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Das Medaillon. Gina MayerЧитать онлайн книгу.

Das Medaillon - Gina Mayer


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sich neben den Apotheker gesetzt hatte, nachdem sie den Korb mit der zerschlissenen Wäsche hinter dem Sofa hervorgeholt hatte.

      »Interessieren Sie sich für die Erdgeschichte?«, fragte Fuhlrott. Seine Stimme klang mit einem Mal streng. Schulmeisterlich, dachte Rosalie und bemerkte, dass sich Minter neben ihr unwillkürlich ein Stück aufrichtete.

      »Sicher«, sagte er und fuhr dann schnell mit der Unterlippe über die Oberlippe, als wollte er einen unsichtbaren Bierrest weglecken. »Ich habe mich ein wenig damit beschäftigt, gleichwohl sind meine Kenntnisse mangelhaft ...«

      »Da geht es Ihnen nicht viel anders als uns«, unterbrach ihn Fuhlrott, »und dem Rest der Wissenschaft. Alles, was weiter als die 1 850 Jahre zurückliegt, die unsere lächerliche Zeitrechnung umfasst, verschwimmt in einem Nebel des Unwissens, und je weiter man sich zurückbewegt, umso dichter wird er. Hier und da stoßen wir auf ein paar Knochenreste, den Abdruck von Weichtieren und Pflanzen im Gestein und ziehen daraus unsere Schlüsse auf Gottes Schöpfung.«

      »Gerade deshalb ist es beachtlich, welche umfassende Erkenntnis die Forscher aus dem Wenigen gewinnen«, sagte Minter. »Ich habe in Nürnberg die Rekonstruktion eines Mammutschädels aus der Vorzeit gesehen, er wirkte so ganz und gar lebendig, erschreckend wirklich.«

      »Ja, es waren furchterregende Geschöpfe, die damals die hiesigen Wälder bewohnten, ob Mammut oder Höhlenbär oder Auerochse, riesig in ihren Ausmaßen und unvorstellbar in ihrer Kraft«, pflichtete Kuhn ihm bei.

      »Und dennoch haben sie ihren Platz auf der Erde geräumt für Nachfolger, die weit kleiner, weit schwächer sind«, meinte Fuhlrott. »Der Braunbär ist ein Zwerg im Vergleich zu seinem Vorfahr, der Elefant in seiner Größe ein Winzling neben dem Mammut ...«

      »... ganz zu schweigen von den braven Ochsen, die uns heutzutage die Pflüge über die Felder ziehen«, fiel Kuhn ihm ins Wort.

      Rosalie schob ihre Stopfnadel durch die Fäden, die sie quer über das Loch im Strumpf gespannt hatte, einmal darüber, einmal darunter.

      »Wie kommt das?«, fragte Minter neben ihr und sprach damit aus, was sie soeben gedacht hatte. »Warum werden die Wesen kleiner und schwächer?«

      »Man vermutet, dass die urzeitlichen Arten durch immer wiederkehrende Naturkatastrophen ausgerottet worden sind, durch Erdbeben, Vulkanausbrüche, Fluten, wie in der Bibel beschrieben«, sagte Fuhlrott.

      »Und dann haben sich neue Arten gebildet? Sozusagen aus dem Nichts?«, fragte Minter. Rosalie warf ihm einen Blick zu. Er wirkte jetzt nicht mehr verunsichert, sein Oberkörper war leicht nach vorn gebeugt und seine Augen schmal vor Neugierde.

      »Das ist meine Meinung«, nickte Fuhlrott. »Alte Arten wurden vernichtet, neue Arten von Gott geschaffen.«

      Minter ließ seinen Oberkörper wieder gegen die Sofalehne sinken und stieß dabei Luft durch die Nase.

      »Sind Sie anderer Ansicht?«, fragte ihn Fuhlrott sofort.

      Der Apotheker zuckte mit den Schultern. »Ich finde jene Theorie überzeugender, die besagt, dass sich alle Lebewesen, die Tiere, aber auch die Pflanzen, mit den Jahrtausenden stetig verändert haben. Sie sind gewachsen, geschrumpft, wie es die Umstände, die Lebensverhältnisse erfordert haben.«

      »Aber was sollte sie dazu gebracht haben, sich zu verändern?«, mischte Kuhn sich nun wieder ein.

      Minter lächelte. »Nehmen wir einmal an, Sie schließen morgen Ihre Praxis zu und gehen in den Wald und werden Holzfäller.«

      »Das wäre ein mühseliges Brot«, erwiderte der Arzt.

