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Tägliches Befremden. Reingard DirscherlЧитать онлайн книгу.

Tägliches Befremden - Reingard Dirscherl


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Jetzt fühle ich mich so leicht und friedlich», sagt sie. «Vielleicht hat die Ruhe Buddhas auf dich abgefärbt», meint ihre Freundin. Die Gäste aus Bayern unterhalten sich mit der Indienreisenden. Ein Pharmamanager ergreift das Wort und spricht sich nach mehreren tiefen Zügen für den Opiumanbau an Walliser Berg­hängen aus. Leider seien die Winter dort zu kalt, meint jemand, der sich auskennt. Die Gespräche plätschern sonor dahin. Während die Zungen träger werden, wird der Gehörsinn geschärft. Selbst das Echo im Innern ist lauter geworden. Nein, Opium erzeugt keine Visionen, es ist kein Halluzinogen. Der Rausch verstärkt nur, was bereits in einem schlummert. Gib

      einem Ochsentreiber Opium, und er wird wahrscheinlich von Ochsen träumen, meinte Thomas de Quincy. Wie spät ist es eigentlich? Die Uhr zeigt mir, dass fast drei Stunden vergangen sind. Doch weiß ich nicht mehr, was drei Stunden bedeuten. Wir haben das Zeitgefühl verloren. Der Applaus, bevor wir uns verabschieden, gehört allen, nicht zuletzt – aber das wissen Sie ja schon!

      Meine letzte Führung ist vorbei. Opium ist zu Ende. Die Ausstellung wird abgebaut. Wo Opium war und mich zur Entdeckerin seiner vielseitigen Aspekte werden ließ, ist tohu wa bohu, wüst und leer. Entzogen ist mir die Quelle meiner Inspiration. Ich suche sie überall, doch wohin ich mich auch wende, sie ist versiegt. Ich finde nur ein Loch, so rund und leer wie O für Opium. Sein schonungsloser Sog zieht mich hinein. Hier muss ich durch. Es gibt keinen Ausweg. Die magnetische Höhle beginnt sich nach hinten zu verlängern. Der Tunnel wird auch mich verschlingen. Verkehrslärm pulsiert durch die Röhre. Ein transversales Dröhnen schraubt sich durch mein Gehirn. Ich schlafe nicht mehr. Ich brauche diese Substanz, die mich zum Fließen brachte.

      Das Mondlicht schiebt sich durch die Luken meines Dachfensters. Schicht um Schicht. Opium treibt mich um. Ich muss es zu Papier bringen. Ich schreibe. Meine Feder kratzt trocken über das Papier. Dann fließt aus ihr der Saft. Er dunkelt nach. Mein Geist wird klar. Die Erzählung kann beginnen. Ich werde sie Mein Opium nennen.

      Die Deutschlehrerin

      Der Mann in der Lederjacke streckte mir die Hand entgegen. Seine Augen schauten an meinen vorbei. Er vermied es, mich anzusehen. Das verlieh ihm einen leichten Silberblick und mir das Gefühl, dass er etwas zu verbergen hatte. An seiner Jacke, schwarz mit breitem, über den Hüften zugeknöpftem Bund und dem vorschnellen Händedruck war er leicht auszumachen als einer, der nicht von hier stammte. Der gesenkte Blick verriet mir, woher er gekommen war. Gleich einer Kompassnadel wies er Richtung Osten. Wie er mir die Hand hinstreckte, offensiv und nicht abwartend, zeigte, dass er mitbekommen hatte, dass die Menschen hier einander die Hände zum Gruß reichten. Die Feinabstimmung des Wer, Wem, Wann und Wo beherrschte er indes noch nicht. «Yeni geldi», er ist neu gekommen, nannten alteingesessene Türken, die schon mehr begriffen hatten, solche Neuankömmlinge. Doch er war kein Türke. Er stammte aus dem südlichen Nachbarland. Er hieß Jessy oder Hossy. Jedenfalls nannte er sich so. Ich kann mich nicht mehr an seinen Familiennamen erinnern, aber der sollte auch bald nicht mehr von Bedeutung sein.

      Jessy oder Hossy sprach in gebrochenem Englisch über Ungerechtigkeit und Ausbeutung der Menschen auf der Welt. Die Lehrerinnen, die ihm in Deutschkursen die Sprache beibrachten und so manches mehr, was er zum Leben in der Fremde brauchte, stimmten ihm zu. Er war auf der richtigen Seite. «Und so intelligent!», befanden sie einmütig. Mit ihm würde man sogar einfache Gedichte lesen können. Brecht zum Beispiel, schließlich gehörte der zur deutschsprachigen Kultur. «Am Grunde der Moldau wandern die Steine. Es liegen drei Kaiser …», oder waren es zwei?

      Warum er gekommen war, wussten die Lehrerinnen nicht, aber, was sie über das Regime seiner Heimat wussten, war Grund genug. Es gab ihm das Recht zu gehen und hier zu bleiben. Ein Diktator in grüner Uniform herrschte nämlich an der Spitze jenes Landes. Irgendwann, als der Westen ihn nicht mehr brauchte, war der Mann auf dem weißen Pferd in Un­gnade gefallen und sein Name zum Reizwort geworden, was die militärische Besetzung des Landes nach sich zog. Jahre davor hatte der Staatsmann sich als Idol feiern lassen wie das Vorbild seiner Jugend, das denselben Schnurrbart getragen hatte. Es ist übrigens etwas Eigenartiges mit dem männlichen Gesichtshaar, das oft – über den ästhetischen Aspekt hinaus – durch Form und Schnitt auf die Gesinnung seines Trägers verweist. Jessy oder Hossy trug keine Gesinnung im Gesicht. Er war glattrasiert.

