Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf. Selma LagerlöfЧитать онлайн книгу.
Elch blieb ganz ruhig liegen, aber die Kühe wurden ängstlich. »Vielleicht verhält es sich doch so, wie die Gänse sagen,« meinten sie und wollten sich erheben. – »Bleibt Ihr nur liegen,« sagte der Hirsch. »Hier in das Dickicht kommen keine Jäger, darauf könnt Ihr Euch verlassen.«
Dabei war nichts zu machen, und so stiegen wir Wildgänse dann wieder in die Luft auf. Aber wir flogen noch über demselben Fleck hin und her, um zu sehen, wie es den Elchen ergehen würde.
Kaum waren wir in unsere gewöhnliche Flughöhe hinausgelangt als wir den Elch aus dem Dickicht herauskommen sahen. Er witterte nach allen Seiten und ging dann geradeswegs auf die Jäger zu. Indem er ging, trat er auf trockene Zweige, die krachend zerbrachen. Ein großes, kahles Moor lag vor ihm. Da ging er hinaus und stellte sich mitten auf das offene Moor, wo ihn nichts schützen konnte.
Hier blieb der Elch stehen, bis die Jäger am Waldessaum sichtbar wurden. Dann machte er jäh Kehrt und lief in einer anderen Richtung, als woher er gekommen war, davon. Die Jäger ließen die Hunde los und jagten selbst auf ihren Schneeschuhen hinter ihm drein, so schnell es ihnen nur möglich war.
Der Elch warf den Kopf zurück und stürmte in wilder Fahrt davon. Der Schnee spritzte unter ihm auf, daß er wie in ein Schneegestöber gehüllt war. Weder Hunde noch Jäger konnten ihm folgen. Dann blieb er stehen, um auf sie zu warten, und wenn sie wieder in Sehweite gelangt waren, stürmte er von neuem davon. Wir begriffen sehr wohl, daß es seine Absicht war, die Jäger von der Stelle wegzulocken, wo die Elchkühe lagen. Wir bewunderten seine Tapferkeit, daß er selbst der Gefahr entgegenging, damit die zu ihm Gehörigen in Frieden sein konnten. Keine von uns war imstande weiterzufliegen, ehe wir gesehen hatten, wie das Ende würde.
Die Jagd wurde ein Paar Stunden auf gleiche Weise fortgesetzt. Wir konnten nicht verstehen, daß die Jäger sich darauf einließen, den Elch zu jagen, wenn sie nicht mit Büchsen bewaffnet waren. Sie konnten doch nicht erwarten, daß es ihnen gelingen würde, einen solchen Läufer zu ermüden.
Aber dann sahen wir, daß der Elch nicht mehr so schnell lief, er trat vorsichtiger in den Schnee. Und als er die Beine wieder hob, war da Blut in den Spuren.
Da wußten wir, warum die Jäger so beharrlich gewesen waren. Sie bauten darauf, daß der Schnee ihnen helfen werde. Der Elch war jung, und bei jedem Schritt, den er tat, sank er ganz bis auf den Grund der Schneewehe. Dadurch aber scheuerte die harte Schneekruste seine Beine entzwei. Sie riß ihm die Haare ab und kratzte ein Loch in das Fell, so daß es ihm eine Qual war, den Fuß auf den Boden zu setzen.
Die Jäger und die Hunde, die so leicht waren, daß sie auf der Eiskruste laufen konnten, setzten ihre Verfolgung fort. Er lief und lief, aber seine Schritte wurden immer unsicherer und strauchelnder. Er keuchte heftig. Er litt nicht nur große Qual, er wurde auch müde von dem Waten im tiefen Schnee.
Endlich riß ihm die Geduld. Er stand still und ließ Hunde und Jäger an sich herankommen, um den Kampf mit ihnen aufzunehmen. Während er dastand und wartete, sah er in die Höhe und gewahrte uns wilden Gänse, die über ihm schwebten, und er rief: »Bleibt nun hier, Wildgänse, bis das Ganze vorbei ist. Und wenn ihr das nächstemal über den Kolmården fliegt, so sucht den Hund Karr auf und erzählt ihm, daß sein Freund Graufell einen guten Tod gefunden hat!«
Als Akka geendet hatte, richtete der alte Hund sich auf und ging einige Schritte näher an sie heran. »Graufell hat ein edles Leben geführt!« sagte er. »Er kennt mich, er weiß, daß ich ein mutiger Hund bin und mich darüber freuen werde, zu hören, daß er einen guten Tod gefunden hat. Erzähle mir jetzt …«
Er hob den Schwanz in die Höhe und richtete den Kopf auf, um eine mutige, stolze Haltung einzunehmen, sank aber wieder zusammen.
»Karr, Karr!« rief eine Menschenstimme aus dem Walde.
