Schlafes Bruder. Robert SchneiderЧитать онлайн книгу.
Zähne hatte es allesamt verloren. Der Makel währte aber nicht lang, denn bald zahnte der Mund, und die Zweiten wuchsen dem Kind überfrüh. Neben dem gespenstischen Gelb der Pupillen zeigten sich weitere, nicht minder gespenstische Veränderungen.
Die gläserne Stimme hatte mutiert. Sie war angeschwollen, hatte an Umfang und Volumen gleichermaßen zugenommen. Das Organ des Kindes hatte sich zu einer volltönigen Baßstimme entwickelt. Diese merkwürdige Stimme erregte im Dorf ein so breites Aufsehen, daß die Eltern vor lauter Scham beschlossen, den Elias im Gaden einzusperren und ihn hinkünftig zu halten wie einen Fallsüchtigen. Eine andere Veränderung zeigte sich darin, daß ihm an den Schläfen, auf der Oberlippe, am Kinn, in den Achselgruben und auf dem Geschlecht ein dünner Haarflaum gewachsen war. Der Körper des Elias Alder hatte pubertiert.
Unerklärlich bleibt ferner, wie das Kind überhaupt noch heimgefunden hat. Die Haintzin, die an diesem Dezembernachmittag auf ein Schwätzchen in das Haus des Alder Seff gekommen war, sah es zuerst. In der Küche dampfte es vom Grieß, den die Seffin zum Nachtmahl vorkochte. Sie stand beim Herd und störte mit der Kelle den Brei. Ja, auf diesem Buben liege Gottes Fluch, das leuchte ihr von Tag zu Tag klarer. Die Haintzin nickte den klotzigen Kopf und wischte gelangweilt mit ihrer gichtigen Hand den Beschlag von der Fensterscheibe. Zwar habe sie, fuhr die Seffin fort, etwas Unbestimmtes geahnt, als sie das Kind ausgetragen, habe jedoch gemeint, es seien nur Hirngespinste.
Plötzlich schrie die Haintzin kehlig auf: »Mein Gott und mein Herr! Der nackige Bub, der nackige Bub liegt draußen im Schnee!«
Die Pfanne schepperte zu Boden, die Tür riß auf, ein Holzschlapfen blieb auf der Schwelle liegen. Die Seffin stolperte über den Schnee hinunter und barg ihr Kind mit entsetzten Armen, drückte es so fest an ihren Körper, daß es kaum mehr zu Atem kam. Sie trug es in die Küche zurück, legte es auf den blanken Holztisch, es dort anzukleiden. Als die beiden Weiber den Elias so daliegen sahen, stieg ihnen die Schamesröte ins Angesicht, denn sie gewahrten, daß sein Gliedchen angeschwollen war. Erschrocken stürzte die Seffin nach dem Waschzuber, zog eine Windel hervor, wandte den Buben eiligst ab vom glasigen Blick der Haintzin, wollte ihn wickeln, aber drückte ihm das Geschlecht so fest vom Bauch weg, daß Elias irr vor Schmerzen aufheulte.
»Mein Gott und mein Herr! Was ist das für eine Stimm’! Wie das Röhren eines Hirsches!« bekreuzigte sich die Haintzin und hub sich entgeistert davon.
Freilich, sie verließ den Hof nicht ohne das hochheilige Versprechen, keinem ein Sterbenswörtchen von dem Vorfall zu erzählen, weshalb denn auch am Sonntag jedermann neugierig auf die Alderschen Eheleute schielte. Einige Weiber mochten in Gedanken fast hoffärtig werden, hatten sie ihren Gatten ja nur ein Mongoloides geboren und nicht einen Teufel mit Augen gelb wie Kuhseiche.
Ein anderes Weib aber, die Nulfin, die im fünften Monat schwanger ging, legte ihr Gebetbüchlein auf den Bauch und tat ein Gelübde. Wenn es ein an Leib und Seele Gesundes würde, schwur sie der Muttergottes, wolle sie an ihrem Altar monatlich einen Blumenstrauß aufstellen, solange sie, Virgina Alder, lebe.
Die Seffin hat sich später bittere Vorwürfe gemacht, hat sich laut vor ihrem Mann angeklagt, wie es nur geschehen konnte, daß ihr die unzüchtige Gebärde am Körper des Buben nicht schon im Schnee aufgefallen war. So hätte niemand davon erfahren, und das Haar und die Zähne seien ihm ja schnell nachgekommen. Aber es nützte nichts. Elias wurde zum vielbetuschelten Rätsel von Eschberg.
In den ersten Nächten schliefen Seff und sein Weib nicht im Elterngaden, sondern in der Tenne, droben auf dem Heustock. Den Fritz betteten sie zwischen sich. In dieser Zeit lag die Seffin wach bis in den frühen Morgen, und ihre Gedanken scharten sich immer beengender um das vermeintlich besessene Kind. Als sie ihrem Seff riet, es möchte durchaus eine Pfette vom morschen Dachgebälk zufällig auf den Jungen niederstürzen, oder das Kind könnte unglücklicherweise in der Emmer ertrinken, oder eine läufige Kuh möchte es zu Tode hornen, da schlug Seff ihr die Faust so gewaltig ins gottverreckte Maul, daß die Kinnlade auskegelte. Von da an wurde zwangsläufig nichts mehr über den Jungen geredet, und als die Seffin wieder sprechen konnte, hatte sie den Mut am Leben verloren. Doch sie gab die Hoffnung auf eine Besserung der Zustände nicht auf, wovon im kommenden Kapitel zu erzählen ist.
