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Tägliches Befremden. Reingard DirscherlЧитать онлайн книгу.

Tägliches Befremden - Reingard Dirscherl


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drei Mal.

      «Die erste Ritzung gibt den besten Saft», höre ich mich sagen. Dann beugen wir uns über fast zwei Kilo Rohopium unter einem Glaskubus im Eingangsraum. Diese Verbeugung verdient das letzte Opiumbrot, das 1973 zu medizinischen Zwecken und ganz legal von der Türkei nach Basel gelangen konnte: Das Corpus Delicti oder der Stoff, aus dem sowohl Träume als auch Albträume sind. Wie Sie wollen.

      «Hunderte Arten von Mohn gibt es, aber nur eine mit dem ganz besonderen Saft, den die Griechen Opos nannten: Papaver somniferum», erkläre ich. Das Licht im großen Raum ist anders als sonst. Wir haben die Schwelle überschritten. Es geht los. PAPA VER SOMNIFERUM: Jetzt habe ich die Pflanze zerschnitten. Ich behalte den Kopf samt dem roten Faden von Cocteau in meinen Händen. Die Kapsel ist der Teil, der das meiste Opium enthält. Papa, ver somniferum4 ist das Stichwort, auf das sich vor der Vitrine mit den Opiumtinkturen und den Porzellangefäßen mit der Aufschrift Theriak eine Gestalt eingefunden hat. Sie erscheint in einem weißen Labormantel, wie Mikroanalytiker ihn zu tragen pflegen, und wartet. Sie ist ein Er. Er wartet auf mich. Ich erkenne meinen Vater. Sein Geist erscheint, wenn ich ihn rufe. Selbst wenn es sich dabei um ein Missverständnis handelt. Er reagiert eben auf Laute. Und da ich nach Papa eine kurze Pause eingeschaltet habe, bevor ich das Wort mit -ver somniferum zu Ende bringen konnte, ist er im ersten Stock des Museums gelandet. Genau an dem Platz, der ihm entspricht, während ich das ausgeflogene Wort Schmerzmittel von der Vitrine nehme und es mit der Kapsel und dem roten Faden deponiere. Theriaca steht auf dem Apothekergefäß aus Porzellan. Das opiumhaltige Universalheilmittel fand im 18. Jahrhundert reißenden Absatz.

      Papaver Somniferum hat eine mehrere tausend Jahre alte Entwicklung als Schmerzmittel durchgemacht. Hul Gil, Pflanze der Freude, sollen es die Sumerer genannt haben. Theriak wird es heute noch im Iran genannt. «Theriak heilt alles, aber gegen Theriak5 gibt es kein Theriak», zitiere ich ein persisches Wortspiel, das sich mit der Auswirkung von Opium beschäftigt.

      Die Anfangssilbe von Theriak führt mich weiter zu Theophrastus Bombastus von Hohenheim. Den Namen lasse ich mit Bedacht über meine Lippen gehen. Er schmeckt üppig, und er steigert die Spannung bei den Besuchern. Noch, so vermute ich, kann niemand etwas mit dem Namen anfangen. Erst als ich ihn dem Arzt Paracelsus zuordne, der aus Basel flüchten musste, sehe ich das Leuchten in den Augen. Ihm folgt ein mehrköpfiges Nicken. Von Paracelsus stammt das Zitat: Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift. «Allein die Dosis macht’s», beendet es ein Mann mit buschigen Augenbrauen, die seinen Blick verstärken. Das Kopfnicken setzt sich fort, bis ich den Faden wieder aufnehme. Leider wusste auch Paracelsus über sein Laudanum, wie er die gelobte Opiumtinktur aus Alkohol nannte, nicht, mit welcher Menge aus der heilenden Dosis eine tödliche wurde. Viele sind an Atemstillstand, verursacht durch eine Überdosis, gestorben.

      Mein Vater gibt ein Zeichen und verzieht seine Lippen zu einem Namen. «Sertürner», flüstert er mir zu. Er kann es nicht erwarten, von der mittelalterlichen Alchemie endlich zur Chemie vorzustoßen, die durch Analyse der Alkaloide Opium zu Beginn des 19. Jahrhunderts berechenbar und die in ihm enthaltenen Substanzen dosierbar gemacht hat. Seine Augen funkeln verschmitzt, als er mir ins Wort fällt, um mit der Geschichte des Apothekergehilfen aus Paderborn, ebendiesem Sertürner, zu beginnen, dem es furchtbar übel wurde, bevor ihm die Isolierung des Morphins aus dem Mohnsaft gelang. Die Besucher scharen sich um den Chemiker und wollen mehr dazu wissen. Während er mit einem Marker C17H19NO3, die chemische Formel für Morphin, dann die für Kodein und Heroin auf einem der Ausstellungsschränke notiert, stehe ich regungslos daneben und stelle mir vor, wie er das ganze Museum mit Formeln vollschmiert. Mein Mund ist trocken. Ich habe vergessen, ihn zu schließen. Ich brauche H2O – Wasser. Erst als ich unsere Aufsicht mit einem Putztuch auf die Scheibe zueilen sehe, rühre ich mich von der Stelle. Da hat sich der Chemiker im weißen Kittel schon aus dem Staub gemacht. Zurück bleiben nur Buchstaben und Zahlen auf dem Glas und ein Dunst, der sich vor dem Fenster im Gegenlicht abzeichnet. Wie kann ein Geist wissen, wie man sich in einem Museum benimmt? sage ich zu mir, um meinen Vater in Schutz zu nehmen. Manche Besucher wissen es auch nicht, und die sind keine Geister.

