Dracula. Bram StokerЧитать онлайн книгу.
Wunder, Freundschaft verlangt mehr Selbstlosigkeit. Verehrteste, das wird für mich nun ein ziemlich einsamer Gang von hier bis in die Ewigen Jagdgründe. Würden Sie mir einen Kuss geben? Die Erinnerung an so etwas vertreibt die Dunkelheit, wenigstens zeitweise. Sie dürfen schon, wenn Sie wollen; der andere ist ja bestimmt ein feiner Kerl, sonst würden Sie ihn nicht lieben; aber er hat sich eben noch nicht erklärt.«
Damit hatte er meine Gunst endgültig gewonnen. Derart freundlich über einen Rivalen zu reden: das beweist doch nicht nur Sanftmut, sondern auch Tapferkeit und Noblesse, findest Du nicht? Außerdem war er dermaßen traurig. So beugte ich mich denn vor und küsste ihn. Er stand auf, umschloss meine Hände mit den seinen, sah mir herab ins Gesicht – ich fürchte, ich wurde dabei sehr rot – und sprach: »Mein kleines Mädchen, ich halte Ihre Hände, und Sie haben mich geküsst. Wenn diese Dinge zwischen uns keine Freundschaft stiften, dann weiß ich auch nicht. Vielen Dank für Ihre liebenswerte Aufrichtigkeit mir gegenüber. Und nun leben Sie wohl!«
Er drückte mir die Hand, nahm seinen Hut und schritt gradewegs aus dem Zimmer, ohne sich umzusehen, ohne Träne, ohne Zittern, ohne Zögern. Und nun sitze ich hier und heule wie ein Kind. Warum muss ein Mann wie er unglücklich werden, wo es Tausende Mädchen gibt, die den Boden verehren würden, auf den er tritt? Ich weiß, ich täte es auch, wenn ich frei wäre. Aber ich will eben nicht frei sein. Meine Liebe, dies alles hat mir sehr zugesetzt, so dass ich mich jetzt nicht mehr imstande fühle, über Glück zu schreiben. Deshalb möchte ich Dir auch von Nummer drei erst berichten, wenn das Glück gesichert ist.
Deine Dich immer liebende
Lucy
PS: Nun also – eigens vorzustellen brauche ich Dir Nummer drei ja wohl nicht mehr, oder? – Unter uns, es ging alles so verwirrend schnell. Er hatte kaum mein Zimmer betreten, da lag ich schon in seinen Armen, und er küsste mich. Ich bin sehr, sehr glücklich, und ich weiß nicht, womit ich das verdient habe. Ich muss eben künftig bestrebt sein, dem Herrgott zu beweisen, wie dankbar ich ihm bin für die drei Gaben, die er mir in seiner Güte beschert hat: solch einen Verehrer, solch einen Gatten und solch einen Freund.
Lebe wohl.
Dr. Sewards Diarium
Phonographische Aufzeichnung
25. Mai. – Appetit auf Tiefstand. Kann nicht essen, kann nicht schlafen; daher: Diarium. Seit der Abweisung gestern fühle ich mich ganz leer; nichts in der Welt scheint mir wichtig genug, dass es eine Beschäftigung lohnte. Da ich weiß, dass die einzige Medizin gegen solche Zustände Arbeit ist, ging ich hinunter zu den Patienten. Ich wählte einen, der für mich ein besonders interessantes Studienobjekt darstellt. Er ist so wunderlich in seinen Ideen und dabei so anders als die gewöhnlichen Irren, dass ich fest entschlossen bin, genauestens zu verstehen, was ihn Geheimes umtreibt. Heute bin ich, glaube ich, auf dem Weg dorthin ein entscheidendes Stück vorangekommen.
Ich befragte ihn, entgegen meinen Gepflogenheiten, extrem hartnäckig und schonungslos über seine Halluzinationen. Diese will ich so exakt erkunden, dass ich sie irgendwann kontrollieren, ja steuern kann. In dem Vorgehen liegt, wie ich jetzt einsehe, eine gewisse Grausamkeit. Ich habe ihn, scheint mir, gezielt auf die Spitze seines Wahnsinns getrieben und dann eine Weile da festgehalten – ein Verfahren, das ich sonst meide wie den Schlund der Hölle. (NB: Könnte es Umstände geben, unter denen ich ihn nicht meiden würde, den Schlund der Hölle? Omnia Romae venalia sunt. Auch die Hölle ist käuflich. Alles eine Frage des Preises! Verbum sapienti sat.) Wenn hinter meinen instinktiven Ahnungen irgendetwas Wahres steckt, empfiehlt es sich, alles sofort akkurat zu protokollieren. Also dann –
R. M. Renfield, Alter 59. Sanguinisches Temperament. Körperlich sehr stark. Oft Zustände wahnhafter Erregung. Dazwischen depressive Perioden; münden in irgendeine fixe Idee, die ich freilich noch nicht klar erfasse. Vermute, das sanguinische Temperament und die destruktiven Impulse liefern sich, einander potenzierend, immer wieder innere Kämpfe um die Oberherrschaft. Mann potentiell gefährlich, wahrscheinlich besonders dann, wenn selbstlos agierend. Bei egoistischen Menschen dominiert Vorsicht, was sowohl ihnen selbst als auch ihren Feinden eine gewisse Sicherheit gewährt. Ich glaube, wenn das Selbst der innere Fixpunkt ist, besteht Gleichgewicht zwischen den zentripetalen und den zentrifugalen Kräften. Wird jedoch eine Pflicht, ein äußeres Ziel o.ä. der Fixpunkt, gewinnen die letztgenannten Kräfte die Oberhand, und nur eine gewaltsame Entladung oder mehrere gewaltsame Entladungen, verursacht durch puren Zufall, können den Ausgleich wiederbringen.