Die Gadenzeit
Nachdem Gott den Elias auf so wunder- wie grausame Weise hörend gemacht hatte, wurde es in dem Jungen still. Allein um den Jungen wurde es nicht still. Darum versteckten die Alderschen Eheleute ihn ängstlich vor dem Zugriff der Öffentlichkeit, kerkerten ihn unter Maulschellen, Ohrfeigen und Stockhieben in seinen Gaden, den er ungefragt nicht mehr verlassen durfte.
In den sonst stillen Hof des Seff Alder kam Leben. Alle nur erdenklichen Verwandten – das waren nahezu alle Eschberger – befanden auf einmal, es sei endlich wieder an der Zeit, die Lieben im Weiler Hof zu besuchen. So kamen sie unter den hinterfotzigsten Vorwänden ins Haus, zeigten gespieltes Interesse am Gedeih des Viehs, lobten eindringlich den sauberen Stall und daß keine Kuh auf ihrer Klatter liegen müsse, schnupperten angetan an dem so auffallend trockenen Heu, tranken übermäßig vom aufgetischten Most, priesen laut die so ungewöhnlich saubere Küche der Seffin und frugen endlich allesamt nach dem Befinden des lieben und ach so bedauernswerten Kindleins. So hofften sie, den Kretin zu Gesicht zu bekommen, aber Seff und sein Weib antworteten monoton: »Der Gob ist marod, hat Fleckenfieber.«
Späteren Besuchern fiel auf, daß der würzige Most nicht mehr aufgetischt wurde, und daß der Bub jetzt schon über das gewohnte Maß hinaus im Scharlach liege. Als gar Nulf Alder, der Todfeind, die Hausschwelle betrat, riß dem armen Seff der Geduldsfaden. Er packte den Bruder bei den Schultern und stopfte ihn in ein Schneeloch. Niemand bekam den Jungen zu Gesicht.
Das bewog eine Handvoll Eschberger Kinder – aufgewühlt durch die geheimnisvollen Mutmaßungen der Alten – nach der Christenlehre einmal zum verwunschenen Hof zu schleichen. Das Fenster des Bubengadens hatte man schon früher ausfindig gemacht. Dorthin zogen sie nun und verhöhnten den Elias ob seiner Augen, gelb wie Kuhseiche. Er solle sich doch am Fenster zeigen und ihnen das Kunststück seiner Stimme vorführen. Elias hatte ihr Kreischen schon vernommen, als sie vom Kurateihaus herüber tänzelten. Er zog den Laubsack ins Gesicht, wollte schweigend warten, bis daß der Spuk vorüber wäre. So sehr er die Hände gegen die Ohren stemmte, es half nicht. Als die Beschimpfungen nicht enden wollten und eines ihn laut Gelbteufel schalt, hielt es ihn nicht mehr. Er sprang ans Fenster, riß es auf und stieß einen derart brüllenden Schrei hinab auf die Köpfe, daß auf der Stelle alles in heulender Angst davonstob. Noch tagelang flennten die Kinder davon, daß ihnen der Gelbseich wahrhaftig erschienen sei.
Ein Kind jedoch blieb ruhig unterm Fenster stehen. Es hieß Peter Elias und war der Sohn des Nulf Alder. Wir sind ihm schon begegnet, denn es wurde mit unserem Elias getauft. Peter stand und rührte sich nicht mehr von der Stelle. Nicht, weil er unter Schock stand, keineswegs. Peter blieb aus einer plötzlich erwachten kalten Faszination an dem so Andersgearteten. Und er hörte, wie der da oben in ein lautes Weinen ausbrach. So herzzerreißend weinte Elias in den Frühlingsabend hinaus, daß die jungen Bündtgräser traurig niederwogten und das Rauschen vom nahen Wald herüberdrang wie ein Schluchzen. Aber Peter empfand keine Rührung. Er stand mit offenem Mund, und seine Augen stachen kalt in den da oben. Von diesem Tag an suchte Peter die Freundschaft des Elias zu gewinnen. Anfänglich stand er jeden Abend unterm Gaden. Dann kam er seltener, aber mit einer beharrlichen Beständigkeit. Er brauchte nicht zu pfeifen, sich nicht durch Käuzchenrufe bemerkbar zu machen. Elias erwartete ihn.
Wir dürfen behaupten, daß Peter der einzige Mensch im Leben des Elias Alder gewesen ist, der das Genie dieses Menschen erkannte. Er ahnte, daß dem Elias Großartiges gegeben war. Und weil er diese Ahnung sein Lebtag nicht mehr loswerden konnte, trachtete er, den Elias niederzuhalten. Und Elias gehorchte dem Freund fast willenlos. Gehorchte aus naiver Dankbarkeit dafür, daß ihn ein Mensch in den bittersten Stunden seines Lebens nicht im Stich gelassen hatte. Elias liebte den Peter.
Zwischenzeitlich unterließ die Seffin alles, was einer günstigen Entwicklung ihres frühreifen Jungen hätte förderlich sein können. Sie sprach nicht mit ihm, stellte die Suppe vor die Gadentür, wie man einer Katze die Milch hinstellt. Anfänglich vermied sie jede Berührung