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Platzspitzbaby. Franziska K. MüllerЧитать онлайн книгу.

Platzspitzbaby - Franziska K. Müller


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auf sich aufmerksam zu machen. Sie und drei andere Mischlingsfrauen wurden durch Interpol befreit, die Verantwortlichen verhaftet. Später wurden deren Machenschaften im preisgekrönten Kinofilm »96 Hours« thematisiert, und Mutter schien beinahe stolz, Teil des dramatischen Geschehens gewesen zu sein.

      Über die folgenden Jahre ihres jugendlichen Lebens weiß ich wenig. Vermutlich geriet sie in eine sich schnell drehende Abwärtsspirale aus Heroinkonsum und Beschaffungsstress. Ein Teufelskreis, der durch das Auftauchen meines Vaters unterbrochen wurde: Sie lernten sich im Rotlichtmilieu von Zürich kennen. Mama war 22-jährig, mein Vater ein Jahr älter. Der Bauernsohn aus dem Kanton Thurgau galt bereits in jungen Jahren als rechtschaffener Mann. Er stammte aus einfachen, aber geordneten Verhältnissen, in denen Tugenden wie Ordnung, Fleiß und Pflichterfüllung an oberster Stelle standen. In seinem Elternhaus lebten verschiedene Generationen unter einem Dach. Der verantwortungsvolle Umgang mit anderen genoss in seiner Familie einen hohen Wert. Geschlagen wurde nicht, es gab Liebe und Fürsorglichkeit, jedoch bestimmten verbindliche Regeln den streng strukturierten Alltag. Sein Vater arbeitete ein Leben lang hart; zuerst als Bauer, dann dreißig Jahre lang in einem Autohaus. Die Früchte seines Fleißes kamen der Familie zugute. Man bezahlte die Rechnungen ohne Verzug und konnte sich in bescheidenem finanziellem Rahmen etwas leisten: Der Junge fuhr ein Motorrad, später durfte er die Autoprüfung machen. Sein Leben verlief – bevor er auf meine Mutter traf – gradlinig. Es gab in seiner Biografie keinerlei tragische Brüche.

      Was Andreas plante, führte er zu Ende, und zwar mit Erfolg. Nach der abgeschlossenen Lehre fand er sofort eine Anstellung als Maurer und bezog eine eigene Wohnung. Er liebte Rockmusik, trug bunte Hosen mit Schlag und in Anlehnung an seine Bewunderung für die Hells Angels ein schwarzes Ledergilet, das mit den Abzeichen seiner Lieblingsbands geschmückt war. Nach der Arbeit trank er ein Glas Bier, und manchmal rauchte er eine Zigarette. Der Exzess war ihm fremd, da er grundsätzlich über einen maßvollen Charakter verfügte. Seine einzige Extravaganz, das Faible für schöne Mischlingsfrauen, wurde ihm prompt zum Verhängnis: Die groß gewachsene Sandrine, feingliedrig und doch so kräftig wie eine afrikanische Stammeskriegerin – in Gestalt und Glanz jenen geschnitzten Statuen nicht unähnlich, die als stumme Mitbringsel von einer Keniareise tausendfach Schweizer Wohnwände zieren –, verzauberte meinen Vater auf der Stelle.

      Obwohl oder gerade weil meine Mutter über ein angeschlagenes Selbstwertgefühl verfügte, blieb ihr Auftreten auch in den schlimmsten Absturzzeiten beeindruckend dominant, herrisch und von einer dermaßen übertrieben zur Schau gestellten Arroganz, dass sie andere leicht in Angst und Schrecken versetzen konnte. In jungen Jahren war diese künstliche und durch das Kokain noch gesteigerte Selbstüberschätzung weniger ausgeprägt, doch ein gefügiges Lamm war sie auch damals nicht. Als leicht geschürzte Table-Dancerin in einem Cabaret-Klub beschäftigt – in den hinteren Zimmern wurde heimlich animiert –, unterhielt sich die exotische Schönheit im breitesten Zürcher Dialekt mit dem Bauernsohn aus dem Kanton Thurgau. Sie symbolisierte das Gegenteil von allem, was er kannte. Sie eröffnete ihm eine neue Welt: Freiheitsliebend, chaotisch und risikobereit, akzeptierte sie keine Regeln, und die Werte einer gutbürgerlichen Erziehung hatte sie nicht nur ungenügend kennen gelernt, sie waren ihr inzwischen auch komplett egal. Ihr damaliges Temperament, laut, herzlich und unverfroren, nahm ihn ebenso wie ihre Schönheit gefangen, erzählte mir Vater später.

      Ob und bei welcher Gelegenheit Papa ihre Drogensucht bemerkte, ist nicht überliefert. Beim ersten Treffen mit seiner Mutter schien die Geliebte allerdings nicht bei klarem Verstand zu sein, stürzte im alten Bauernhaus kopfüber die große Kellertreppe hinab und brach sich beinahe das Genick. Oma soll ihren Sohn daraufhin sorgenvoll angeblickt haben, und in böser Vorahnung sprach sie den Satz: »Willst du dir das wirklich antun?« Er wollte, und zwar um jeden Preis. Diese Liebe erkannte er nicht als fatal, sie war für ihn eine Aufgabe, eine Lebensaufgabe. So wie man eine Ausbildung beendet oder einen Marathon durchstehen kann, vertrat er die Meinung, dass auch einer Drogensucht mit dem Willen beizukommen sei. In seiner maßlosen Verblendung ging er so weit, dass er selbst exzessiv Kokain zu konsumieren begann, allein um die Frau seines Lebens Monate später im Entzug begleiten zu können. Die Dosis wurde fortan unter seiner Aufsicht täglich verringert, so lange, bis beide abstinent waren.