Der alte Hund erhob sich sofort. »Das ist der Herr, der ruft,« sagte er, »und ich will ihn nicht warten lassen. Ich sah ihn vorhin die Flinte laden, und wir beide gehen nun zum letztenmal in den Wald hinaus. Hab’ dank, Wildgans! Nun weiß ich alles, was ich zu wissen brauche, um froh in den Tod zu gehen!«
XXII. Der wunderschöne Garten
Sonntag, 24. April.
Am nächsten Tage flogen die wilden Gänse nordwärts über Sörmland. Der Junge saß da und sah auf die Gegend herab und dachte bei sich, sie gleiche keiner der Gegenden, die er bisher gesehen hatte. Da waren keine großen Ebenen wie in Schonen und Ostgotland und keine großen, zusammenhängenden Wälder wie in Smaaland, aber da war eine Mischung von allem möglichen. »Hier haben sie einen großen See und einen großen Elf und einen großen Wald und einen großen Berg genommen und es alles kurz und klein gehackt und dann zusammengemischt und bunt durcheinander auf der Erde ausgebreitet,« dachte der Junge, denn er sah nichts weiter als kleine Täler und kleine Seen und kleine Berge und kleine Wälder. Nichts durfte sich so recht ausbreiten. Sobald eine Ebene im Begriff war, groß zu wachsen, kam ein Hügel und stellte sich ihr in den Weg, und wenn sich der Hügel zu einem Gipfel erheben wollte, so begann die Ebene von neuem. Sobald ein See so groß wurde, daß es nach etwas aussah, wurde er zu einem Bach eingegrenzt, und auch der Bach durfte nicht lange laufen, ehe er sich zu einem See erweiterte. Die Wildgänse flogen so nahe an der Küste entlang, daß der Junge über das Meer hinaussehen konnte, und er hatte bemerkt, daß es auch dem Meer nicht gestattet war, seine große Fläche auszubreiten, sondern daß es von einer Menge von Inseln unterbrochen wurde, und die Inseln wurden auch nicht groß, ehe das Meer wieder in seine Rechte eintrat. Es war ein beständiges Wechseln. Nadelwald wechselte mit Laubholz, Felder mit Mooren und Herrenhöfe mit Häuslerwohnungen.
Es waren gar keine Menschen draußen auf den Feldern bei der Arbeit, statt dessen gingen sie auf Wegen und Stegen. Die kamen aus den kleinen Waldhäuschen am Abhang des Kolmårds heraus, in schwarzen Kleidern, mit Gesangbuch und Taschentuch in der Hand. »Es ist wohl Sonntag heute,« dachte der Junge und saß da und sah auf die Kirchgänger hinab. An einigen Stellen sah er ein Brautpaar, das mit großem Gefolge zur Kirche fuhr, und an einer anderen Stelle kam ein Leichenzug langsam den Weg entlang gefahren. Er sah große herrschaftliche Kutschen und kleine Bauernkarren, und er sah Boote draußen auf dem See, alle auf dem Wege zur Kirche.
Der Junge flog über die Björkviker Kirche und über Bettna und Blacksta und Vådsbro und darauf auf Sköldinge und Floda zu. Überall hörte er die Glocken läuten. Es klang wirklich wunderschön oben in der Luft. Es war, als sei die ganze klare Luft zu Klängen und Tönen geworden.
»Eins ist wenigstens sicher,« sagte der Junge, »daß überall hier im Lande, wohin ich komme, stets Kirchen mit läutenden Glocken sein werden.« Und es überkam ihn ein Gefühl der Geborgenheit bei dem Gedanken, denn obwohl er nun in einer andern Welt lebte, war es doch, als könne er sich nicht ganz verirren, so lange die tiefen Stimmen der Kirchenglocken ihn zurückzurufen vermochten.
Sie waren eine gute Strecke über Sörmland landeinwärts geflogen, als der Junge einen dunklen Fleck gewahrte, der sich unter ihnen auf der Erde bewegte. Zuerst glaubte er, es sei ein Hund, und er hätte Wohl nicht weiter darauf geachtet, wenn er nicht bemerkt hätte, daß er sich bemühte, denselben Kurs zu halten wie sie. Er stürzte dahin über das offene Land und durch die kleinen Wälder, sprang über Gräben, setzte über Hecken und ließ sich durch nichts zurückhalten.
»Es scheint fest, als wenn Reineke Fuchs wieder sein Spiel treibt,« sagte der Junge, »aber wir werden ihm schon entkommen.«
Gleich darauf steigerten die Wildgänse ihren Flug zu der stärksten Schnelligkeit, zu der sie überhaupt imstande waren, und hielten damit an, solange der Fuchs sichtbar war. Als er sie nicht mehr sehen konnte, machten sie Kehrt und flogen in einem großen Bogen gen Westen und Süden, fast, als sei es ihre Absicht, wieder nach Ostgotland zurückzufliegen. »Es ist doch wohl Reineke gewesen!« deichte der Junge, »da Akka so abbiegt und einen anderen Weg einschlägt.«
Am Abend dieses Tages flogen