      »Richtig. Weshalb?«

      »Ich bin die körperliche Anstrengung nicht gewohnt.«

      »Was also würde geschehen?«

      Kuhn zuckte mit den Achseln. »Worauf wollen Sie hinaus? Ich würde schnell ermüden und früher oder später elendig verhungern ...«

      «... oder aber Sie gewöhnen sich an die Arbeit, Sie werden mit einem jeden Tag stärker und kräftiger und bilden Muskeln aus. Sie verändern sich.«

      »Aber Auerochse, Mammut und Bär sind nicht größer geworden, sondern kleiner.«

      »Vielleicht wurde die Nahrung knapper und sie sind nach und nach zusammengemagert. Was immer es war, die veränderten Lebensumstände haben sie dazu gebracht, sich zu entwickeln.«

      »Und diese Veränderung wird weitergegeben von einer Generation zur anderen?«, fragte Kuhn skeptisch. »Zeugt ein Holzfäller automatisch auch einen kraftstrotzenden Sohn?«

      Fuhlrott zog seine Pfeife und einen Tabakbeutel heraus und begann sie langsam zu stopfen, der Apotheker holte eine flache Blechdose aus der Tasche, klappte sie auf und nahm eine Zigarette heraus. Rosalie vernähte ihren Faden und biss ihn ab.

      »Chevalier de Lamarck sagt, dass Fähigkeiten und Kenntnisse von den Eltern an die Kinder weitergegeben werden, so beide Elternteile darüber verfügen«, sagte Minter, während er sich die Zigarette zwischen die Lippen klemmte.

      Kuhn zuckte mit den Schultern, er schien nicht überzeugt.

      »Aber wann ist dieser Prozess der Veränderung Ihrer Meinung nach abgeschlossen?«, fragte Fuhlrott, wobei er mit einem Mundwinkel lächelte, während der andere nach unten wies. »Wann haben die Arten und Rassen, die Pflanzen und Tiere und auch wir Menschen ihre vollkommene Form erreicht?«

      »Nie«, sagte Minter. Er zog an seiner Zigarette und stieß dann weißen Rauch aus, durch den Mund und durch die Nasenlöcher. »Dieser Prozess ist niemals abgeschlossen. Alles geht immer weiter.«

      Jeden Morgen um neun sah Rosalie ihre Freundin Dorothea Leder. Sie trafen sich an der Pumpe am Königsplatz, der genau in der Mitte zwischen ihren Häusern lag. Dann hatten sie zehn Minuten Zeit zum Reden, manchmal auch eine Viertelstunde, nicht viel, aber besser als gar nichts. Heute wartete Dorothea schon, als Rosalie von der Laurentiusstraße in die Gasse einbog, die große Kanne und den Zinkeimer unter dem Arm. Dorothea war wie Rosalie neunzehn Jahre alt, aber mit ihrem runden Kindergesicht, den roten Wangen und dem langen Haar, das sie immer zu einem Zopf geflochten trug, wirkte sie viel jünger.

      »Kommst du endlich«, rief sie, als Rosalie sie erreicht hatte und klang dabei etwas atemlos, obwohl sie gewartet hatte. »Ich muss gleich los, Hermann hat das Fieber und ich kann ihn nicht lange allein lassen, aber etwas muss ich dir doch erzählen!«

      »Was gibt es denn?« Rosalie stellte ihre Gefäße neben die vollen Eimer der Freundin. Dorothea sah sie an, dann senkte sie plötzlich den Blick, als schämte sie sich.

      »Was ist es?«, fragte Rosalie, deren Herz auf einmal schneller schlug.

      »Herr Kirschbaum hat mich gestern gefragt«, begann Dorothea und Rosalies Herz beruhigte sich wieder. Herr Kirschbaum. Wenn es um Herrn Kirschbaum ging, handelte es sich bestimmt um nichts Aufregendes.

      Aber Dorothea schaute sich nervös um. Ein paar Schritte entfernt, an der Pumpe, standen zwei Frauen, die sie aber nicht beachteten. »Er hat mich gefragt, ob ich für ihn arbeiten will«, beendete sie dann den Satz mit gedämpfter Stimme.

      »In der Bücherei?« Herrn Kirschbaum gehörte die Leihbibliothek auf der Alten Freiheit, hinter der Reformierten Kirche, und Dorothea war seine beste Kundin. Beinahe täglich ging sie hin und lieh sich Bücher aus, die neuesten Romane, wissenschaftliche Werke und Gedichtbände, Dramen, Sagen und Klassisches. Sie las, wann immer sie ein wenig Zeit dafür fand, während die Kartoffeln auf dem Herd kochten, während das Plätteisen aufheizte, während ihr jüngster Bruder auf dem Topf saß, sie las nachts, beim Schein der Öllampe.

      »Was sollst du denn für ihn tun?«

      »Ich soll ihm zur Hand gehen, bei allem, was anfällt. Ich würde ein paar Groschen verdienen und die Ausleihgebühr würde er mir ebenfalls erlassen ...«

      «... allein dadurch würdest du ein Vermögen sparen! Aber meinst du, dass deine Leute ...?«

      »Bist du von Sinnen?« Das Leuchten verschwand aus Dorotheas


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