Waidmannsruh. Alexandra BleyerЧитать онлайн книгу.
Kamera lieferte Aufnahmen, die auch in der Vergrößerung scharf genug waren, um Details zu erkennen.
Walters Auto.
Der Gewehrlauf, der aus der geschlossenen Fahrertür ragte.
Durch den Lautsprecher hallte der Schuss doppelt so laut.
Der Hirsch brach zusammen.
Jeder Zweifel war ausgeschlossen.
»Überleg dir gut, was du sagst«, äffte er Walter nach.
Er spielte das Video noch einmal ab; und noch einmal.
»Du Arschloch, ich habe den Beweis!«
»Hilfe! Rettet mich!«
Die hysterisch kreischende Frauenstimme übertönte sogar die laute Musik. Martin trat eilig ein paar Schritte von der Menge zurück, die sich an die Absperrgitter drängte, und sah sich suchend um. War es nur Spaß oder war sein Eingreifen erforderlich? Bei Krampusumzügen wie in Obervellach oder bei der heutigen Perchtenmania hier oben in Mallnitz war Polizeipräsenz gefragt. Der Erfahrung nach galt es aber mehr auf das zu achten, was auf dieser Seite der Absperrungen oder bei den Afterpartys stattfand. In den letzten Jahren waren die Sicherheitsbestimmungen immer strenger geworden, die Perchtengruppen auch dank des strikten Alkoholverbots disziplinierter, um Körperverletzungen zu vermeiden. Das Schaulaufen vor dem Publikum war mit entsprechender Musik, Special Effects und feurigen Einlagen spektakulär genug; da konnte man auf wildes Schlagen gut verzichten, zumal sich viele Kinder aufgeregt an die Gitter drängten. Im Umgang mit den jungen Zuschauern zeigten sich die meisten Perchten rücksichtsvoll und überlegt. Klar, da wurde schon mal eine Haube vom Kopf gezerrt oder mit rußigen Fingern über die Gesichter gefahren; das gehörte zum Spaß dazu. Die Mutigen freuten sich über ein High five der finsteren Gesellen, ängstlicheren Kindern versuchten sie, die Scheu zu nehmen.
Die letzte Körperverletzung, die sie im Zuge eines Krampusumzugs bearbeiten mussten, war einem jugendlichen Zuschauer geschuldet, der in seinem Übermut – und ja, unter Alkoholeinfluss – einen Krampus an den Hörnern gepackt und ihm die Maske vom Kopf zu reißen versucht hatte. Die völlig falsch verstandene Mutprobe hatte dem Träger eine Nackenverletzung und dem Verursacher eine Treichelsche Standpauke sowie eine Anzeige eingebracht.
Heute standen aber gar nicht so sehr die Perchten im Mittelpunkt der polizeilichen Aufmerksamkeit als der freche Dieb, der hier sein Unwesen trieb. Die Beherbergungsbetriebe waren im Zuge kriminalpräventiver Maßnahmen aufgeklärt und zu Wachsamkeit aufgerufen worden. Verständlich war, dass vor allem deren Inhaber auf eine rasche Klärung drängten, denn ein Meisterdieb war keine gute Werbung für die Region; verunsicherte Gäste konnte niemand gebrauchen.
Zwar war Mallnitz normalerweise nicht mit touristischen Hotspots wie beispielsweise dem Tiroler Ischgl zu vergleichen, das mit seinem exzessiven Nachtleben schon mal »Ballermann der Alpen« genannt wurde. Hier ging es meist ruhig und gemütlich zu – sah man von Volksaufläufen wie dem herbstlichen Almabtrieb und eben der Perchtenmania ab, bei denen sich zeigte, dass man auch in Mallnitz zu feiern verstand. Nur zu leicht könnte daher der unbekannte Täter in der Menge untertauchen – neben Einheimischen drängten sich die »kopflosen« Mitglieder der zahlreichen Perchtengruppen wie auch Touristen aneinander – und die ausgelassene Partystimmung ausnutzen. »Augen auf!«, hatte Treichel entsprechend als Motto ausgegeben.
Da warf sich jemand von hinten auf Martin. Nein, jemand sprang ihm auf den Rücken!
»He!«
Er packte das Handgelenk des Angreifers, der die Arme um seinen Hals geschlungen hatte und wie ein verrückt gewordener Klammeraffe an ihm hing.
»Ich werde verfolgt!«, brüllte ihm die Stimme direkt ins Ohr.
Eine verflixt vertraute Stimme, wie er gerade noch rechtzeitig erkannte, bevor er zur Selbstverteidigung schritt. Er wollte seinem Schwiegervater in spe lieber nicht erklären müssen, warum seine geliebte Tochter ein blaues Auge hatte. Oder ein verstauchtes Handgelenk.
