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Vom Herzchirurgen zum Fernfahrer. Markus MaederЧитать онлайн книгу.

Vom Herzchirurgen zum Fernfahrer - Markus Maeder


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      Walo schwenkt testweise sein Becken, Markus meint: »Auch das Endoskop muss nicht sein. Es lohnt sich nicht, an den Sitzen zu sparen, auf denen man so manche Stunden den Arsch drauf hat.«

      »Wie beim Schreiben«, füge ich an. »Die Hauptarbeit in den meisten Berufen leistet der Arsch.«

      Warten, warten, warten. Wir sehen zu, wie die Mannschaft auf dem Feuerwehrschiff am Quai aus Rohren und Schläuchen Wasser ins Wasser spritzt und wie sich die Container zu einer Mauer ins Blaue hoch stapeln. »K« Line, UASC, Hanjin, Yang Ming, China Shipping. Wie viele Container fasst ein Schiff der Super-Panamax-Klasse? Über siebeneinhalbtausend Container. Wie viele die Malakka-Max-Klasse? Bis zu achtzehntausend. Und jeder dieser Container wird einzeln ins Verkehrsnetz eingespeist, um irgendwo auf der Welt eine Zelle des ökonomischen Organismus mit Nährstoff zu versorgen. Sie sehen winzig aus, wenn die Laufkatze sie durch die Luft schweben lässt, aber auf einem Sattelschlepper ist jeder einzelne Container ein Ungetüm, mächtig genug, um eine Autobahn zu blockieren. Mit dem Inhalt unseres Aufliegers verhält es sich ähnlich. Was eine Stunde braucht, um den Leerraum zu füllen, ist im Silo von Genua kaum mehr als ein Tröpfchen.

      Immer noch hängt der gleiche Wagen am Einfüllstutzen. Die anderen stehen mit laufendem Motor bereit. Um auf dem Sprung zu sein, wenn die Reihe an uns kommt, bleiben wir in der Nähe und vertreten uns in einem zugigen Durchgang die Beine. Es ist laut, feucht und riecht schlecht. Zwischen den Backsteinwänden und Gitterglasfenstern sehen wir einen Schlitz tiefblauen Himmel und Möwen, die mit bebend ausgebreiteten Flügeln auf dem Luftstrom des Seewinds balancieren. Das ist tröstlich. Es gibt eine Welt jenseits der Ladestationen.

      Walo spendiert uns einen Automatenkaffee: »Kannst wählen, ob es dir vom Warten oder vom Kaffee schlecht werden soll.« Ich bekomme einen Cappuccino Chocolate Dolce, und Walo bekommt recht. Die Flüssigkeit sieht aus und schmeckt, als sei sie auf Sonnenblumenölbasis hergestellt.

      »Einen Euro für diese Brühe«, sagt Walo.

      Markus und ich im Duett: »O Walo, wir bezahlen ihn dir gerne.«

      »Nein, nein, so ists nicht gemeint. Ich meine nur, alles wird teurer und teurer, bloß unser Einkommen schrumpft.« Und weiter geht die Litanei. Ich staune so harmlos in die Welt, dass Walo es nicht lassen kann, mich in die Härte der praktischen Straßengesetze einzuführen: »Es gibt keine Tarife, und ein Spediteur ist der Feind des andern. Der stärkere der Feind des starken. Wie draußen im Dschungel. Sie unterbieten sich gegenseitig. Gnadenlos. Und die neuen EU-Länder erhöhen den Druck. Die EU subventioniert ihre Autos großzügig, die Fahrer arbeiten zu Dumpinglöhnen und zersetzen den Markt.« Wir zerknüllen die Plastikbecher und schmeißen sie unter die Rampe, auf die wir uns gesetzt haben.

      »Die Holländer waren die Ersten, die gleich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ihre Fahrer entließen, um Polen und Tschechen anzuheuern. Das Beispiel hat auch bei Letten und Litauern Schule gemacht. Heute sind Deutsche oder Schweizer schon fast von den Böcken verschwunden.«

      Markus hat die besseren Zeiten gerade noch erlebt: »Die Osterweiterung der EU 2004 hat eine Lawine ausgelöst: Große Spediteure heuern Vertragsfahrer aus Osteuropa für elfhundert Euro im Monat an und verderben die Preise. Menschenschinderei ist das. Es finden sich immer welche, die noch billiger fahren. Sei es in Rumänien oder in Bulgarien. Oder sonst wo. Man erkennt sie von Weitem. Ihren osteuropäischen Zugmaschinen ist ein deutscher oder ein schweizerischer Auflieger aufgesattelt … Wir brauchen Agreements über Minimalansätze, um Fairness für die Fahrer zu schaffen. Oder sind wir im Wilden Westen? Müssen wir wirklich täglich um unser Territorium kämpfen? Das ist für niemanden gut. Heute wären die Holländer froh, sie wüssten, wie sie die Osteuropäer wieder loswerden könnten. Es gibt Kunden, die lassen keine Leute aus Osteuropa mehr an ihre Rampen.« Das weiß auch Walo: »Das ist unsere letzte Chance. Die aus dem Osten werden ihre sozialistische Arbeitsmoral nicht los. Für schlechte Bezahlung muss eine schlechte Leistung genügen. Schlampen, lügen und klauen ist ihnen in die Gene übergegangen. Nicht nur den Fahrern. Wir hatten mal Sonnenblumenöl roh aus der Ukraine geladen. Es schwammen Plastiktüten und Stofffetzen drin.«

