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Insel der verlorenen Erinnerung. Yoko OgawaЧитать онлайн книгу.

Insel der verlorenen Erinnerung - Yoko Ogawa


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bin.

      Nach meinem Besuch im Hafen klettere ich für gewöhnlich den Hügel hinauf zur Vogelwarte. Aber dort halte ich es nie lange aus. Beim Anblick des Meeres hole ich ein paar Mal tief Luft, dann steige ich wieder hinab. Auch hier haben die Erinnerungspolizisten ganze Arbeit geleistet und eine Ruine hinterlassen. Nichts erinnert mehr an die Vogelwarte, die wissenschaftlichen Mitarbeiter haben sich in alle Winde zerstreut.

      Wenn ich vor dem Fenster stehe, aus dem ich zusammen mit meinem Vater durch das Fernrohr blickte, kommen auch heute noch Vögel angeflattert, aber sie führen mir vor Augen, dass sie für mich keine Bedeutung mehr haben.

      Wenn ich unten angekommen bin und die Stadt durchquere, ist die Sonne bereits untergegangen. Abends wird es ruhig auf der Insel. Nach Dienstschluss verlassen die Menschen ihren Arbeitsplatz, die Kinder laufen nach Hause, Lieferwagen, die Waren zum Markt gebracht haben, rumpeln leer und mit knatterndem Motor vorbei. Und dann kehrt Stille ein. Als würde sich die ganze Insel darauf vorbereiten, dass morgen wieder etwas verschwindet.

      So bricht die Nacht über uns herein.

      4

      Als ich am Mittwochnachmittag mein Manuskript in den Verlag brachte, begegnete ich unterwegs einem Spähtrupp. Es war das dritte Mal in diesem Monat.

      Sie wurden zusehends rücksichtsloser und gewalttätiger. Seit fünfzehn Jahren schon trieben sie ihr Unwesen, denn so lange war es her, dass meine Mutter verschleppt wurde.

      Damals gab es außer ihr noch andere unbeugsame Menschen, die ihre Erinnerungen an Verlorenes nicht aufgeben wollten. Einer nach dem anderen wurde von der Erinnerungspolizei aufgespürt und weggeschafft. Niemand wusste, wohin man sie brachte.

      Ich war gerade aus dem Bus gestiegen und wartete auf das Signal zum Überqueren der Straße, als drei grüne Armeelastwagen sich der Kreuzung näherten. Die anderen Fahrzeuge verlangsamten ihr Tempo und fuhren an die Seite, um sie vorbeizulassen. Die Lastwagen hielten vor einem Gebäude, in dem sich eine Zahnarztpraxis befand, eine Versicherungsgesellschaft sowie ein Tanzstudio. Etwa zehn bewaffnete Männer sprangen heraus und stürmten ins Haus. Den Leuten auf der Straße stockte der Atem. Einige versteckten sich ängstlich in Seitenstraßen. Alle schienen inständig zu hoffen, dass das, was sich vor ihren Augen abspielte, möglichst bald vorbei sei, ohne dass sie selbst in die Sache hineingezogen wurden. Eine gespenstische Stille umgab die Lastwagen, die ganze Umgebung war wie erstarrt.

      Ich selbst stand stocksteif hinter einem Laternenpfahl, den Umschlag mit dem Manuskript an die Brust gedrückt. Die Ampel sprang derweil von Grün auf Gelb, dann auf Rot und wieder auf Grün. Niemand überquerte den Fußgängerüberweg. Die Fahrgäste in der Straßenbahn blickten zu uns nach draußen. Der Umschlag an meiner Brust war mittlerweile ganz zerknittert.

      Kurz darauf hörte man Schritte. Es waren energische, rhythmische Schritte von Armeestiefeln, begleitet von Schritten, die eher schleppend waren, zögerlich. Verschiedene Leute traten aus dem Gebäude, einer nach dem anderen. Zwei ältere Herren, eine etwa dreißigjährige Frau mit rotbraun gebleichtem Haar, ein mageres Mädchen von etwa zwölf Jahren. Obwohl die kalte Jahreszeit noch nicht angebrochen war, trugen sie mehrere Hemden und Blusen unter ihren Mänteln und hatten mehrere Tücher um den Hals geschlungen. Außerdem hatten sie prall gefüllte Reisetaschen und Koffer bei sich. Anscheinend wollten sie so viele nützliche Sachen wie möglich mitnehmen. Ihr Anblick – die hastig übergeworfenen Kleidungsstücke, die schlecht geschlossenen Taschen, aus denen der Inhalt herausquoll, die offenen Schnürsenkel –, alles deutete darauf hin, dass sie völlig unvorbereitet und auf die Schnelle hatten packen müssen. Mit der Waffe im Rücken wurden sie aus dem Haus getrieben. Dennoch wirkten die vier keineswegs verzweifelt. Ruhig schweifte ihr Blick in die Ferne. Darin lagen Erinnerungen verborgen, von denen wir nichts wussten.

