Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf. Selma LagerlöfЧитать онлайн книгу.
hatte, und blieb stehen. »Es ist ja nur eine Natter,« dachte er. »Die kann mir doch nichts tun.«
Im selben Augenblick aber versetzte ihm die Natter einen so kräftigen Stoß vor die Brust, daß er umfiel. Er kam schnell wieder aus die Beine und fing an zu laufen, die Schlange aber verfolgte ihn. Der Erdboden war steinig und mit Gestrüpp bewachsen, so daß es nur langsam ging, und er hatte die Natter dicht auf den Fersen.
Auf einmal sah der Junge gerade vor sich einen großen Stein mit steilen Seiten, auf den kletterte er hinauf. »Hier kann mir die Natter doch nicht nachkommen,« dachte er, aber als er glücklich hinaufgekommen war und sich umwandte, sah er, daß die Schlange versuchte, hinter ihm herzukommen.
Dicht neben dem Jungen, oben auf dem Steinblock, lag noch ein Stein, der war fast rund und so groß wie ein Menschenkopf. Er lag ganz lose hart am Rande. Es war unfaßlich, daß er da liegen konnte. Als die Natter näher kam, lief der Junge hinter den runden Stein und versetzte ihm einen Schubs. Er rollte gerade auf die Natter herab, so daß diese an die Erde fiel, und der Stein ihren Kopf traf, auf dem er liegen blieb.
»Der Stein hat seine Sache gut gemacht,« dachte der Junge und seufzte erleichtert auf, als er sah, daß die Natter noch ein paarmal zuckte und dann still liegen blieb. »Ich glaube kaum, daß ich auf der ganzen Reise je in einer größeren Gefahr gewesen bin.«
Kaum hatte er Zeit gehabt, sich ein wenig zu besinnen, als er ein Sausen in der Luft vernahm und einen Vogel niederstoßen sah, dicht neben der Natter. Er glich in Größe und Bau einer Krähe, aber er hatte ein hübsches Kleid aus schwarzen, metallschimmernden Federn. Der Junge verkroch sich vorsichtig in einen Riß im Stein. Er entsann sich nur zu gut, wie es ihm ergangen war, als er von den Krähen entführt wurde. Er beschloß, nicht zum Vorschein zu kommen, wenn es nicht notwendig war.
Der schwarze Vogel ging mit langen Schritten neben der toten Schlange auf und nieder und berührte sie mit dem Schnabel. Schließlich schlug er mit den Flügeln und rief mit einer so gellenden Stimme, daß es in den Ohren weh tat: »Dies muß die Natter Hilflos sein, die hier tot liegt!« Noch einmal ging er der ganzen Länge nach an der Natter entlang, und dann blieb er in tiefe Gedanken versunken stehen und kraute den Kopf mit dem Fuß. »Es kann unmöglich zwei so große Nattern hier im Walde geben,« sagte er. »Es ist ganz sicher Hilflos.«
Es sah so aus, als wolle er mit dem Schnabel in die Natter hineinhacken, aber plötzlich hielt er inne. »Sei nun kein Tor, Bataki,« sagte er. »Es kann dir doch nicht einfallen, die Natter zu fressen, ehe du Karr geholt hast. Er wird nie glauben, daß Hilflos tot ist, wenn er es nicht selbst gesehen hat.«
Der Junge tat sein Bestes, um sich still zu verhalten, aber der Vogel war so possierlich feierlich, wie er da mit sich selbst redete, daß er sich nicht enthalten konnte, zu lachen.
Der Vogel hörte ihn, und mit einem einzigen Flügelschlag war er oben auf dem Stein. Der Junge sprang sofort auf und ging ihm entgegen: »Bist du nicht der Rabe, den sie Bataki nennen, und der ein guter Freund von Akka von Kebnekajse ist?« fragte der Junge. Der Vogel sah ihn genau an, dann nickte er langsam dreimal. »Du bist doch wohl nicht der Knirps, der mit den Wildgänsen herumfliegt und den sie Däumeling nennen?« – »Ja, da hast du nicht weit vom Ziel geschossen,« sagte der Junge.
