé niemals dazu bewegen können, sich auch nur seine Auslagen im Prozesse zurückerstatten zu lassen. Darum kam er auf den Gedanken, Pirards Lieblingsschüler fünfhundert Franken zu schicken. Der Marquis machte sich die Mühe, die Begleitzeilen eigenhändig zu schreiben.

      Auch den Abbé selber vergaß er nicht. Eines Tages erhielt Pirard die kurze Aufforderung, sich in einer dringlichen Angelegenheit unverzüglich in einem Vorstadtgasthof von Besançon einzufinden. Dort fand er den Intendanten des Marquis von La Mole, der ihm eröffnete: »Seine Exzellenz hat mich beauftragt, Ihnen seinen Reisewagen zur Verfügung zu stellen. Der Herr Marquis hofft, daß Sie sich nach Kenntnisnahme des beiliegenden Briefes bereit erklären, in vier oder fünf Tagen nach Paris zu fahren. Ich werde die Zeit bis zum Tage der Abreise, den Sie gütigst bestimmen wollen, dazu benutzen, den Grundbesitz des Herrn Marquis in der Freigrafschaft zu besichtigen. Danach fahren wir an dem Ihnen passenden Tage zusammen nach Paris.«

      Der Brief war kurz. Er lautete:

      »Lieber Herr Abbé!

      Entrinnen Sie endlich allen Provinzstänkereien und atmen Sie in der Pariser Luft auf. Ich schicke Ihnen meinen Wagen mit dem Auftrage, vier Tage auf Ihren Entschluß zu warten. Ich hoffe, Sie spätestens am Dienstag hier zu sehen. Es bedarf Ihrerseits nur der Zusage, mein Verehrtester, und ich nehme in Ihrem Namen eine der ersten Pfarren in der Umgebung von Paris an. Der Machthaber in Ihrer künftigen Gemeinde hat Sie zwar von Angesicht zu Angesicht noch nie gesehen, ist Ihnen aber ergebener, als Sie ahnen. Es ist Ihr

      Marquis von La Mole.«

      Trotz aller Widersacher hing der strenge Direktor Pirard an seinem Seminar mehr, als er selber geglaubt hatte. Seit fünfzehn Jahren ging er in seinem Amt auf. Und so stand er dem Briefe seines Gönners gegenüber wie einem Arzte, der zur Ausführung einer schmerzhaften, aber nötigen Operation eingetroffen ist. Seine Amtsenthebung war unabwendbar. Er vereinbarte mit dem Intendanten eine zweite Zusammenkunft in drei Tagen.

      Achtundvierzig Stunden lag er im Fieber der Unentschlossenheit. Schließlich setzte er an den Marquis einen Brief auf, sowie ein Schreiben an den Bischof, ein wahres Meisterwerk des pfäffischen Stiles, nur etwas weitschweifig. Trefflichere Ausdrücke voll aufrichtigerer Hochachtung waren unmöglich. Und doch enthüllte die Beschwerdeschrift, die dem Großvikar von Frilair ein hochnotpeinliches Stündlein im Audienzzimmer des Bischofs einbringen sollte, eine lange Reihe von schweren Schädigungen bis hinab zu den kleinsten gemeinsten Schikanen, die der Abbé Pirard in den letzten sechs Jahren geduldig ertragen hatte, bis sie ihn am Ende nötigten, die Diözese zu verlassen. Unter anderm hatte man ihm das Holz aus dem Schuppen gestohlen, ihm seinen Hund vergiftet und dergleichen mehr.

      Als dies Schreiben fertig war, ließ Pirard Julian wecken, der, wie im Seminar üblich, bereits um acht Uhr schlafen gegangen war.

      »Du weißt, wo der bischöfliche Palast ist«, sagte Pirard im besten Latein. »Bringe diesen Brief zum Bischof. Ich will dir nicht verhehlen, daß ich dich mitten unter die Wölfe schicke. Halte Augen und Ohren offen! Sei in deinen Antworten unbedingt frei von Unwahrheit, doch bedenke immer, daß der Fragesteller vielleicht sein teuflisches Vergnügen daran hat, dir zu schaden. Ich freue mich, mein Sohn, daß ich dir vor meinem Scheiden Gelegenheit geben kann, diese Erfahrung


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