Die Abenteuer des Sherlock Holmes. Arthur Conan DoyleЧитать онлайн книгу.
so ist sie unverbesserlich, und meine Frau hat ihr gekündigt; aber wiederum kann ich einfach nicht sehen, wie Sie das herausbekommen haben.«
Er gluckste vergnügt in sich hinein und rieb die langen nervösen Hände.
»Ein Kinderspiel«, sagte er. »Meine Augen verraten mir, dass das Leder an der Innenseite Ihres linken Schuhs, genau da, wo der Schein des Kaminfeuers auf ihn fällt, sechs fast parallele Schrammen aufweist. Offenkundig sind sie von jemandem verursacht, der sehr unachtsam am Sohlenrand herumgekratzt hat, um verkrusteten Schlamm zu entfernen. Sehen Sie, von daher meine zweifache Schlussfolgerung, dass Sie bei abscheulichem Wetter unterwegs waren und dass Sie ein besonders tückisches, stiefelschlitzendes Exemplar von Londoner Dienstmädchen hatten. Was aber nun Ihre Praxis anbelangt – wenn ein Herr meine Wohnung betritt und nach Jodoform riecht, eine Spur schwarzen Höllensteins an seinem rechten Zeigefinger und eine Ausbuchtung an der Seite seines Zylinders hat, die anzeigt, wo er sein Stethoskop verborgen hält, müsste ich wahrhaft schwerfällig sein, ihn nicht für ein aktives Mitglied des Ärztestandes zu erklären.«
Angesichts des Behagens, mit dem er seine Beweisführung erläutert hatte, konnte ich mir ein Lachen nicht verbeißen. »Wenn ich Ihre Argumentation höre«, bemerkte ich, »scheint mir die Sache jedes Mal lächerlich einfach zu sein, ganz so, als könne ich sie mit Leichtigkeit selber nachmachen; aber bei jedem neuerlichen Beweis Ihres Scharfsinns bin ich wieder verblüfft, bis Sie mir Ihren Gedankengang erklären. Und doch bin ich überzeugt, dass meine Augen ebenso gut sind wie die Ihren.«
»Ganz recht«, erwiderte er, indem er sich eine Zigarette anzündete und sich in einen Sessel fallen ließ. »Sie sehen zwar, aber Sie nehmen nicht wahr. Der Unterschied liegt doch auf der Hand. Sie haben zum Beispiel regelmäßig die Stufen gesehen, die von der Eingangshalle zu diesem Zimmer heraufführen.«
»Regelmäßig.«
»Wie oft?«
»Nun, einige hundert Male.«
»Wie viele Stufen sind es also?«
»Wie viele? Das weiß ich nicht.«
»Allerdings nicht! Sie haben sie eben nicht wahrgenommen. Und gleichwohl haben Sie sie gesehen. Genau das ist der springende Punkt. Nun denn, ich weiß, dass es siebzehn Stufen sind, weil ich sie nicht nur gesehen, sondern auch wahrgenommen habe. Übrigens, da Sie sich nun einmal für diese kleinen Probleme erwärmen und die Güte hatten, ein oder zwei meiner unbedeutenden Erlebnisse aufs Papier zu bringen, sind Sie vielleicht auch hieran interessiert.« Er warf einen Bogen blassrot getönten, steifen Briefpapiers herüber, der offen auf dem Tisch gelegen hatte. »Er kam mit der letzten Post«, sagte er. »Lesen Sie ihn vor.«
Der Brief war undatiert und trug weder Unterschrift noch Absender.
»Heute Abend um ein Viertel vor acht Uhr«, hieß es, »wird ein Herr Sie aufsuchen, der Sie in einer Angelegenheit von allergrößter Tragweite zu konsultieren wünscht. Die Dienste, die Sie kürzlich einem der europäischen Königshäuser erwiesen haben, lassen erkennen, dass man Sie getrost mit Angelegenheiten betrauen darf, deren Bedeutung kaum zu überschätzen ist. Einschlägige Berichte über Sie haben wir von allen möglichen Seiten erhalten. Seien Sie also zu dieser Stunde in Ihrer Kanzlei und nehmen Sie keinen Anstoß an der Maske, die Ihr Besucher tragen wird.«
»Das klingt allerdings rätselhaft«, äußerte ich. »Was hat das Ihrer Meinung nach zu bedeuten?«
»Ich weiß noch keine Einzelheiten. Ein Kardinalfehler besteht darin, Theorien aufzustellen, bevor man noch über weitere Angaben verfügt. Unbedacht beginnt man die Tatsachen zu verdrehen, um sie den Theorien anzupassen statt die Theorien den Tatsachen. Aber die Mitteilung selbst. Was entnehmen Sie ihr?«
Ich untersuchte sorgfältig die Handschrift sowie das Papier, auf dem das Schreiben abgefasst war.