»Welch Glück, daß ich dich getroffen habe. Du kannst mir am Ende sagen, wer die Natter hier totgeschlagen hat?« – »Ich hab’ den Stein da auf sie heruntergerollt, und der hat sie totgeschlagen,« sagte der Junge und erzählte, wie sich das Ganze zugetragen hatte. – »Das ist eine gute Leistung für einen so kleinen Knirps wie du,« sagte der Rabe. »Ich habe einen Freund hier in der Gegend, der wird sich freuen, daß die Natter tot ist, und ich wollte, ich könnte auch etwas für dich tun.« – »Dann erzähle mir, warum ihr euch so freut, daß die Natter tot ist,« sagte der Junge. – »Ach,« meinte der Rabe, »das ist eine lange Geschichte. Du hast gar nicht soviel Geduld, sie anzuhören.«
Der Junge aber behauptete, die hätte er, und da erzählte denn der Rabe die Geschichte von Karr und Graufell und der Natter Hilflos. Als er damit fertig war, saß der Junge eine Weile stumm da und starrte in die Luft. »Hab’ vielen Dank!« sagte er. »Mir ist, als verstünde ich den Wald besser, nachdem ich dies alles gehört habe. Ich möchte wohl wissen, ob noch etwas von dem großen Hegewald übriggeblieben ist?« – »Das meiste ist wohl zerstört. Die Bäume sehen so aus, als hätte ein Waldbrand sie verheert. Sie müssen gefällt werden, und es vergehen sicher viele Jahre, ehe der Wald wieder das wird, was er gewesen ist.«
»Die Natter hat ihren Tod redlich verdient,« sagte der Junge, »aber wie konnte sie nur so klug sein, Krankheit über die Larven zu bringen?« – »Sie wußte am Ende, daß sie von einer solchen Krankheit befallen werden würden,« sagte Bataki. – »Das mag ja sein, aber ich finde doch, daß sie ein kluges Tier gewesen sein muß.«
Der Junge schwieg, denn der Rabe hatte gar nicht zugehört, er saß mit abgewandtem Kopf da und lauschte. »Hör’ doch!« sagte er. »Karr ist hier in der Nähe! Wird der sich freuen, wenn er sieht, daß Hilflos tot ist.« Der Junge wandte den Kopf nach der Seite, woher der Laut kam. »Er spricht mit den wilden Gänsen,« sagte er. – »Ja, er hat sich gewiß an den See hinabgeschleppt, um sich nach Graufell zu erkundigen.«
Der Junge und der Rabe sprangen vom Stein herunter und eilten an den See. Alle Gänse waren aus dem Wasser heraufgekommen und sprachen mit einem alten Hund, der so schwach und jämmerlich war, daß es aussah, als könne er auf dem Fleck tot umfallen.
»Das ist Karr,« sagte Bataki zu dem Jungen. »Laß ihn nun erst hören, was die wilden Gänse ihm zu sagen haben. Dann können wir ihm hinterher erzählen, daß die Natter tot ist.«
Bald waren sie so nahe herangekommen, daß sie hören konnten, was Akka Karr erzählte. »Es war im letzten Jahr, als wir unsere Frühlingsreise machten,« sagte die Führergans. »Eines Morgens waren wir vom Silja in Dalarna ausgeflogen, Ykai und Kaksi und ich, und flogen über die großen Grenzwälder zwischen Dalarna und Helsingland. Wir sahen nichts weiter unter uns als den schwarz-grünen Nadelwald. Der Schnee lag noch hoch zwischen den Bäumen, die Bäche waren zugefroren, mit einer dunklen Wake hier und da, und an den Bachufern war der Schnee zum Teil schon fort. Wir sahen fast keine Dörfer und Gehöfte, nur graue Sennhütten, die den ganzen Winter unbewohnt standen. Hin und wieder schlängelte sich ein schmaler, gewundener Waldpfad dort, wo die Leute im Laufe des Winters Holz gefahren hatten Unten an den Bächen lagen große Holzstapel.
Wie mir so dahinflogen, sahen wir drei Jäger unten im Walde. Sie sausten auf Schneeschuhen daher, sie hatten Hunde an der Leine und Messer im Gürtel aber keine Büchsen. Über dem Schnee lag eine harte Eiskruste, und sie machten sich nichts daraus, den gewundenen Waldpfaden zu folgen, sie gingen geradewegs vor. Es sah so aus, als wenn sie ganz bestimmt wüßten, wohin sie gehen mußten, um das Gesuchte zu finden.
Wir Wildgänse flogen hoch oben, und der ganze Wald lag offen vor unserem Blick. Als wir die Jäger gesehen hatten, bekamen wir auch Lust, zu sehen, wo das Wild war. Wir flogen hin und her und spähten zwischen den Bäumen. Und da gewahrten wir in einem Dickicht etwas, das so aussah wie große, moosbewachsene Steine. Aber Steine konnten es doch nicht sein, denn es lag kein Schnee darauf.
Wir schwebten schnell herab und ließen uns mitten in das Dickicht nieder. Da rührten sich die drei Steinblöcke. Es waren drei Elche, die da in der Finsternis des Waldes lagen: ein Hirsch und zwei Kühe. Der Hirsch richtete sich auf, als wir uns herabließen, und kam auf uns zu. Es war das größte und schönste Tier, das wir je gesehen hatten. Als es aber sah, daß es nur elende Wildgänse waren, die ihn geweckt hatten, legte er sich wieder nieder.
»Nein, Vater Elch, legt Euch nicht schlafen!« sagte ich da zu ihm. »Fliehet so schnell Ihr könnt. Es sind Jäger im Walde, und sie kommen gerade auf dies Dickicht zu.«
»Vielen Dank, Gänsemutter,« sagte der Elch, und es sah so aus, als wenn er wieder einschlafen wollte, während er sprach, »Ihr wißt doch, daß in dieser Jahreszeit Schonzeit für die Elche ist. Die Jäger sind gewiß auf Füchse aus.«
»Da waren überall Fuchsspuren im Walde, aber die beachteten die Jäger nicht. Glaubt mir! Sie wissen, daß Ihr hier