      Wie üblich erledigten die Uniformierten mit den blitzenden Abzeichen am Revers ihre Arbeit, ohne auch nur eine Sekunde zu verschwenden. Vier Beamte schritten an uns vorbei. Der stechende Geruch von Desinfektionsmittel stieg mir in die Nase. Vielleicht hatte man jemanden aus der Zahnarztpraxis festgenommen.

      Die Verhafteten wurden einer nach dem anderen auf die mit Planen verhängte Ladefläche des Lastwagens gestoßen. Die Waffen waren die ganze Zeit auf sie gerichtet. Als Letzte war das Mädchen dran, das seine orangefarbene, mit einem Teddybär bestickte Tasche auf die Ladefläche warf, um dann selbst hochzusteigen, aber der Tritt war offensichtlich für die Kleine zu hoch und sie rutschte ab.

      Mir entfuhr ein Schrei, und der Umschlag fiel zu Boden. Manuskriptblätter flatterten über den Bürgersteig. Die anderen Passanten drehten sich ruckartig um und warfen mir missbilligende Blicke zu. Sie alle fürchteten, es könnte Ärger geben, wenn man die Aufmerksamkeit der Beamten auf sich zog.

      Ein Junge, der in der Nähe stand, half mir beim Aufsammeln der Manuskriptblätter. Einige waren in Pfützen gelandet und durchnässt, ein paar zertrampelt, aber wir rafften sie hastig zusammen.

      »Haben Sie alles?«, flüsterte der Junge mir ins Ohr.

      Ich nickte und blickte ihn dankbar an.

      Der durch mich verursachte Zwischenfall hatte keinerlei Auswirkungen auf das Vorgehen der Polizei. Keiner der Männer blickte in meine Richtung.

      Einer der Beamten, der schon auf die Ladefläche geklettert war, reichte dem Mädchen die Hand und half ihm hinauf. Seine spitzen Knie, die unter dem Rock hervorschauten, wirkten noch ganz kindlich.

      Man ließ die Planen herunter, der Motor wurde gestartet.

      Es dauerte eine ganze Weile, bis die Zeit wieder ihren normalen Gang nahm. Als die Motorengeräusche verklungen und die Lastwagen außer Sicht waren, fuhr die Straßenbahn wieder an. Erst da war ich mir sicher, dass der Einsatz vorbei und ich unbeschadet davongekommen war. Die Passanten zerstreuten sich und gingen wieder ihren Geschäften nach. Der Junge überquerte den Fußgängerüberweg.

      Beim Anblick der nun verschlossenen Tür des Gebäudes fragte ich mich, wie sich der Griff des Polizisten für das Mädchen angefühlt haben musste.

      »Unterwegs habe ich eine schreckliche Szene erlebt«, erzählte ich meinem Lektor R in der Lobby des Verlags.

      »Etwa die Erinnerungspolizei …?«

      R zündete sich eine Zigarette an.

      »Ja. Es ist wieder schlimmer geworden.«

      »Daran wird man nichts ändern können.«

      Er stieß langsam den Rauch aus.

      »Aber heute sind sie anders vorgegangen als sonst. Gegen Mittag haben sie auf einen Schlag vier Personen aus einem Gebäude in der Innenstadt geführt. Bislang habe ich nur erlebt, dass in einem abgelegenen Wohnviertel ein einzelnes Familienmitglied verhaftet wurde.«

      »Vielleicht hatten die vier sich dort in einem geheimen Unterschlupf versteckt.«

      »Einem Unterschlupf?«

      Kaum hatte ich das unbekannte Wort ausgesprochen, biss ich mir auf die Lippen. Es hieß, man solle in der Öffentlichkeit tunlichst vermeiden, über heikle Themen zu sprechen. Man müsse immer damit rechnen, dass in der Nähe ein Zivilbeamter lauert. Über die Erinnerungspolizei kursierten allerhand Gerüchte.

      Doch in der Lobby herrschte kaum Betrieb. Außer drei Männern in Anzügen, die über einen Aktenstapel gebeugt miteinander diskutierten, saß bloß noch die Empfangsdame an der Rezeption und schaute gelangweilt drein.

      »Ich schätze, sie haben einen Raum im Gebäude als Unterschlupf genutzt. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht, um sich zu verstecken. Angeblich soll ein großes, verdeckt operierendes Netzwerk existieren, das diese Leute unterstützt. Man nutzt Verbindungen, um ihnen eine sichere Unterkunft, Geld und Verpflegung bereitzustellen. Aber wenn die Polizei nun auch schon solche Verstecke ausfindig macht, dann gibt es keinen sicheren Zufluchtsort mehr.«

      R schien noch etwas hinzufügen zu wollen, griff jedoch stattdessen nach seiner Kaffeetasse und ließ den Blick schweigend über den Innenhof schweifen.

      Dort stand


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