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Insel der verlorenen Erinnerung. Yoko OgawaЧитать онлайн книгу.

Insel der verlorenen Erinnerung - Yoko Ogawa


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stocherten mit Stöcken, die sie irgendwo aufgelesen hatten, darin herum. Aber der Fluss ließ sich dadurch nicht stören, sondern strömte unbeirrt weiter. Hin und wieder gab es ein Hindernis in Form einer Sandbank oder eines Pfahls, doch angesichts der gewaltigen Menge von Blütenblättern stellten auch sie kein Hindernis dar. Läge man auf dem Wasser, würden die Rosen einen umhüllen wie eine weiche Decke.

      »Wer hätte das gedacht?«

      »Wie beeindruckend! So etwas haben wir noch nie erlebt, wenn etwas verschwunden ist.«

      »Sollte man es nicht fotografieren?«

      »Besser nicht. Was nützen Aufnahmen von etwas, das es nicht mehr gibt.«

      »Stimmt, das macht keinen Sinn.«

      Die Leute tuschelten leise miteinander, um nicht die Aufmerksamkeit der Polizisten zu erregen.

      Außer der Bäckerei war noch keines der Geschäfte geöffnet. Ich wollte nachschauen, was mit den Rosen im Blumenladen geschehen war, aber die Fensterläden waren geschlossen. In den Bussen und Straßenbahnen saßen keine Fahrgäste. Der Himmel riss auf und die Sonne löste den Morgennebel zusehends auf, der intensive Geruch aber blieb.

      Wie zu erwarten, war im Rosengarten keine einzige Blüte mehr übrig. Wie knochige Skelette ragten die leeren Stängel, die nur noch Blätter und Dornen trugen, in die Luft. Hin und wieder kam ein Windstoß vom Hügel herunter und wehte die letzten Blütenblätter vom Boden in Richtung Fluss.

      Keine Menschenseele war zu sehen – weder die auffällig geschminkte Frau, die sonst an der Kasse saß, noch die Gärtner und natürlich auch keine Besucher. Ich überlegte kurz, ob ich trotzdem Eintritt zahlen sollte, aber dann schlüpfte ich unter dem Drehkreuz hindurch und folgte dem sich dahinschlängelnden Weg, auf dem Schilder den Rundgang markierten.

      Einige Pflanzen hatten überlebt, Glockenblumen, Enzian und stachelige Kakteen. Aber sie blühten eher im Verborgenen, als schämten sie sich ihrer Anwesenheit. Der Wind schien es nur auf die Rosen abgesehen zu haben, deren Blütenblätter er unermüdlich mit sich forttrug.

      Ein Rosarium ohne Rosen war ein trostloser Ort, der seine Bedeutung verloren hatte. Umso trauriger war der Anblick all der Spaliere und Bewässerungsanlagen, die zur Pflege der Rosen errichtet worden waren. Der wohlgenährte Boden schmatzte weich, während ich voranschritt. Das Rauschen des Flusses war hier oben nicht zu hören. Die Hände in den Jackentaschen vergraben, marschierte ich herum, als irrte ich über einen Friedhof voll anonymer Gräber.

      Doch wie eindringlich ich die Dornen, all die Blätter und Stängel auch betrachtete, wie genau ich die Beschreibungen der jeweiligen Arten auf den Schildchen daneben studierte, meine Erinnerung an das Aussehen einer Rose war bereits verblasst.

      7

      Es dauerte drei Tage, bis der Fluss sein ursprüngliches Erscheinungsbild zurückgewann. Auch die Karpfen – wo hatten sie sich die ganze Zeit über versteckt? – zogen wieder ihre Kreise im Wasser.

      Am zweiten Tag kamen alle, die in ihren Gärten Rosen gezüchtet hatten, um die Blütenblätter den Fluten zu übergeben.

      Am Steg nahe dem Waschplatz stand eine elegant gekleidete Dame.

      »Sie sind wunderschön«, lobte ich ihre Blumen.

      Obwohl alles, was mit Rosen zu tun hatte, keine Gefühle mehr in mir auslöste, wollte ich der Frau, die ihre Prachtstücke auf so innige Weise zu verabschieden schien, etwas Freundliches sagen. Das war das Einzige, was mir dazu einfiel.

      »Vielen Dank. Sie haben letztes Jahr auf der Blumenschau eine Goldmedaille gewonnen.«

      Meine Worte schienen ihr geschmeichelt zu haben.

      »Sie waren eine Erinnerung an meinen verstorbenen Vater.«

      In ihrer Stimme schwang jedoch kein Bedauern mit, als sie die Rosenblätter abpflückte und ins Wasser fallen ließ. Nur die Fingernägel hatte sie im passenden Farbton lackiert.

