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Das Medaillon. Gina MayerЧитать онлайн книгу.

Das Medaillon - Gina Mayer


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der Niederländisch-reformierten Gemeinde an, die sich vor neun Jahren unter der Leitung von Pastor Kohlbrügge von der offiziellen reformierten Kirche abgespalten hatte. Oben in der Deweerthstraße hatten sie ihre eigene Kirche und ein Pastorat gebaut, dorthin pilgerte die Familie nun jeden Sonntag, jeden Feiertag und oft auch unter der Woche.

      Für die Leders waren Gott und seine Gebote die Mauern, die ihrem Leben Halt gaben und ihrem Denken eine Grenze setzten. Rosalie, die daran gewöhnt war, dass man immer alles anzweifelte und überprüfte – Fragen sind dazu da, sie zu stellen, sagte ihr Vater immer – fand Dorotheas Familie in ihrer bedingungslosen Religiosität befremdlich und faszinierend zugleich.

      Gott war der Maßstab, nach dem sich in der siebenköpfigen Familie alles richtete, und Gott, darin waren sich Dorotheas Eltern mit dem Rest der Gemeinde einig, hielt nichts vom Bücherlesen, sofern es sich nicht um die Heilige Schrift handelte. Natürlich kannten sie die Leidenschaft ihrer Tochter, ihre schändliche Schwäche, wie sie es nannten, und versuchten sie auszumerzen, einzudämmen, abzuwehren, wo immer es ging. Ihr Vater drohte und ihre Mutter beschwor sie und Dorothea versprach Besserung, aber nachts, wenn alle schliefen, setzte sie sich auf die Stufen vor dem Haus und las im Schein der Gaslaterne weiter.

      Rosalie zuckte mit den Schultern. »Dabei passt eins wunderbar ins andere. Mit dem Geld, das du verdienst, könntet ihr ein Dienstmädchen bezahlen, damit wäre allen geholfen.«

      Dorothea starrte auf ihre ausgetretenen Schuhe, die unter dem verblichenen Rock zum Vorschein kamen. »Es ist ganz und gar hoffnungslos«, sagte sie düster. »Und dann ausgerechnet bei Herrn Kirschbaum.«

      Rosalie wusste, was sie damit meinte, jeder in Elberfeld hätte sie verstanden. Herr Kirschbaum war ein kleiner Mann, rundlich und um die vierzig, ein Jude, aber das war nicht einmal das Schlimmste. Er war einfach seltsam, ohne Frau und Kinder hauste er in ein paar Kammern hinter der Leihbibliothek. Man sah ihn selten auf der Straße, und wenn er seinen Laden einmal verließ, dann ging er schnell und mit gesenktem Kopf, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Er murmelte vor sich hin, ganz egal ob Leute im Laden waren oder nicht. »Kirschbaum«, murmelte er. Er redete sich selbst mit seinem Nachnamen an, auch das war seltsam. »Kirschbaum, die neue Lieferung muss noch aufgeschnitten werden, dass du es nicht wieder vergisst.«

      Dorothea hatte Recht, es war undenkbar, dass ihre Eltern sie für diesen Mann arbeiten ließen, auch wenn er mit Kartoffeln oder Eiern gehandelt hätte anstelle von Romanen, hätten sie niemals eingewilligt.

      Rosalie sah ihre Freundin an, sah ihr rundes, trauriges Gesicht und hätte sie so gerne getröstet, aber ihr fiel beim besten Willen nichts Aufmunterndes ein und nichts, was sie ihr hätte raten können. Plötzlich kam ihr die Apotheke wieder in den Sinn, die braungelben Gläser in Reih und Glied, die immer so ausgesehen hatten, als warteten sie auf sie. Aber jetzt gab es einen neuen Apotheker und außerdem war es ohnehin ein dummer, aussichtsloser Traum gewesen. Bei Dorothea ist es die Bibliothek und bei mir die Apotheke, dachte sie, und eines ist so sinnlos wie das andere.

      »Ich muss los«, sagte Dorothea. Sie hob ihre beiden randvollen Eimer an und stellte sie in ihren Leiterwagen. Dabei schwappte ein Teil des Wassers über den Rand und färbte die Pflastersteine dunkel. »Wir sehen uns morgen.«

      Am Mittwochabend kam Fuhlrott zu Besuch, obwohl er gewöhnlich nur donnerstags oder montags kam. Er trug einen zerschlissenen braunen Lederkoffer an Rosalie vorbei durch die Diele und legte ihn so behutsam auf den Esstisch, als wäre er zerbrechlich.

      Rosalie und ihr Vater sahen ihm dabei zu, wie er den Deckel aufklappte. Der Koffer war mit einem Leintuch ausgelegt, auf dem vergilbten Stoff lagen bräunliche Gebeine. Lange kräftige Knochen mit dicken Wülsten an den Enden, ein größeres, scharfkantiges Fragment, der obere Teil eines Schädels, ein paar kleinere Knochenstücke.