      Markus meint, darum komme das Öl ja auch zur Reinigung in die Raffinerie. Walo schüttelt eine Weile den Kopf und kämmt sich danach mit dem Rechen seiner Finger die Frisur zurecht. Walo fragt sich wie ich, warum Markus mit der Truckerei angefangen hat: »Ehrlich, ich verstehe es nicht. Ich kanns nicht verstehen. Bei uns Gewöhnlichen ist es klar. Wir sitzen fest. Wir kleben am Bock und kommen nicht mehr weg von der Straße. Aber du, Markus, du willst das, lässt nicht locker und ziehst es durch, als gäbe es nur dieses eine für dich. Warum? Dass du es nötig hast, kannst du nicht behaupten.«

      Markus entwischt Walos Inquisition, weil ihn der Disponent der Abfüllanlagen mit seinem Wagen zur Laderampe aufbietet. Er klettert wie eine Katze nach Beute die Tritte zum Lenkrad hoch, parkt zentimetergenau und flanscht dann auf dem Dach des Tanks die Schläuche zusammen. Im Grau des verrußten Betons, des verwitterten Aluminiums und der Verruchtheit eines aus den Fugen fallenden Hafens scheint er sich zu Hause zu fühlen. Wenn er die Ärmel hochkrempelt, packt er seine Arme wie zwei Geschenke aus. Anpacken, da kann er der Welt etwas mit auf den Weg geben. An den Schlüsselstellen der handfesten Wirtschaft, dort, wo die Waren umgeschlagen werden und einzig menschliche Hände die entscheidenden Griffe zu leisten vermögen, zeigt sich Markus als der Mann, der die Pflichten eines Chauffeurs zu seiner Kür gewählt hat. Im Überkleid tanzt er förmlich die Leiter hoch, zu den Einfüllstutzen, die Leiter runter und hin und her von Schalter zu Schalter. Eine Performance in proletarischem Realismus, fast wie auf den Propagandaplakaten aus den roten Zeiten Moskaus und Pekings.

      Um halb fünf hat auch Walo geladen. Wie zwei Rennwagen bereit zum Start, stehen unsere Autos nebeneinander am Ausgangstor. Doch wo bleibt Walo? Schließlich kommt er ziemlich geknickt durch die weiße Staubwolke über den weiten Platz, auf dem noch immer der Bagger piepst. »Finish«, sagt Walo. »Finish« habe der Mann im Kabäuschen gesagt. Keine Papiere mehr.

      »Das vertrage ich schlecht«, sagt Markus, wenn man mich stehen lässt. An der Grenze, an einem Binnenzoll oder irgendwo an einem Fabriktor, bloß für einen Stempel. Ich reiß mir den Arsch auf, hole, bringe und muss mir dann an der Rampe sagen lassen: ›Ach, tut uns leid, heute können wir nicht abladen, unser Tank ist noch voll.‹ Das hebt mir den Deckel.«

      Fahrer sein heißt stehen bleiben – und randständig werden. Hat Walo nicht genau das gesagt heute Nachmittag? Markus hat es da gelegentlich etwas besser. Er mobilisiert die natürliche Autorität eines Chirurgenteamleiters.

      »Kannst du Italienisch?«, hatte ihn Michi, der Disponent von Transfood, schon am Morgen am Telefon gefragt.

      »Genügend, um jedem Italiener Schimpf und Schande zu sagen«, hatte Markus versichert. Von seinen italienischen Privatpatienten beherrscht er aber auch die feineren Töne.

      »Italien, das halte ich im Kopf nicht aus«, klagt Walo – und ist doch eine Frohnatur von Geburt.

      Noch einmal warten, und siehe da, Markus in Überhosen und im Triumphmarsch zurück aus der Papierschlacht. Nun klappts. Einfach anständig bleiben, solange es geht. Ein Wort von Markus, und Walo hat die nötigen Stempel auf den Papieren. Ob unsere Tanks gereinigt sind, hat keinen der Beamten gekümmert. Nichts mehr »finish«. Kurz vor fünf. Er gehe noch tanken und warte in Tarragona, sagt Walo. »Tortona«, lacht Markus.

      Torturen vor Tortona

      Genua, addio. Walo fährt voraus – und schüttelt uns gleich nach der Hafenausfahrt ab. Wir wundern uns. Wie hingezaubert, steht eine Q8-Tankstelle gleich außerhalb der Hafenanlage. Warum hat Walo nicht hier haltgemacht, wo die gesuchte Diesel-Zapfsäule förmlich auf ihn zu warten scheint. Warum will er weiter nach Tortona? Er wird sich in den Ruhevorschriften verstricken und hängen bleiben. Markus sagt: »Verschiebe die Dinge nur mit triftigen Gründen. Natürlich kommt immer wieder eine Tankstelle. Aber weißt du, wann das ist?« Doch Walo setzt seine Prioritäten anders. Er liebt den Nervenkitzel: Reicht es bis zur nächsten Tankstelle? Schafft er es doch noch über den Zoll? Wenn ja, feiert er einen Sieg. Wenn nicht, freut er sich, was Meister Zufall ihm beschert.


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