Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. СтендальЧитать онлайн книгу.
geliebt zu werden glaubte …«
Julian umarmte sie, ohne jedwede Absicht, willenlos. Aber Frau von Rênal stieß ihn zurück und immer noch leidlich fest fuhr sie fort: »Mein ehrwürdiger Freund Chélan hat es mir begreiflich gemacht, daß ich mich Herrn von Rênal, seit ich seine Ehefrau geworden, mit Leib und Seele verschrieben habe, bis in die höchsten Gefühle, die mir unbekannt waren, ehe ich sie in meiner sündigen Liebe erlebte … Seit der schmerzlichen Hingabe der mir so teuren Briefe ist mein Dasein, wenn auch nicht glücklich, so doch einigermaßen ruhig. Stören Sie meinen Frieden nicht! Seien Sie mein Freund … mein bester Freund!«
Julian bedeckte ihre Hände mit Küssen. Da merkte sie, daß er noch immer weinte.
»Weinen Sie nicht!« bat sie. »Machen Sie es mir nicht so schwer! Erzählen Sie mir nun auch, wie es Ihnen ergangen ist.«
Julian vermochte nicht zu sprechen.
»Ich möchte wissen«, begann sie von neuem, »wie Sie im Seminar gelebt haben. Dann aber müssen Sie gehen.«
Ohne daß sich Julian klar ward, was er sagte, erzählte er von den zahllosen Ränken und Eifersüchteleien, deren Opfer er zunächst gewesen, und von seinem ruhigeren Dasein, als er dann Repetitor geworden war.
»Gerade um diese Zeit«, berichtete er, »brachen Sie Ihr langes Schweigen, das mir wohl begreiflich machen sollte, was ich heute nur zu gut erkenne: daß Sie mich nicht mehr lieben, daß ich Ihnen gleichgültig geworden bin …«
Frau von Rênal drückte ihm die Hände.
»Damals erhielt ich von Ihnen die fünfhundert Franken …«
»Von mir? Niemals!« beteuerte Frau von Rênal.
»In einem Briefe mit dem Poststempel Paris, unterzeichnet ›Paul Sorel ‹, offenbar um jeden Verdacht abzulenken.«
Es entstand eine kleine Erörterung, wer den Brief wohl abgesandt habe. Dadurch änderte sich die ganze Stimmung. Unbewußt gaben Frau von Rênal sowohl wie Julian das Pathetische auf. Sie fanden sich beide in die Art und Weise ihrer alten zärtlichen Freundschaft zurück. Sie sahen einander nicht, so dicht war die Dunkelheit, aber der Klang ihrer Stimmen sagte alles. Julian legte den Arm um seine Freundin. Sie fühlte, wie gefährlich dies war, und so versuchte sie, sich wieder frei zu machen. Aber durch eine spannende Einzelheit seiner Erzählung gewann Julian recht geschickt gerade jetzt ihre volle Aufmerksamkeit, so daß die Abwehr des Armes wie aus Vergeßlichkeit unterblieb.
Nach langem Hin-und Herraten über den Ursprung des Briefes und der fünfhundert Franken setzte Julian seinen Lebensbericht fort. Dabei wurde er mehr und mehr wieder Herr seiner selbst. Die Vergangenheit, von der er sprach, bewegte ihn angesichts dessen, was er eben erlebte, nur wenig. Der Strom seiner Gedanken richtete sich einmütig auf den Ausgang seines nächtlichen Besuches. Von Zeit zu Zeit wurde ihm kurzerhand wiederholt: »Sie müssen gehen!«
»Was für eine Schande wäre es für mich, wenn ich mich hinauskomplimentieren ließe!« sagte er sich. »Die Reue darüber würde mir mein ganzes Leben vergiften. Sie wird mir nie schreiben, und Gott weiß, wann ich je wieder in diese Gegend komme!«
Von diesem Augenblick an war alles Hohe und Hehre aus seinem Herzen gewichen. Ein angebetetes Weib dicht neben sich, saß er in demselben Gemache, in dem er einst so glücklich war, in tiefdunkler stiller Nacht; er wußte, daß sie seit einer Weile weinte; er fühlte am Wogen ihres Busens, daß sie krampfhaft schluchzte, und doch wurde er mit einemmal ein kalter, herzloser, lauernder Beobachter, kaum anders als im Seminarhofe unter den schlechten Witzen seiner ihm körperlich überlegenen Kameraden.
Er zog seine Erzählung in die Länge und schilderte das unselige Leben, das er seit seinem Scheiden aus Verrières geführt hatte.
Frau von Rênal dachte sich: »Also hat er noch nach einem Jahre der Trennung, ohne Beweise, ob ich seiner gedachte, nur an die glücklichen Tage von Vergy gedacht! Und ich, ich hatte ihn vergessen!«
Ihr Schluchzen ward heftiger. Julian erkannte den Erfolg seiner Erzählung. Er ward sich klar, daß er das letzte Mittel versuchen mußte, und ohne Übergang begann er von dem Briefe zu reden, der ihn nach Paris berief. »Ich habe mich von Seiner Hochwürden dem Bischof verabschiedet…«, sagte er.
