Vom Herzchirurgen zum Fernfahrer. Markus MaederЧитать онлайн книгу.
unter den wohligen Vibrationen des Motors in Gebiete des Körpers verteilt, die mit anderen Mitteln kaum zu erreichen sind.
Wir rollen weder schnell noch langsam, sondern am äußersten Limit. Achtzig ist gesetzlich erlaubt, doch kaum ein Trucker, der seinen rechten Fuß nicht schwer auf das Pedal abstützt und damit genau die 89 km/h erreicht, auf die jeder Vierzigtönner amtlich geeicht ist. So bummeln und brummeln die Elefanten unablässig in Einerkolonne hintereinander her, kreuz und quer durch Europa, und wenn einer doch etwas mehr mag, ein anderer auf 87 oder 88 blockiert ist, kommen die schier endlos scheinenden Elefantenrennen ins Rollen.
Das Gefühl, dem anderen überlegen zu sein, ist mit vierzig Tonnen Gold nicht aufzuwiegen.
Hobby und Beruf
Markus und ich können stundenlang fahren und schweigen. Im Herzklopftempo scheppert von der Stereo-Bordanlage so etwas wie
All we hear is Radio Gaga Radio Googoo Radio Gaga All we hear is Radio Gaga Radio Blahblah
Von Chiasso bis weit um Mailand herum zieht sich links und rechts der Autobahn die Agglomeration bis hin zum Horizont. »Nichts Schönes, wirklich nichts Schönes«, sagt Markus, und ich sage, um etwas zu sagen, in ein paar Jahren könnte die Poebene eine von Autobahnen durchzogene Betonfläche wie etwa der Großraum von Los Angeles werden.
Die vier Rückspiegel rechts vervierfachen die Hässlichkeit in grotesker Verzerrung – und behalten in Selbstbespiegelung das eigene Blechkleid aus allen möglichen Winkeln im Blick. Es gibt den Seitenspiegel, den Weitwinkelspiegel und den Rampenspiegel, der die Sicht von oben aufs Rad der Vorderachse erlaubt. Darin kann ich die Fahrspur verfolgen und staune, wie passgenau Markus Kilometer um Kilometer dem Randstrich entlangfahren kann.
Der Totwinkelspiegel unten rechts von der Frontscheibe zeigt Fahrräder und Fußgänger, die sich hinter dem Blech der Tür und den fünf Einstiegsstufen verbergen. Niedrigwild, das sich nahe an der Front aufhält oder nahe seitlich der Kabine parallel mitfährt, lebt gefährlich. Auch das ein Grund, warum einen in der Kabine immer ein bisschen die Angst begleitet. Um Kinder zu sehen, die hinter dem Auflieger spielen, schaltet mit dem Rückwärtsgang automatisch eine Kamera ein. Es wäre zu schlimm, sich aus Unachtsamkeit schuldig zu machen. Doch sieht die Kamera auch unter die Karosserie? Markus sagt, nein.
Drei Raststätten früher hat das Navigationsgerät Stau um Mailand angezeigt. Nun ist die Meldung weg. Auf einen Stau auflaufen gilt für Markus wie für jeden Fernfahrer als persönliche Schlappe. Mit etwas Voraussicht lässt sich das vermeiden, davon ist Markus überzeugt. Es sei denn, die Ausweichstraßen seien für den Schwerverkehr gesperrt. Aber bis jetzt läuft alles rund. Mit etwas Glück können wir heute tatsächlich noch laden in Genua, denn eben ruft Michi von Transfood aus Frauenfeld an. Michi ist der Disponent einer Flotte von über einem Dutzend Fernfahrern und meldet, dass wir die Tanks nicht zu reinigen brauchen. Die Zeitersparnis verlängert den Tag um zwei bis drei Stunden.
Wir rollen und rollen, bummeln und brummeln in gebührendem Abstand hinter Walos Heck her. Nach Mailand wird die Agglo allmählich zur Landschaft. Reis und Raps folgen sich in rechtwinkligen Flächen, die sich in der Perspektive zu Trapezen verziehen, darüber Hochspannungsleitungen unter einem schweflig diesigen Himmel. Area Servizio, Total Servizio. Gelati Motta. An den Wiesenböschungen blüht der Klatschmohn fast im gleichen Rot wie unser Blechkleid.
Später, in den zerklüfteten Hügeln, welche die Poebene von Genua trennen, heulen drei Polizeiautos mit Vollgas und Blaulicht an uns vorbei. Markus scheint eine Rechnung offen zu haben, sei es mit der Polizei, sei es mit Italien überhaupt. Er sagt: »Wahrscheinlich fahren sie zum Mittagessen.« In den Serpentinen, hinunter Richtung Genua holen wir sie wieder ein. Sie haben bei einem Brückenkopf geparkt, beugen sich über das Geländer und schauen, immer noch bei Blaulicht, unverwandt hinunter in eine endlos tiefe Schlucht. Die Fantasie serviert mir andere Geschichten als die vom Mittagessen.