      Als sie das Ritual beendet hatte, ging sie mit einem vornehmen Kopfnicken ihrer Wege, ohne noch einmal einen Blick auf den Fluss zu werfen, auf dem die Blütenblätter ins ferne Meer trieben. Auch wenn der Fluss von ihnen fast vollkommen bedeckt gewesen war, würden sie sich bald schon in den Weiten des Ozeans verlieren.

      Ich schaute mir das Schauspiel zusammen mit dem alten Mann auf dem Deck der Fähre an.

      »Merkwürdig, dass der Wind die Rosenblätter von allen anderen unterscheiden konnte«, sagte ich und rieb mit dem Daumen über eine rostige Stelle auf der Reling.

      »Dafür gibt es keine vernünftige Erklärung. Wir wissen nur, dass die Rosen verschwunden sind.«

      Der alte Mann trug über der Arbeitshose, die noch aus seiner Zeit als Mechaniker stammte, den Pullover, den ich für ihn gestrickt hatte.

      »Aber was wird nun aus dem Rosengarten?«

      »Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf. Entweder es werden andere Blumen wachsen, oder man pflanzt dort Obstbäume an. Das Terrain kann auch als Friedhof genutzt werden. Wer weiß das schon? Die Zeit heilt alle Wunden. Sie verstreicht unaufhaltsam und lässt sich von niemandem beeinflussen.«

      »Jetzt, wo nach der Vogelwarte auch der Rosengarten betroffen ist, kommt mir hier oben auf dem Hügel alles sehr traurig vor. Es gibt nur noch die alte Bibliothek.«

      »Da haben Sie recht. Als Ihr Vater noch am Leben war, hat er mich oft in die Vogelwarte eingeladen. Wenn ein seltener Vogel vorüberzog, habe ich mir von ihm das Fernglas geborgt. Zum Dank habe ich sanitäre Anlagen oder elektrische Leitungen repariert. Im Rosengarten kannte ich den zuständigen Gärtner, und wenn eine neue Art anfing zu blühen, durfte ich sie mir gleich anschauen. Deshalb bin ich immer gerne den Hügel hochgewandert. Aber für jemanden wie mich ist die Bibliothek nutzlos. Außer wenn ein Buch von Ihnen erscheint. Dann bin ich sofort hingegangen, um zu prüfen, ob es dort auch im Regal steht.«

      »Wirklich? Sie haben sich meinetwegen solche Umstände gemacht?«

      »Aber natürlich. Ich hätte mich sofort beschwert, wenn ich Ihr neues Buch nicht gefunden hätte. Das war zum Glück nie der Fall.«

      »Aber es gibt doch kaum Leute, die meine Romane lesen.«

      »Das stimmt nicht. Zwei Personen haben mit Sicherheit Ihre Bücher ausgeliehen: ein Schulmädchen und ein Büroangestellter. Das habe ich auf der Ausleihkarte gesehen.«

      Der alte Mann war ganz aufgeregt. Von der eiskalten Meeresbrise war seine Nasenspitze rot angelaufen.

      An der Schiffsschraube hatten sich Blütenblätter gesammelt. Nach der langen Reise den Fluss hinunter trieben sie nun im Meerwasser und waren sichtlich ausgelaugt. Sie hatten an Frische und Glanz verloren und sich mit Algen, toten Fischen und Abfall vermengt. Ihr intensiver Duft hatte sich verflüchtigt.

      Wenn eine größere Welle gegen den Rumpf schlug, geriet das Schiff ins Wanken. Es knarrte dann überall. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne trafen den Leuchtturm auf der gegenüberliegenden Landspitze.

      »Aber was wird nun aus Ihrem Freund, dem Gärtner?«, fragte ich.

      »Er ist bereits im Ruhestand. In seinem Alter braucht er auch keine Angst mehr vor der Erinnerungspolizei zu haben. Er mag wahrscheinlich vergessen haben, wie man Rosen züchtet, aber er kann sich ja um andere Sachen kümmern. Seinen Enkeln die Ohren sauber machen oder seine Katzen von Flöhen befreien. Es gibt immer genug zu tun.«

      Der alte Mann tippte mit der Schuhspitze auf das Deck. Es waren ausgetretene, aber sehr robuste Schuhe. Sie waren so alt, dass man meinte, sie seien ein Teil von ihm.

      »Manchmal bekomme ich es schon mit der Angst zu tun«, sagte ich, ohne aufzuschauen. »Es werden immer mehr Dinge verschwinden. Was soll nur aus der Insel werden?«

      Der alte Mann griff sich an sein stoppeliges Kinn. Es schien, als würde er den Sinn meiner Frage nicht verstehen.

      »Wie meinen Sie das …?«


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