      Dies glaubte zumindest mein Vater, und beflügelt von diesem Erfolg, der für ihn wie ein Versprechen an die gemeinsame Zukunft klang, befreite er seine Verlobte in einer halsbrecherischen Aktion endgültig aus den Verpflichtungen des Rotlichtmilieus. Nun war sie in Sicherheit, nun gehörte sie ihm allein. Meine Mutter, ebenfalls verliebt, jedoch auch gerissen, wenn es um ihre eigenen Vorteile ging, wie ich heute weiß, erkannte in diesem Mann eine Chance, packte den so unvermutet zugeworfenen Rettungsanker mit beiden Händen und verhakte diesen fest in ihrer brüchigen Existenz. Ein Jahr nachdem sich das ungleiche Paar zum ersten Mal begegnet war, stand Sandrine hochschwanger auf dem Standesamt und antwortete: »Ja, ich will.«

       Anfang ohne Ende

      Hätten die schweren Jahre nicht alles zerstört, das Gute als Lüge, den glücklichen Zufall als Manipulation enttarnt, den Anfängen dieser Geschichte könnte man eine eigenwillige Romantik nicht absprechen. Wäre ich nicht geboren worden, hätte das Unglück meines Vaters beschränkt sein können. Es kam anders. Heute treiben uns die Erinnerungen an die Anfänge eines Glücks, das sich zum größten Unglück einer tragischen Existenz entwickelte, Tränen in die Augen. Er gab meiner Mutter alles, was er hatte. Liebe. Verlässlichkeit. Geborgenheit. Jahrelang versuchte er das Unmögliche, nahm unfassbare seelische Qualen, körperlichen und finanziellen Schaden in Kauf, um sie zu retten. Ein hoffender Mensch kann viel ertragen, mein Vater ging in seiner Leidensfähigkeit an alle Grenzen. Beinahe ungläubig zur Kenntnis nehmend, was tatsächlich geschieht, fiel später alle Leichtigkeit von ihm ab. Fassungslos blickt er auf ein Leben zurück, das eine Ansammlung feindseliger und grausamer Umstände zu sein scheint, ein hundertfacher Verrat mit katastrophalen Folgen, verursacht durch einen Menschen, dem die Drogen stets wichtiger waren als alles andere.

      Entschuldigungen und Rechtfertigungsversuche für die Sucht meiner Mutter gibt es für uns nicht mehr. Der Partner, das Kind waren tausendfach weniger wert als der nächste Heroinschuss. Das ist die beinahe simpel klingende Wahrheit. Doch die Ungläubigkeit über diese Erkenntnis, die man verzweifelt und mit allen Mitteln zu bekämpfen versuchte, träufelte Gift in die Herzen. Die Bitterkeit, der Hass lasten heute schwer auf meinem tapferen Vater, und nur noch selten findet er die Kraft, um die besseren Momente der ersten Jahre Revue passieren zu lassen, so wie sie auch für mich nur noch schemenhaft existieren, als verblassende Erinnerungen an meine ersten Lebensjahre, von denen ich manchmal nicht weiß, ob sie den Tatsachen entsprechen oder der bloßen Einbildungskraft entspringen. In dunklen Stunden, wenn ich besonders vergesslich werde, ziehe ich ein Fotoalbum hervor, das die ruhigere Zeit in Bild und Schrift beweist.

      Auf dem Einband ist eine reich verzierte Wiege mit einem Baldachin aus Spitzenstoff abgebildet: Ein zufriedener Säugling blickt mit großen Augen aus den Kissen. Rundherum fliegen Kolibris, bunt gefiederte Vögelchen und Kirschblüten durch einen frühlingshaften Himmel. »Michelle Halbheer: Geboren am 14. Mai 1985« steht auf der ersten Seite im Innern des Buches mit blauem Filzstift geschrieben. »Fünfzig Zentimeter lang, 3,8 Kilogramm schwer.« Ein gesundes Kind. Die eingeklebte Geburtsanzeige gestaltete die junge Mutter selbst. Aus pinkfarbener Wolle strickte sie winzige Pullover, denen zwei zurechtgeschnittene Zahnstocher als Stricknadeln dienten.

      Das dunkelhäutige Baby mit dem weichen Kraushaar schlich sich unverhofft in das Leben der Eltern, seine Ankündigung war ein Triumph, aber auch ein medizinisches Wunder, behauptete Sandrine doch stets, sie könne aufgrund einer Eileitervernarbung unmöglich schwanger werden, was meinen Vater zu einem sorglosen Umgang mit ihr animierte. Doch die Freude über meine Ankunft war dennoch groß, wie mir immer wieder versichert wurde. Das Kind liegt schlafend auf der Brust des stolzen Papas, oder es sitzt zufrieden in einem Kinderstuhl. Sein Heranwachsen wurde in den ersten Monaten in einer Tabelle festgehalten, doch dieses strukturierte Vorgehen entsprach Mutter nicht, und sie ließ es bald bleiben. Festgehalten wurde jedoch mein erstes gesprochenes Wort. In Erinnerung an die entbehrungsreichen Jahre, die folgen sollten, machten sie durchaus Sinn: »mehr«. Die Geschenke, die ich erhielt, wurden minutiös vermerkt: Finklein, ein Plüschbär,


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