      Wir wissen es jetzt: Opium wird getrunken. Opium wird gegessen. Opium wird als Morphin gespritzt, und Opium wird geraucht. Wir ziehen weiter, bis wir vor den Rauchutensilien haltmachen. Neben den seltenen chinesischen Pfeifen nehme ich historische Daten auf und lasse Fakten sprechen. Ein Blick auf meine Notizen zeigt: 1842, nach dem ersten Opiumkrieg, wurde China gezwungen, Hongkong für immer an England abzutreten. Die kleine Insel sollte sich als idealer Hafen herausstellen, um ungestört einen gigantischen Markt zu erschließen. «Ein Markt, der den einen Millionen sicherte, aber Millionen andere siecher machte6», erlaube ich mir das Wortspiel um ökonomisch profitable Abhängigkeiten. 1906 zählte China 13,5 Millionen Opiumsüchtige, was einen jährlichen Absatz von 39 000 Tonnen Opium bedeutete. Die chinesische Regierung führte einen erbitterten, aber aussichtslosen Kampf gegen den schwarzen Dreck, in dem die Behörden alles, was mit Opium zu tun hatte, zerstören und verbrennen ließen.

      Die wertvollen Objekte, um die wir uns gruppieren, zählen zu den wenigen, die weltweit erhalten geblieben sind. Opium lässt erinnern, und wir erinnern uns. Ich erwähne den Sammler der schönsten Opiumpfeifen, Steven Martin, der seine Leidenschaft für das Rauchen und dessen Wirkung mit folgenden Worten beschrieben hat: Hinter entzückenden kunsthandwerklichen Erzeugnissen verbergen sich tatsächlich höchst effiziente Werkzeuge der Selbstzerstörung.7

      «Wieso so negativ?», fällt mir der Althippie mit Mandschurenzopf ins Wort. «Opium ist ein Geschenk des Himmels, ein Segen, eine Gnade», während er sich Schritt für Schritt nach links um seine Achse zu drehen beginnt. «Opium ist Gottes eigene Medizin, es hilft uns Schmerzen zu ertragen und …» Zwei seiner Begleiter aus Bayern breiten die Arme aus und tun es ihm gleich. Das Kreisen erfasst einen nach der anderen. Wie die tanzenden Derwische haben sie die rechte Handfläche zum Himmel geöffnet, die andere weist zur Erde. Der mächtige goldene Buddha aus Japan, der in der Ausstellung Platz gefunden hat, thront davor und lächelt ihnen gütig zu. Er scheint von innen her zu leuchten und sich über das ausgelassene Drehen zu freuen. «Amida Buddha, hilf», flehe ich halb zu ihm, halb zu mir gewandt, «und bringe sie vom Kosmos zurück auf den Boden!» Buddha lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, er bleibt stumm. Die rechte Handfläche in der Geste des Lehrens nach oben, die linke nach unten, auch er. Ich peile den nächsten Saal an, doch die Tanzenden haben keine Eile. Nachdem sie sich wieder geortet haben, interessiert nur noch, wie man Opium raucht und wie es wirkt.

      Opium verführt. Im Gegensatz zu Bizets Carmen, die ihr mais si je t’aime prends garde à toi hinausposaunt, um schließlich Don Josés Dolchstoß zu erliegen, schleicht es sich an und zeichnet die Wege vor, an deren Ende der Tod uns umfängt.

      «Solange du Opium rauchst, ist es ein Segen, aber wehe, wenn es dich zu rauchen beginnt», sagte mir einer, der es wissen musste. Es schält dich aus der Verantwortung für Gegenwärtiges und Zukünftiges. Die Besucher hören nicht mehr zu. Sie entgleiten mir. Sie wollen es selbst erfahren und fordern die Seele der Pflanze heraus. Möge sie sich offenbaren. Ein Drängen zur Opiumhöhle beginnt. Niemanden stört es, dass das transparente Kunststoffiglu im Zentrum nicht im Entferntesten einer solchen gleicht. Der Tanz hat auch die Vorstellungskraft befreit. Jeder bekommt eine Pfeife, bevor wir uns in und neben der Opiumhöhle aus Plexiglas niederlassen. Ich wähle die Bambuspfeife mit dem Jademundstück und wickle den roten Faden um das dunkle Rohr. Geduld, meine Damen und Herren, geschätztes Publikum, es gibt genug Opium für alle in den Ausstellungsschränken. Der Mann von den Front Services hat mittlerweile die Waffen gestreckt und Klappstühle herangeschafft, um das Beisammensein gemütlicher zu gestalten. Er hilft mir beim Anzünden der Opiumlampe und bringt uns das persische Opium samt Glas aus der Vitrine. Es ist in Rollen vorbereitet. Eine Rolle entspricht etwas über neunzehn Gramm. Noch ist es viel zu hart. Rauchen werden wir es auf die chinesische Art. Mit ausgesuchten Luxuspfeifen soll der Prozess der kulturellen Aneignung8 erfahrbar werden. Opium wird verdampft und nicht angezündet. Ich muss es ihnen noch zeigen. Bühne frei für Opium.

      «Nehmen Sie die Nadel und erwärmen Sie ein Opium­kügelchen über der Lampe, und zwar so, dass es nicht mit der Flamme in Berührung gerät», erläutere ich, während meine Hand zittert. Ziemlich umständlich, aber der Althippie hat Erfahrung, und nach einigen Versuchen blubbern die ersten Kügelchen schon auf den Pfeifenköpfen. Auch die Aufsicht kann sich


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