»Der Verfasser ist vermutlich wohlhabend«, stellte ich fest, bestrebt, den Gedankengängen meines Freundes nachzueifern. »Solches Papier könnte man nicht für unter einer halben Krone die Packung erstehen. Es ist befremdlich dick und steif.«
»Befremdlich – das ist genau das richtige Wort«, sagte Holmes. »Es ist überhaupt kein englisches Papier. Halten Sie es gegen das Licht.«
Dies tat ich und sah ein großes E mit einem kleinen g, ein P und ein großes G mit einem kleinen t in die Papiermaserung eingeprägt.
»Was sagen Sie dazu?«, fragte Holmes.
»Ohne Zweifel der Name des Herstellers, oder eher sein Monogramm.«
»Keineswegs. Das G mit dem kleinen t steht für ›Gesellschaft‹, das deutsche Wort für ›Company‹. Es ist eine landläufige Abkürzung wie unser ›Co.‹. P steht natürlich für ›Papier‹. Nun aber Eg. Lassen Sie uns einen Blick in unser Geographisches Namensverzeichnis für den Kontinent werfen.« Er nahm einen schweren braunen Folianten vom Bücherbord. »Eglow – Eglonitz. Da haben wir es: Egerland. Es ist in einem deutschsprachigen Land – in Böhmen, unweit Karlsbad. ›Erwähnenswert als Schauplatz von Wallensteins Tod und aufgrund seiner zahlreichen Glashütten und Papiermühlen.‹ Haha, alter Junge, was sagen Sie dazu?« Seine Augen sprühten, und von seiner Zigarette sandte er eine große triumphierende blaue Wolke aus.
»Das Papier wurde in Böhmen hergestellt«, sagte ich.
»Genau. Und der Mann, der den Brief schrieb, ist Deutscher. Beachten Sie den eigentümlichen Satzbau: ›Einschlägige Berichte über Sie haben wir von allen möglichen Seiten erhalten.‹ Ein Franzose oder Russe hätte das nicht so formulieren können. Nur der Deutsche ist derart unhöflich gegen seine Verben. Es bleibt uns also nur noch, das Anliegen dieses Deutschen herauszufinden, der auf böhmischem Papier schreibt und lieber eine Maske trägt als sein Gesicht zeigt. Da kommt er schon, wenn mich nicht alles täuscht, all unsere Zweifel zu zerstreuen.«
Noch während er sprach, war deutlich der Hufschlag von Pferden und das Geräusch von Rädern, die am Rinnstein schabten, zu hören, gefolgt von einem scharfen Zug an der Schelle. Holmes pfiff.
»Ein Gespann dem Klange nach«, sagte er. »Ja«, fuhr er fort, während er aus dem Fenster schaute, »ein hübsches kleines Coupé und zwei Pferde, wahre Prachtexemplare. Hundertundfünfzig Guineen das Stück. In dem Fall steckt Geld, Watson, wenn nichts sonst.«
»Ich glaube, ich sollte jetzt gehen, Holmes.«
»Nicht im Geringsten, Doktor. Bleiben Sie, wo Sie sind. Ohne meinen Boswell bin ich verloren. Und es verspricht interessant zu werden. Es wäre doch jammerschade, wenn Sie etwas versäumten.«
»Aber Ihr Klient …?«
»Kümmern Sie sich nicht um den. Vielleicht benötige ich Ihre Hilfe, vielleicht auch er. Hier kommt er schon. Setzen Sie sich in diesen Sessel, Doktor, und schenken Sie uns Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.«
Der langsame und schwere Schritt, den wir schon vom Treppenhaus und vom Gang her vernommen hatten, hielt unmittelbar vor der Tür inne. Dann ertönte ein lautes und gebieterisches Klopfen.
»Herein!«, rief Holmes.
Ein Mann trat ein, der schwerlich weniger als sechs Fuß und sechs Zoll maß und Brustkorb und Gliedmaßen eines Herkules besaß. Seine Kleidung war prächtig, aber von einer an schlechten Geschmack grenzenden Pracht, auf die man in England herabblicken würde. Schwere Astrachanstreifen waren an den Ärmeln und Vorderteilen seines zweireihigen Rocks aufgesetzt, während der dunkelblaue Umhang, den er über die Schultern geworfen hatte, mit feuerroter Seide gefüttert war und am Hals mit einer Brosche zusammengehalten wurde, die aus einem einzigen flammenden Beryll bestand. Stiefel, die seine Waden auf halber Länge bedeckten und oben mit reichem braunem Pelz besetzt waren, rundeten den Eindruck barbarischer Üppigkeit ab, den seine ganze äußere Erscheinung vermittelte. In der Hand hielt er einen breitrandigen Hut, über der oberen Gesichtshälfte aber trug er eine schwarze Maske, die bis auf die Backenknochen reichte und die er allem Anschein nach soeben erst zurechtgerückt hatte; denn seine Hand war noch erhoben, als er eintrat. Von der unteren Gesichtshälfte