Quincey P. Morris an Sir Arthur Holmwood
Brief
25. Mai
Mein lieber Art,
wir haben am Lagerfeuer in den Prärien Garn gesponnen, nach unserer Tour zu den Marquesas und der gescheiterten Landung einander die Wunden versorgt und an den Ufern des Titicacasees auf unser Wohl getrunken. Es gilt, neues Garn zu spinnen, neue Wunden zu verbinden und auf ein anderes Wohl zu trinken. Wollen wir das nicht morgen abend an meinem Lagerfeuer bewerkstelligen? Ich denke nicht, dass ich eine Absage Deinerseits fürchten muss, da ich weiß, dass eine gewisse junge Dame morgen abend zu einer Dinner-Party eingeladen ist; Du bist also frei. Außer Dir habe ich nur noch einen Gast vorgesehen, nämlich unseren alten Kumpel aus Korea, Jack Seward. Er hat sein Kommen zugesichert. Wir beide möchten unsere Klagen über dem Weinglas vereinen und dann von ganzem Herzen auf das Wohl des glücklichsten Mannes unter der Sonne anstoßen, der das edelste Herz gewann, das Gott je geschaffen. Wir versprechen Dir einen warmen Empfang, eine liebevolle Gratulation und einen Segenswunsch zum Prosit, so ehrlich wie Dein Handschlag. Wir schwören beide, Dich heimzubringen, falls Du zu oft auf ein gewisses Augenpaar trinken solltest. Komm einfach!
Dein Freund für immer und ewig
Quincey P. Morris
Arthur Holmwood an Quincey P. Morris
Telegramm
25. Mai
Könnt auf jeden Fall mit mir rechnen. Bringe Neuigkeiten, von denen Euch die Ohren klingen werden.
Art
Sechstes Kapitel
Mina Murrays Tagebuch
24. Juli. Whitby. – Lucy hat mich am Bahnhof abgeholt. Sie sieht hübscher und aparter aus als je zuvor. Wir fuhren gemeinsam zu dem Haus am Crescent, wo die Westenras einige Zimmer bewohnen. Dieses Whitby ist ein ansehnlicher Ort. Der Esk, ein kleiner Fluss, zieht durch ein tiefes Tal, das sich zum Hafen hin immer mehr verbreitert. Ein großer Viadukt führt darüber hinweg, von dem aus man allerdings nicht ganz so weit in die Ferne zu blicken vermag, wie die Höhe seiner Pfeiler vermuten lassen. Das Tal ist wunderschön grün. Seine Hänge sind dermaßen steil, dass man, wenn man sich auf der Hochebene befindet, den Einschnitt gar nicht bemerkt; dazu muss man schon dicht an den Rand herantreten und hinunterschauen. Wir wohnen zur Linken des Tals; auf der anderen Seite erstreckt sich die Altstadt Whitbys. Die Häuser dort sind alle mit roten Schindeln gedeckt und stehen gleichsam übereinandergeschachtelt, wie man es aus Ansichten von Nürnberg kennt. Deutlich sichtbar über der Stadt liegt Whitby Abbey, eine alte ›Abtei‹, genauer gesagt deren Reste. Das Kloster wurde einst von den Dänen zerstört. Hier spielt übrigens jene Szene des Marmion, in der ein Mädchen eingemauert wird. Whitby Abbey ist eine ehrwürdige Ruine von mächtigen Ausmaßen und voller malerischer und romantischer Winkel. Es geht die Sage, dass in den Fenstern dann und wann eine Dame in Weiß erscheine. Zwischen der Abtei und der Stadt befindet sich noch ein größeres Gotteshaus, St. Mary’s Church, die Pfarrkirche, die ein ausgedehnter Friedhof mit zahlreichen Grabsteinen umringt. Dieser nun ist mein Lieblingsplatz in Whitby, ein reizendes Fleckchen; es liegt direkt oberhalb der Stadt, und man hat von dort einen herrlichen Ausblick auf den Hafen und auf die Bucht, in der sich eine Landzunge namens Kettleness weit ins Meer hinausstreckt. Der