Das große Buch der Berlin-Krimis 2017 - Romane und Erzählungen auf 1000 Seiten. Alfred BekkerЧитать онлайн книгу.
unter Beweis stellen!“
„Es geht um die Sache in Wien, Onkel Vladi! Das wächst uns über den Kopf!“
Vladi Gruschenko hob die Augenbrauen. „Erst handeln ohne nachzudenken und dann herumwinseln, wenn's mal ein bisschen Gegenwind gibt! Verdammt, das habe ich schon gerne! Reiß dich gefälligst zusammen!“
Artur Titow sah seinen Onkel mit festem, Entschlossenheit signalisierenden Blick an. „Du denkst, dass du die Sache auf deine bewährte Art und Weise schaukeln könntest... Aber das wird nicht der Fall sein. Wir werden uns etwas anderes ausdenken müssen.“
„Ich bin immer offen für vernünftige und praktikable Vorschläge“, sagte Vladi Gruschenko hart. „Nur für Geseiere habe ich wenig übrig.“
17
Zahlreiche Einsatzfahrzeuge parkten in der Straße vor Roswitha Delgados Haus. Die Blinklichter flackerten überall. Auch Kollegen der EED trafen ein. Wenn es zu Belastungsspitzen kam, dann sorgten die EED-Kollegen aus Berlin dafür, dass es bei der Sicherung und Auswertung von Spuren nicht zu vermeidbaren Verzögerungen kam – denn die nützten nur dem Täter.
Da der Mordanschlag auf Roswitha Delgado höchstwahrscheinlich mit dem Tod ihres Bruders in Zusammenhang stand, war es unser Fall – und da war es sinnvoll, wenn dieselben Kollegen tätig wurden, die auch die anderen zu diesem Komplex gehörenden Spuren untersucht hatten.
Mehrere EED-Spezialisten schauten sich im Garten um. Vor allem interessierte sie natürlich alles, was eventuell zwischen den Sträuchern vom Täter zurückgeblieben war. Dasselbe galt auch für das Nachbargrundstück.
Mit etwas Glück war er irgendwo im Gestrüpp hängen geblieben und hatte uns mit einer DNA-Probe sogar seine Visitenkarte hinterlassen.
Aber darauf wagten wir im Moment noch nicht zu hoffen. Immerhin fand sich ziemlich bald ein Fußabdruck, der jedenfalls nicht von mir stammte. Ein Turnschuh mit starkem Profil und in Größe 44. Ob uns das weiterbringen würde, musste sich noch zeigen.
Roswitha Delgado stand noch immer unter Schock und wir ließen ihr genügend Zeit, um sich einigermaßen fassen zu können.
Sie setzte sich im Wohnzimmer in einen ihrer Sessel und blieb dort die ganze Zeit über wie erstarrt sitzen.
Inzwischen führte ich ein etwas ausgedehnteres Telefongespräch mit unserem Innendienstler Max Herter.
Er hatte sich Roswitha Delgado inzwischen mal etwas genauer unter die Lupe genommen. „Sie scheint tatsächlich mit den Geschäften ihres Bruders nichts zu tun zu haben“, sagte Max. „Jedenfalls gibt es in sämtlichen angestellten Ermittlungen bisher keinen Ansatzpunkt in diese Richtung.“
„Trotzdem, ich bin überzeugt davon, dass sie mehr weiß, als sie uns bisher gesagt hat“, antwortete ich Max. „Dieser Mordanschlag wird schließlich nicht umsonst geschehen sein.“
„Bis vor drei Jahren war Roswitha Delgado mit einem Immobilienmakler namens Gerald Wirtz verheiratet. Wirtz war fünfzehn Jahre älter und starb durch einem Verkehrsunfall. Daraufhin hat Roswitha wieder ihren Mädchennamen angenommen und die Firma ihres Mannes ganz gut verkauft. Sie führt seitdem ein sorgenfreies Leben.“
„Keine verdächtigen Fernreisen?“, hakte ich nach. „Order irgendetwas anders, das den Verdacht nahe legen könnte, dass Roswitha doch den Kontakt zu ihrem Bruder aufrecht erhalten hat?
„Nicht, dass wir wüssten. Ich gebe allerdings zu, dass unser Bild da noch sehr lückenhaft ist“, erwiderte Max. „Aber wir arbeiten daran.“
18
Rudi und ich gingen ins Wohnzimmer. Die Schonzeit für Roswitha Delgado war vorbei.
„Sie sollten uns jetzt reinen Wein einschenken“, sagte ich.
Sie wandte den Kopf in meine Richtung und musterte mich auf eine Weise, die mir sehr kühl zu sein schien. Aber sie sagte kein Wort.
Also fuhr ich fort. „Entweder Sie hatten doch Kontakt zu Ihrem Bruder oder jemand denkt das. Allerdings läuft das für diejenigen, die Sie umbringen wollen, wohl auf dasselbe hinaus. Aber wenn Sie wollen, dass Ihr Leben geschützt wird, dann müssen Sie mit uns kooperieren. Sonst werden wir kaum etwas für Sie tun können. Der Killer, der es auf Sie abgesehen hatte, wird es erneut versuchen. Sie wissen nicht wann oder wo... Also packen Sie jetzt aus...“
„Möglicherweise wären Sie ein Fall für das Zeugenschutzprogramm“, ergänzte Rudi. „Sie könnten dann mit neuem Namen und neuer Identität weiterleben...“
Roswitha schluckte. „Okay“, murmelte sie. „Ich werde alles sagen...“
„Bitte!“, nickte ich. „Am besten fangen Sie mit dem Tag an, als Sie Ihren Bruder zum letzten Mal gesehen haben.“
„Das ist erst ein paar Wochen her“, gab sie zu. „Sie hatten recht mit Ihrer Vermutung, ich habe mich regelmäßig mit Jochen getroffen, seit er untergetaucht ist. Nicht oft natürlich. Nur so oft, wie es seine Sicherheit zuließ. Mal in Marokko, mal in der Schweiz oder...“
„In Wien?“
„Ja, da auch. Jochen mochte die Stadt sehr. Er lebte dort unter falscher Identität.“
„Sie werden mir sicher einen Namen nennen können.“
„Ich hatte ihm zuletzt einen englischen Pass besorgt. Er nannte sich Richard Reilley. Zuvor hatte er jahrelang unter der Identität eines Südafrikaners namens Ray van Straat gelebt, aber das brachte einige Komplikationen mit sich. Südafrika ist kein Mitglied der Europäischen Union und dadurch war es für ihn viel komplizierter, das Land zu wechseln, eine neue Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen und so weiter. Aber die Pässe von dort sind wohl leichter zu fälschen. Jedenfalls kostete es viel weniger...“ Sie atmete tief durch und machte eine Pause. Ihr Blick ging an mir vorbei und starrte auf die vom Spezialglas aufgefangenen Kugeln. Dann schloss sie für einen Moment die Augen, ehe sie fortfuhr. „Jochen konnte nur Englisch. Für Fremdsprachen hatte er einfach kein Talent, deswegen musste er mit einer Identität unterwegs sein, zu der das passte, was ihn natürlich etwas einschränkte. Außerdem wollte er natürlich in der Nähe seines Geldes sein...“
„...das vermutlich auf Schweizer Nummernkonten gut angelegt ist“, vermutete ich.
„Ja, unter anderem in der Schweiz, in Liechtenstein. Überall da, wo man das Bankgeheimnis respektiert.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Er hatte immer Freude an Geldgeschäften und er konnte es natürlich auch nicht lassen, als er im Exil war...“
Exil