      «Das Große bleibt groß nicht, und klein nicht das Kleine.»

      Jessy oder Hossy machte überdurchschnittliche Fortschritte, was allerdings nicht schwer war, weil die durchschnittlichen Lernerfolge derer, die mit ihm die Sprachschule besuchten, weit unter dem Normalmaß lagen. Die Lehrerinnen waren hin und weg vom Englisch sprechenden Elektroingenieur. Jedenfalls hatte er diese Berufsbezeichnung in den Personalbogen eingetragen. Ob er gut aussah? Ein wenig exotisch eben, mit honigfarbenem Teint. Er lernte schnell. Noch schneller lernte er, wie er ältere unabhängige Frauen (oder solche, die sich für selbstbestimmt hielten) um den Finger wickeln konnte.

      Wenn er daran dachte, wie das damals mit Merijem war. Was war das für ein rituelles Zieren gewesen, bis er seine Braut endlich so weit hatte, dass sie ihm ihre Lippen anbot. Das ewige Hin und Her zwischen seinen und ihren Eltern, obwohl sich beide Familien gut kannten, sogar entfernt verwandt waren. Die Heirat hatte seine Familie in Schulden gestürzt. Ach, Merijem, diese zarte Haut! Dieser nur von ihm berührte Mund! Sie war bei der Hochzeit fast noch ein Kind gewesen. Wie schnell sie errötete, wenn er ihr ins Ohr flüsterte. Merijem … so hieß sie – aber ihr Gesicht? Wo nur war ihr Gesicht geblieben? Es drohte mehr und mehr zu verblassen wie eine Farbfotografie aus der Kindheit.

      Erschöpft warf er sich auf sein Bett, zu müde, die Turnschuhe auszuziehen. Er legte die Füße über die Lehne. Der Rücken schmerzte. In der dampfenden Küche eines Landgasthofs hatte er einen Job gefunden. Die Mahlzeit wurde vom Lohn abgezogen. So schöpfte er sich jedes Mal zwei Teller übervoll und schlang die Portionen eilig herunter, selbst wenn er keinen Hunger hatte. «Wenn sie mich schon wie einen Sklaven schuften lassen», sagte er sich. Ausgleich muss sein.

      Jessy oder Hossy achtete darauf, dass er nicht zu kurz kam. Er begann mit allem und mit jedem Geschäfte zu machen. Als guter Integrant wollte er nicht von der Sozialhilfe abhängig werden, er wollte sich in der Fremde eine Existenz aufbauen. Nein, nicht um Merijem hierherzuholen. Zumindest vorläufig nicht. Das würde ihr nur schaden, und ihm würde es auch nichts nützen. Eine vor dem Imam vollzogene Ehe hatte in der Schweiz ohnehin keine Gültigkeit, was zwar nicht sein Gewissen erleichterte, aber sonst doch einiges.

      Er hatte nämlich eine Frau kennengelernt. Unnötig zu erwähnen, dass sie etliche Jahre älter war als er, was ihn nicht störte. Die Dinge nicht so eng zu sehen, verschaffte einem einen größeren Spielraum. War er nicht auch gegangen, um sich von den gesellschaftlichen Zwängen seiner Vergangenheit zu lösen? Dass die Frau eine Tochter hatte, schien ihm normal, denn schließlich war sie schon einmal verheiratet gewesen. Ihr Ex, wie sie ihn nannte, hieß Pfamatter, und sie hatte nach der Scheidung seinen Namen behalten. Jessy oder Hossy würde ihr nichts von Merijem erzählen.

      Er fingerte am Doppelknoten der Schnürsenkel und ärgerte sich wie immer darüber, dass er beim Öffnen so viel Zeit verlor. Endlich streifte er die Schuhe von den heiß gewordenen Füßen. Seine Gedanken kreisten um die Frau. Er würde sie umgarnen mit Geschichten, die von seiner Großmutter stammen könnten. Die Liebe zu den Geschichten war mit dem Blut der Alten an ihn weitergegeben worden, behauptete er, und im Märchenerzählen konnte ihm keiner das Wasser reichen. Dass er aus Bagdad kam und die Wüste nur vom Hörensagen kannte, würde ihn nicht hindern, die Sterne am nachtblauen Firmament zum Funkeln zu bringen. Und die Sterne schienen zum Greifen nah! «Pifa, Pifa, Pifamatter», wiederholte er den Namen wie ein Mantra, bis daraus endlich das gewünschte Pfamatter wurde.

      «Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag …»

      Er wollte seine Bekannte zum Kaffee einladen. Das machten seine Kollegen auch so. Frau Pfamatter kam ihm zuvor. Sie lud ihn zum Kaffee ein! Irritiert steckte er die Zehnernote, die er aus dem hinteren Hosensack, wo er die Scheine immer lose aufbewahrte, hervorgewurstelt hatte, wieder zurück. Die Frau himmelte ihn an, den Elektroingenieur mit den schwarzen, kurzgeschorenen Haaren und den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht. Sie überlegte


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