Um mich für den Panoramablick auf Genua etwas zurückzulehnen, heble ich an der Mechanik des Sitzes. Unser Mercedes ist wie ein Hightech-Gerät bis zum Rand mit Elektronik gefüllt. Unversehens macht die Heizung Feuer unter dem Arsch, mitten in diesem schwülwarmen Tag.
»Du hast den falschen Knopf erwischt«, sagt Markus.
»Ja klar, aber welcher ist der richtige? Es gibt so viele Knöpfe, so viel zu lernen.«
Markus lacht durch die Frontscheibe in einen imaginären Fluchtpunkt: »Das ging mir genauso, das hält einen frisch. Als ich auf den Sattelschlepper umstieg, das ist jetzt vier Jahre her, hatte ich zuvor einen Crash-Kurs in Fernverkehr zu bestehen. Erst fuhr ich jede zweite Woche. Seit bald zwei Jahren, nachdem mein Kumpel ausgestiegen ist, Woche für Woche. Fünfzig Wochen im Jahr. Ich lernte von Kollegen und von den eigenen Fehlern. Unterdessen kann ich eine halbe Million Kilometer Erfahrungen weitergeben.«
Ich rechne kurz: »Bei einem Erdumfang von vierzigtausend Kilometern wärst du ein gutes Dutzend Mal rund um die Erde gefahren.«
Markus sagt nach einer Weile: »89 km/h sind keine Geschwindigkeit, aber in vier Jahren kommt man damit doch ziemlich weit.«
Später sagt er unvermittelt: »Einfach ein schönes Gefährt.«
Ich nicke: »Man kann süchtig werden nach diesem Fahrgefühl.«
Wieder lacht Markus durch die Frontscheibe.
Hafenromantik
Genua hat nichts von seiner sperrigen Hässlichkeit verloren, seit ich zum letzten Mal dort war. Verwitterte, von Feuchtigkeit, Öl und Ruß zerfressene Fassaden der grob hingeklotzten Gebäude, die fast auf Griffweite an die Serpentinen der holprigen Autobahn am Rand der Berge heranreichen.
»Möchtest du so wohnen?«, fragt Markus und schüttelt den Kopf. Nun meldet sich Walo, der uns immer noch vorausfährt, über Handy: »Habt ihr das gesehen?«, ruft er fröhlich. »Die hängen die Wäsche zum Trocknen raus. Stellt euch das vor. Die ist so toxisch, wenn sie die wieder anziehen, fällt ihnen die Haut in Fetzen vom Leib.«
In der Stadt wartet Walo auf uns, führt uns zielstrebig zum Hafen. Markus schaut auf sein Navigationsgerät. Es weist uns den genau gleich verschlungenen Weg um Lagerhallen, Siloanlagen und abgestellte Güterwagen herum. Die einzige sichtbare Orientierung bietet die Laterna di Genova, der mächtige alte Leuchtturm am Hafenrand. Wir kurven hinter Walos schwer schaukelndem Auflieger her, über Schlaglöcher, um verbeulte Container, gespenstisch kaputte Fassaden, um Berge von Schrott herum, auf einen Parkplatz am Rande eines zerbröselnden Backsteingebäudekomplexes. Die Tanks stehen wie überdimensionierte rostende Konservendosen vor der Kulisse des mediterranen Himmels. Markus parkt rückwärts nach allen Regeln der Kunst, sauber mit Walo koordiniert, der Pas de deux eines Sattelschlepperballetts.
Unsere Lagertanks stehen unmittelbar am Hafenbecken, wo die Fähre nach Algerien und die großen Kreuzfahrtenschiffe zum Auslaufen bereit liegen. Das Blau des Wassers und die schneeweißen Rümpfe gaukeln den Hauch einer besseren Welt vor. In den Lärm der Lastkräne und den Geruch der Dieselabgase mischt sich der Geruch von Sonnenblumen, als wiegten sich ihre Blüten goldgelb bis hin zum Horizont im Wind. Wer weiß, woher unsere Ladung für Horn am Bodensee kommt, vom Schwarzen Meer oder von der Ukraine? Häfen, denke ich, Häfen sind ja auch so Herzen. Sie pumpen Rohstoffe in die Fabriken und pumpen Waren aus den Fabriken hinaus in die Märkte der Welt, zu ihrer Endbestimmung in den Verbrennungsanlagen.
Es gibt eine ganze Reihe von Schläuchen, durch die wir unser Sonnenblumenöl hätten einfüllen können, aber nur eine der Pumpen ist in Betrieb. Nichts zu machen. Mittagspause. Im Dauerrennen, das Trucker im Kampf um Minuten gegen die Uhr fahren, ist gegen Italien nichts zu gewinnen. Markus erledigt die Formalitäten an einem Schmuddelschalterchen in einer zugigen Schattenecke und übersetzt für Walo. Im Übrigen sucht Walo eine Antwort auf die Frage, wo er tanken kann. Als Angestellter von Transfood muss er bei Tankstellen der Marke Q8 Oils auffüllen, weil Transfood bei dem Label Verträge zu günstigen Konditionen hat. Markus ist Selbstfahrer. Er wirtschaftet