»Eine wilde Bestie ist hinter mir her! Ein Monster! Es will mich schlagen! Rette mich!«
Mit Betti immer noch huckepack, drehte sich Martin um. Der grimmige Verfolger war rasch ausgemacht. Dass Martin eine Polizeiuniform trug, schreckte ihn nicht ab.
»Diese holde Maid steht unter meinem persönlichen Schutz!«, erklärte Martin und bemühte sich um einen ernsten Gesichtsausdruck.
Dieser schaurige Geselle war nur eine halbe Portion, auch wenn ihn das dicke Fell, das ihn von Kopf bis Fuß verhüllte, sowie die Maske mit den spitzen Hörnern größer wirken ließ. Um den Nachwuchs mussten sich die Perchtengruppen offenkundig keine Sorgen machen; bei vielen der spektakulären Showläufe rannten schon die Jüngsten mit.
Der kleine Teufel vor ihnen hob seine Reisigrute an, die länger war als er selbst.
Er schlug zu.
»Autsch!«, machte Martin. Das tat glatt weh.
Betti, die zwar ihre Beine um seine Mitte geschlungen hatte, aber dennoch auch etwas abbekam, kreischte.
Ein zweiter Hieb traf ihn.
»Das reicht! Schluss! Aus!«, wurde Martin energischer und hielt dem Winzling – Pfefferspray und Dienstpistole erschienen ihm doch unpassend bei all den Zeugen – den Zeigefinger drohend vor die geschnitzte Fratze.
Das Teufelchen holte erneut aus.
Betti schrie. Oder war es ein Lachen? So genau ließ sich das nicht sagen.
»Genug, junger Mann!«
Das wirkte. Die Rute wurde gesenkt, die Maske mit einem Ruck heruntergerissen.
»Ich bin kein junger Mann«, protestierte ein Mädchen, das garantiert noch nicht in die Schule ging.
Martin blinzelte. Mit der frechen Stupsnase und dem langen blonden Zopf, der über das dunkle Fell hing, erinnerte es ihn an Kindheitsfotos von Bettina. Viel zu leicht konnte er sich vorstellen, dass ihre gemeinsame Tochter genau so aussah. Niedlich und herzallerliebst.
»Ah, so ein süßes Krampusmädchen«, seufzte Betti und wagte es, abzusteigen. Sie hockte sich vor das Kind. »Wie heißt du denn?«
»Larissa.«
Larissa grinste zu ihnen hoch. Da ging einem das Herz auf! Dann stülpte sie sich ihre Maske wieder über. Zwar wurde ihre helle Kleinmädchenstimme dadurch etwas gedämpft, war aber dennoch klar verständlich: »Lauf um dein Leben! Du kriegst Wichs!«
»Ähm«, brachte Martin noch hervor; aber Betti schnallte schneller als er, dass Larissa es ernst meinte, und ergriff in übertrieben gespielter Angst die Flucht. Mit wildem Gebrüll raste die Kleine ihr nach.
Martin schmunzelte. Zu gern hätte er sich an der ausgelassenen Jagd beteiligt. Aber er war im Dienst wie Gerhard, den er oben am Dorfplatz »verloren« hatte und dem er eine Begegnung mit einer beißenden Rute vergönnte. Martin schlenderte weiter Richtung Festzelt, vorbei an altehrwürdigen, einfach nur in die Jahre gekommenen und neuen Gebäuden. Mallnitz bot einen wilden Stilmix und versprühte damit einen ganz eigenen Charme. Hoch gelegen und von Bergen umrahmt, war es einerseits ein malerisches Bauerndorf, dem andererseits der Fremdenverkehr seinen Stempel aufgedrückt hatte – und das seit mehr als hundert Jahren. Noch bevor 1909 die Tauernbahn fertiggestellt worden war, hatten Alpinisten die faszinierende Bergwelt für sich entdeckt. Mit dem Anschluss an das europäische Eisenbahnnetz hatte der hiesige Tourismus einen enormen Schub erfahren; nun konnten sowohl Sommerfrischler und Bergsteiger wie zunehmend auch Wintersportler bequem per Zug anreisen. 1934 fanden hier sogar die österreichischen Skimeisterschaften statt.
Wie die Schwammerln schossen im frühen 20. Jahrhundert Gasthöfe und Hotels aus dem Boden und veränderten das Ortsbild, aber ohne den bäuerlichen Charakter zuzubetonieren. Auch hoch oben in den Bergen wurden moderne Schutzhütten gebaut wie das Hannoverhaus auf dem Elschesattel, das eine schlichte Vorgängerhütte ersetzte. Von dort konnte man bis zum Großglockner und zu den Dolomiten sehen. Erst vor wenigen Jahren war unterhalb der Bergstation der Ankogelbahn ein neues, komfortables Hannoverhaus errichtet