Angst. Petra RamsauerЧитать онлайн книгу.
verbarrikadiert waren. Im Notfall wurden dort auch die vielen Brandwunden mit Lehm behandelt, da Medikamente fehlten. Ärzte erzählten, sie müssten auch Amputationen ohne Anästhesie durchführen. Doch die größte Angst waren Luftangriffe, die das Wenige, was noch an Hilfe möglich war, pulverisierten. Eine 13-Jährige lag wimmernd, hoch fiebernd in einem Krankenbett. Ihre Leber war von einem Granatsplitter zerfetzt worden. In einer Not-Operation war es gelungen, ihr Leben zu retten, nur ohne Antibiotika waren die Komplikationen nach dem Eingriff kaum in den Griff zu bekommen. Niemand vom medizinischen Personal wollte mir seinen Namen nennen oder auf ein Foto. „Ärzte, die im Oppositionsgebiet arbeiten, gelten als Terroristen, unsere Familien geraten in größte Gefahr, wenn man uns identifiziert“, erklärte mir ein Arzt. Viele stammten wie er aus dem immer schon besser situierten Westen Aleppos, nannten sich „medizinische Deserteure“.
Die für mich besonders wichtigen Einblicke während meiner Reisen in diese Region boten Begegnungen mit den Trägern und Trägerinnen des Aufstandes gegen das syrische Regime. Ich traf einen Anwalt und einen Richter, die in ihren vereinsamten Büros eine neue Verfassung für Syrien erarbeitet hatten. Rechtsstaatlichkeit, Kontrollorgane der Macht, freie Wahlen: Dafür sollte ein dicker Stapel Papier den Rohentwurf bilden. Sie knallten mir den Packen wutschnaubend auf einen Tisch. Das würde doch der Westen wollen, und warum bekämen sie keine Hilfe, lautete ihr Vorwurf. Einen Tag nach unserem Gespräch wurden sie verhaftet. Von den „eigenen“ Leuten. Denn ihr neues Syrien war den islamistischen Fraktionen der Opposition nicht genehm. Diese hatten mächtige Milizen als Rückhalt; finanziert von den Golfstaaten und der Türkei mit einer klaren politischen Agenda, die sich als „Scharia“-Gericht manifestiert hat, untergebracht am Gelände der ehemaligen Augenklinik im Osten Aleppos.
Zirka 300.000 Menschen lebten damals noch in diesem Teil der einstigen Wirtschaftsmetropole Syriens. Die Industriegelände waren Kraterlandschaften, die Infrastruktur, der Kanal und die Wasserversorgung desolat. Diesel für Generatoren und Fahrzeuge wurde in Limonaden-Flaschen am Straßenrand um horrende Preise verhökert. Unter Kindern grassierte die Krätze, aus Schulen wurden provisorische Unterrichtseinheiten in Kellern. Jede Sekunde konnte hier blitzartig eine Fassbombe einschlagen. Tonnenschwere Geschosse, gefüllt mit Sprengstoff, Nägeln, manchmal Chlorgas. Die Vorwarnzeit für solche Fassbomben lag, wenn es hell war, bei einer halben Minute. Ein kleiner Punkt am Himmel war zu sehen, ein Surren war zu hören, dann der Lärm der Detonation.
Tausende solcher Fassbomben torpedierten jahrelang Aleppos Osten. Wenn sie in den Häuserreihen ihre heimtückische Sprengkraft entfalteten, zerfetzten die Metallteile alle in nächster Nähe. Staubwolken gingen hoch, die Lungen kollabieren ließen. Menschen erstickten qualvoll. Es war billige Munition, die ein Maximum an Angst und ein Minimum an Kosten verursachte. Nicht einmal der Tod der eigenen Bevölkerung war Syriens Regime mehr wert als das Recycling von Metallschrott.
Ich schlief mit einer Tasche in der Hand, in der Telefon, Pass und Bargeld steckten. Die Stiefel, die kugelsichere Jacke legte ich neben das Bett. Bevor ich mich hinlegte, übte ich mehrmals die Handgriffe, um alles zu finden, damit ich mich auch im Dunkeln und im Halbschlaf blitzschnell in Sicherheit bringen konnte. Geholfen hätte es im Ernstfall niemals. Aber es half mir einzuschlafen, eingelullt in eine selbstgestrickte europäische Blase, in der Kontrolle Sicherheit vorgaukelt.
Warum es hilft, etwas zu riskieren
Vor solchen Reisen wäge ich zig Male ab, ob das Risiko noch in irgendeiner Relation zum Nutzen steht. Wenn ich passe, lese ich oft mit ein wenig Neid die Reportagen anderer, die sich öfters als ich vor allem nach Syrien wagten. Auch das gehörte zu meinem Alltag: zu lernen, solche Gefühle mit Hilfe von ein paar sehr langen Atemzügen vom Ego abperlen zu lassen. Die sozialen Medien befeuern diesen Mix an Konkurrenz und der Versuchung, sich als einzigartige Reporter-Marke zu präsentieren, das Image durch immer mehr, immer riskantere Recherchen zu festigen. Älter und gelassen zu sein tut in diesem Klima gut. Denn auch da lauern Risiken. Das „Selfie“ im Kriegsgebiet verstellt nicht nur den Blick auf die Geschichte, es entstellt auch mich zur Darstellerin einer unechten Heldinnen-Saga. Reisen, wie ich sie oben kurz beschreibe, machen nur dann Sinn, wenn ich mehr als meine Geschichte erzählen kann. Nur so lässt sich langfristig Qualität schaffen, die Erfolg begründet.