      »Keine Bärenknochen«, stellte Kuhn sofort fest, während er sich über die Skelettteile beugte und Rosalie dabei ein Stück zur Seite drängte, ohne es zu bemerken. Er nahm vorsichtig den größten Knochen aus dem Koffer und führte ihn so dicht an sein Gesicht heran, als wollte er an ihm riechen. »Ein Oberschenkelknochen, ganz ohne Zweifel«, murmelte er. »Menschlich. Aber gleichwohl eigentümlich. Was für eine Knochenstärke. Und diese Krümmung.«

      Er sah Fuhlrott an und dieser nickte und zuckte gleich darauf mit der linken Schulter. Kuhn wandte sich dem Schädelteil zu. »Auch die Schädelform ist äußerst ungewöhnlich. Zu flach für einen menschlichen Kopf und diese Knochenwülste über den Augen scheinen fremd ...« Er drehte die Kalotte, so dass die auffallenden Augenbrauenwülste Rosalie bedrohlich anstarrten.

      »Also doch ein Tierschädel?«, fragte Fuhlrott.

      »Von welcher Tierart sollte er stammen?«, fragte Kuhn zurück. »Für eine Hyäne oder einen Wolf sind die Gebeine zu massiv. Nein, diese Skelettteile sind die eines Menschen, daran ist kein Zweifel. Sind das die Knochen, die Ihnen Pieper hat zukommen lassen?«

      Fuhlrott nickte wieder. »Ich war gestern im Neandertal. Kalkarbeiter, die eine neue Höhle, die so genannte Feldhofer Grotte, für den Abbau vorbereiten sollen, haben die Skelettteile in der Lehmschicht gefunden. Die Knochen waren schon im Abraum vor der Höhle gelandet, glücklicherweise wurden sie im letzten Moment noch sichergestellt.«

      Er setzte den Koffer mit den Skelettresten auf den Boden, dann begann er die Teile in anatomisch korrekter Anordnung auf den Tisch zu legen. Er fing unten an, mit den mächtigen Oberschenkelknochen, die ein Stück weit über den Tisch hinausragten, darüber legte er einen Teil des Beckenknochens. Dann links und rechts die Arme – der rechte Oberarmknochen mit Speiche und Elle, der linke Oberarmknochen nur mit der Elle, dazwischen schwammen fünf linke Rippen. Das rechte Schlüsselbein schloss den seltsamen Torso nach oben hin ab, darüber schwebte die Schädelkalotte, und weil sie flach auf den Tisch gelegt war, sah es aus, als ob das Skelett den Kopf gesenkt hielt, beschämt über seine eigene Unvollständigkeit.

      Eine Weile starrten sie alle schweigend darauf, als erwarteten sie, dass sich die einzelnen Teile wie durch Zauberhand zusammenfügten und zum Leben erwachten.

      Was sind das für Knochen, dachte Rosalie und Fuhlrott antwortete ihr, obwohl sie die Frage gar nicht laut ausgesprochen hatte.

      »Ich glaube, diese Gebeine sind sehr alt«, sagte Fuhlrott. Seine Stimme, die sonst eher spöttisch klang, hatte mit einem Mal etwas sehr Ernstes und Ehrfurchtsvolles. »Ich habe den ganzen Tag darauf verwandt, sie zu untersuchen, und ich bin überzeugt davon, dass sie ...«, er atmete tief ein und dann wieder aus und plötzlich schien er unsicher. Seine Augen wanderten von den Skelettteilen zu Kuhn und wieder zurück. »Sie sind sehr alt«, wiederholte er.

      »Wie alt«, fragte Kuhn leise. »Was meinen Sie?«

      Jetzt blickten sie beide Fuhlrott an und Rosalie sah, dass kleine Schweißperlen auf seiner Stirn standen.

      »Fossil«, sagte er.

      »Das wäre in der Tat ...«, begann Kuhn und dann verstummte auch er wieder.

      »Der Lehm, in dem die Gebeine gelegen haben, ist alles entscheidend für die Altersbestimmung«, sagte Fuhlrott schließlich und deutete auf die bräunlichen, trockenen Erdreste, die in den Vertiefungen der Knochen und an den Kanten der Gelenke hingen. »Man muss diese Lehmreste mit den Resten an dem Bärenzahn vergleichen, den ich vor einigen Monaten erhalten habe. Wenn die Sedimente miteinander übereinstimmen, wenn eine Probe zur anderen passt, dann können wir davon ausgehen, dass beide Individuen, Mensch und Höhlenbär, zur gleichen Zeit existiert haben.«

      »Das bedeutet, dass es menschliche Individuen in der Diluvialperiode gegeben hat. Aber Cuvier behauptet das Gegenteil«, meinte Kuhn.

      Die Diluvialperiode, das wusste Rosalie, war die Zeit der Sintflut, und die Wissenschaftler gingen davon aus, dass es vor und während dieser Zeit noch kein menschliches Leben gegeben hatte – wobei sie sich immer fragte, was es dann mit Adam und Eva, Kain und Abel und all den anderen Personen auf sich hatte, von denen die Bibel berichtete und die doch eindeutig vor der Sintflut gelebt hatten. Vielleicht war die Anzahl der Menschen so gering gewesen, dass sie im fossilen Sinne nicht zählten. Oder vielleicht waren die Wissenschaftler der Ansicht, ohne dass sie es offen aussprachen, dass auch die biblischen


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