»Wie? Sie gehen nicht nach Besançon zurück? Sie verlassen uns?«
»So ist es«, entgegnete er in festestem Tone. »Ich verlasse ein Land, wo ich selbst von der vergessen bin, die ich über alles in der Welt geliebt habe. Ich verlasse es auf Nimmerwiedersehn. Ich gehe nach Paris…«
»Du gehst nach Paris?« fragte Frau von Rênal erschrocken.
In Tränen erstickend, vermochte sie diese Worte kaum hervorzubringen. Dies Zeichen ihrer höchsten Verwirrung brauchte Julian zu seiner Ermutigung. Er stand im Begriff, etwas zu wagen, was ihm leicht alles verderben konnte. Da er vor Dunkelheit nichts sehen konnte, so wußte er vor ihrem Aufschrei nicht, welchen Erfolg er bisher haue. Nun zögerte er nicht mehr. Die Furcht vor späterer Reue gab ihm die volle Selbstbeherrschung wieder. Er erhob sich und sagte in kühlem Tone: »Jawohl, gnädige Frau, ich verlasse Sie für immer. Seien Sie glücklich! Leben Sie wohl!«
Er machte ein paar Schritte dem Fenster zu. Er öffnete es bereits. Da stürzte ihm Frau von Rênal nach und hängte sich an seinen Hals.
So erreichte Julian nach dreistündigem Gespräch das Ziel, das er in den beiden ersten Stunden ihres Beisammenseins so leidenschaftlich begehrt hatte. Frau von Rênal hätte ihm ein wenig früher die Zärtlichkeit der alten Liebe gewähren und ihrer sittsamen Bedenken eher Herr werden sollen; dann hätte er ein göttliches Glück genossen. Was er nunmehr durch Diplomatie erlangte, war ihm nichts als Sinnenlust.
Er bestand darauf, trotz der Einwände seiner Geliebten, daß ein Nachtlicht angezündet ward.
»Soll ich gar keine Erinnerung an dein Gesicht mit in die Fremde nehmen?« klagte er. »Soll die Liebe, die in deinen süßen Augen leuchtet, ewig für mich verloren sein? Soll mir deine liebe weiße Hand nicht durch meine Träumereien schimmern? Denke daran, daß ich dich vielleicht für sehr lange verlasse!«
Frau von Rênal vermochte diese Bitte nicht mehr abzuwehren, deren Begründung sie zu neuen Tränen rührte. Aber schon begann der Morgen zu dämmern. Im Osten, am Horizont, bekamen die Fichten auf der Gebirgssilhouette haarscharfe Umrisse. Jetzt hätte Julian gehen müssen. Statt dessen bat er im Banne der Wollust Frau von Rênal, sie solle ihn den ganzen Tag über im Zimmer versteckt halten und ihn erst in der nächsten Nacht scheiden lassen.
»Warum nicht?« gab sie zur Antwort. »Mein schlimmer Rückfall in die alte Sünde nimmt mir alle Selbstachtung und bringt mir für immerdar Unglück.« Sie drückte den Geliebten an ihr Herz. »Mein Mann ist nicht mehr wie früher. Er ist argwöhnisch und immer gereizt gegen mich. Er kann nicht vergessen; er glaubt, ich hätte ihn hintergangen. Wenn er das geringste Geräusch hört, bin ich verloren. Er würde mich aus dem Hause jagen. Ach, bin ich unglücklich!«
»Ich höre den Pfarrer Chélan reden«, spottete Julian. »Vor unsrer grausamen Trennung, ehe ich ins Seminar ging, da hättest du nicht so gesprochen! Damals liebtest du mich!«
Die Kaltblütigkeit, mit der er diese Worte hervorbrachte, belohnte sich. Er sah, wie seine Freundin plötzlich die Gefahr vergaß, die ihres Mannes Nähe ihr bereitete, eine viel größere Gefahr vor Augen: Julians Zweifel an ihrer Liebe.
Das Tageslicht nahm rasch zu. Schon war das Zimmer völlig hell. Aufs neue schwelgte Julian in allen Lüsten seines Stolzes, als er dieses entzückende Weib in seinen Armen und fast zu seinen Füßen erblickte, das einzige menschliche Wesen, das er je geliebt, und das noch vor wenigen Stunden aus grenzenloser Furcht vor Gottes Rache nichts anerkennen wollte als die Pflichten seiner Ehe. Die durch ein ganzes Jahr der Standhaftigkeit gefestigten Vorsätze hatten sich vor seinem Mute nicht behaupten können.
Bald ward es im Hause lebendig. Frau von Rênal hatte an eines nicht gedacht, und das beunruhigte sie jetzt.
»Wenn Elise das Zimmer betritt, wird das boshafte Ding deine Riesenleiter bemerken. Wo verstecken wir sie? Ich werde sie auf den Boden tragen. Was denkst du?«
Sie lachte in einer plötzlichen