„Es gibt nur zwei Gründe, als Reporter in seinen Texten aufzutreten. Man ist entweder sehr schwer verwundet worden, oder man hat etwas wirklich Außergewöhnliches gesehen“, stellt der amerikanische Journalist Peter Kann4 für mich wohltuend klar fest. Alles andere sei seiner Meinung nach – und hier leger zusammengefasst – Zeichen von sehr schlechtem Geschmack. Kann wurde 1972 für seine Reportagen über den Krieg zwischen Indien und Pakistan mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet, schrieb über den Vietnam-Krieg. Es war jene Ära, in der Kriegsberichterstattung zu einer gewichtigen Rolle fand. Nick Uts Foto der neunjährigen Kim Phúc, die mit ausgestreckten Händen aus ihrem Dorf läuft, das mit Napalm-Bomben angegriffen worden war5, ist das bekannteste Beispiel. Dieser Krieg wurde nicht nur in Fernost verloren, sondern auch in der von Massenmedien neu formierten Nachrichten-Landschaft.
Reporter und Reportinnen, die in dem Jahrhundert vor Vietnam in diesem Genre gearbeitet haben, zum Beispiel im Spanischen Bürgerkrieg oder in den beiden Weltkriegen, haben sich natürlich bereits als mehr als neutrale Chronisten der Ereignisse verstanden. Vom Krieg zu erzählen war immer auch ein politisches Statement, das die elektronischen Medien verstärkten. Ein wesentlicher Impuls, der Kriegsberichterstattung auch als Mission definierte, war der Bosnien-Krieg, besonders die immens riskante Berichterstattung über die Belagerung Sarajewos: Von 1992 bis 1996 war die Stadt eingekesselt, über 10.000 Menschen starben bei den hunderten täglichen Angriffen. „Es gab eine ganz klare moralische Agenda. Es war eindeutig, welche Seite die falsche und welche die richtige war“, so der Fotoreporter Paul Lowe6. „Das war nicht parteiisch, auch wenn ich eigentlich kein Problem damit habe, mich für eine Seite stark zu machen.“ Es sei, sagt er, etwas anderes, als ein Zeuge von Geschehnissen aufzutreten, als bloß Augenzeuge zu sein. Es ist eine feine, aber gewaltige Unterscheidung, die er hier trifft, und die mein Verständnis meiner Arbeit gut erläutert: Für sie bin ich bereit, auch gefährliche Situationen in Kauf zu nehmen.
Zu den riskantesten Dingen gehört aber, davon bin ich felsenfest überzeugt, darauf zu vertrauen, dass solche Reportagen mit Sicherheit etwas bewegen können und sich zu einem politischen Drehmoment verdichten. Es deshalb zu tun, führt geradewegs in die Verzweiflung. Ein halbes Jahrhundert, bevor die von sozialen Medien dynamisierte Informationsflut so richtig einsetzte, hielt Susan Sontag der Branche bereits einen sehr kritischen Spiegel vor. Intensiv wie wenige andere hat sich die Autorin, Regisseurin und Philosophin mit der Schnittmenge von Gewalt, Krieg und Fotografie auseinandergesetzt. Ihre Essay-Sammlung Über Fotografie aus dem Jahr 1971 ist ein ernüchterndes Dokument für jene, die meinen, ihr Leben als Reporter dafür zu riskieren, dass Kriege aufgehalten werden können. Unter anderem schreibt sie, dass Abstumpfung durch die Dauer-Information die nötige Empörung verhindere. Später revidiert sie ihre Kritik allerdings. In dem Buch Das Leiden der Anderen betrachten7 schreibt sie dreißig Jahre später: „Es ist schlicht nicht vorstellbar, wie abscheulich, wie horrend Krieg ist. Wir – dieses ‚wir‘ ist ein jeder von uns, der niemals so etwas erlebt hat oder erleben wird, was diese Menschen aushalten. Wir begreifen das einfach nicht.“ – Erst durch die Berichterstattung darüber bestehe so etwas wie eine Chance, dass solche Erlebnisse real würden. Exakt darin definieren sich für mich Sinn wie auch Erfolg meines Jobs, für den ich Risiken eingehe: Erzählen, was ist.
Unaufgeregt und treffend beschreibt dies einer der wichtigsten zeitgenössischen Fotojournalisten, James Nachtwey: „Durch deine Fotos kommst du mit jenen Erfahrungen in Kontakt, die Menschen, die du siehst, durchmachen. Man ist im selben Raum, zur selben Zeit, und muss die gleichen Risiken aushalten. Aber ich habe meine Arbeit nie um den Selbstzweck des Risikos getan. Es auf mich zu nehmen war einfach nur die Voraussetzung dafür, meinen Job machen zu können.“8
„Geh raus, bevor du die Story hast“
Er sei „spezialisiert auf die Wirklichkeit“, formuliert der deutsche Fotoreporter