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Der böse Trieb. Alfred BodenheimerЧитать онлайн книгу.

Der böse Trieb - Alfred Bodenheimer


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      »Haben Sie denn einen Verdacht?«

      »Offen bedroht wurde Viktor eigentlich nur von einer Person.«

      »Von wem denn?«

      »Moser heißt er. So ein Taugenichts aus einem Kaff hier in der Gegend. Der hat behauptet, Viktor hätte seinem Vater bei einer Wurzelbehandlung einen Nerv durchtrennt und ihn damit so geschädigt, dass er arbeitsunfähig geworden sei. Er hat überall herumerzählt, Viktor lasse sich nicht auf einen Vergleich mit ihnen ein, weil sie sich keinen Anwalt leisten könnten.«

      »Dieser Streit ist aber doch schon älter. Ihr Mann hat mir, wenn ich mich richtig erinnere, schon in unserem Gespräch vor einem Jahr davon erzählt.«

      »Ja, aber die Sache ist eskaliert«, sagte Sonja. »Im letzten Winter hat er Viktor telefonisch bedroht, und kurz danach wurden bei unserem Auto alle Scheiben eingeworfen. Daraufhin haben wir Anzeige erstattet.«

      »Dann weiß die Polizei ja auch davon.«

      »Die sprachen von einem Mangel an Beweisen. Der Moser hat erklärt, am Telefon nur höflich nachgefragt zu haben, ob sich sein Vater noch Hoffnungen auf eine einvernehmliche Lösung machen könnte, und bei der Sache mit dem Auto gab es keine Zeugen.«

      Klein schwieg. Das klang alles ziemlich diffus.

      »Herr Rabbiner Klein«, sagte Sonja schließlich mit schwacher Stimme.

      »Ja«, sagte er und rückte unwillkürlich etwas näher an sie heran, wie um sie besser zu verstehen, aber auch um seine Anteilnahme zu signalisieren.

      »Am Ende ist es doch fast gleichgültig, wer ihn umgebracht hat. Man spricht immer von Gerechtigkeit, wenn ein Mörder gefasst wird. Aber letztlich: Wem nützt es noch etwas? Dass er nicht mehr lebt, das ist doch das Entscheidende. Wissen Sie, wir hatten es zusammen ja nicht immer leicht, aber dass ich heimkomme, und dann …«

      Plötzlich schluchzte Sonja auf und hob die Hände vors Gesicht. Klein setzte zu einem tröstenden Satz an, dass Viktor sie sehr geliebt habe und sicher gewollt hätte, dass sie aus dieser Liebe auch jetzt noch Kraft bezog. Doch er ahnte, dass sie dies eher als leeres Gerede denn als Trost empfunden hätte. Der tiefe Schmerz, der diese Ehe schon lange plagte, nebst der Tatsache, dass Sonja nie nach Inzlingen hatte ziehen wollen, war die Kinderlosigkeit. Viktor hätte ursprünglich wohl gerne Kinder gehabt, aber mit der Zeit hatte er sich, wie es Klein schien, mit der Situation arrangiert. Doch er hatte Klein auch in mehreren Gesprächen verraten, dass Sonja die Sache sehr schwernahm. Sie hatte endlose Tests, Hormontherapien und anderes über sich ergehen lassen, und es war ihr von Ärzten versichert worden, dass sie Kinder haben könnte. Viktor hatte sich aber allen Tests entzogen. Er behauptete, vor seiner Zeit mit Sonja bei einem »Unfall« eine Zufallsbekanntschaft geschwängert zu haben, die dann abgetrieben hatte. Dieser etwas schwammige Beweis reichte ihm aus, um jeden Zweifel an seiner eigenen Fruchtbarkeit auszuräumen.

      Vor etwa drei Jahren hatte Sonja beschlossen, ein Kind zu adoptieren, und Viktor hatte sich halbherzig darauf eingelassen. Doch die Behörden mauerten. Viktor war darüber nicht besonders unglücklich, und er hatte Klein ziemlich offen gesagt, es liege wahrscheinlich daran, dass sich seine Frau seit einiger Zeit in psychiatrischer Behandlung befinde. Für Sonja waren die Depressionen, an denen sie litt, Folge ihrer Kinderlosigkeit, doch für die Amtsstellen zählte nicht der Kummer kinderloser Frauen, sondern das Kindswohl. Obwohl sie eine untadelige, engagierte Lehrerin war, wollten sie ihr offenbar kein Kind zur Adoption anvertrauen. Und dass vom Ehemann auch eher laue Bekenntnisse zu einer Adoption zu hören waren, mochte der Sache nicht geholfen haben.

      Sonja glaubte, laut Viktor, man verweigere ihnen ein Kind, weil sie praktizierende Juden seien und die Behörden sie als ›sektiererisch‹ betrachteten. Doch Viktor hatte Klein das vor allem erzählt, um damit auszudrücken, dass seine Frau in dieser Angelegenheit vollkommen überspannte Vorstellungen habe.

      Nun war Sonja allein. Dazu saß sie auch noch in einem Dorf, in dem sie, außer vielleicht einige Eltern von Schülern, keine Kontaktpersonen hatte, kein jüdisches Gemeindeleben, das sie auffing, umso weniger, als sie mit der jüdischen Gemeinde zerstritten war und deren Rabbiner mit Schmähworten bedachte.

      »Wollen Sie für einige Tage zu uns nach Zürich kommen?«, fragte Klein. »Bis zur Beerdigung dauert es ja vielleicht noch eine Weile. Oder auch zum Schiwa-Sitzen. Das würde ich Ihnen gerne anbieten.«

      Mit Rivka abgesprochen war das nicht. Aber er wusste, in einer solchen Situation würde er sich auf das große Herz seiner Frau verlassen können, auch wenn sie den Ehrenreichs nie besonders zugetan war. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, wie Sonja Ehrenreich allein in diesem großen Haus sitzen würde, in ihrem Kopf dauernd die Frage wälzend, wie es gekommen war, dass ihr Mann erschossen auf dem Esszimmerparkett gelegen hatte.

      Sie nahm die Hände von den geröteten Augen.

      »Das ist sehr freundlich«, sagte sie. »Aber ich muss hierbleiben. Schon allein wegen allem, was es zu erledigen gibt. Der ganze bürokratische Kram. Und natürlich die Organisation der Beerdigung.«

      »Gibt es denn jemanden, der in dieser Zeit bei Ihnen wohnen könnte?«

      Sie winkte ab.

      »Ich schätze Ihre Fürsorge. Aber nein, das brauche ich wirklich nicht.«

      Klein blieb nur noch kurz. Draußen war es nun ganz dunkel, die Bäume hinter dem Fenster sah man nicht mehr. Er beobachtete, wie sich eine tiefe Müdigkeit über ihr Gesicht zu legen begann. Er erhob sich und bat sie, ihn über alle weiteren Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten. Sie versprach es und konnte ein Gähnen nicht mehr unterdrücken.

      Er hatte sich bereits verabschiedet und war auf der Treppe ins Erdgeschoss, als sie aus der offenen Wohnungstür noch einmal seinen Namen rief.

      »Ja?« Er wandte sich um.

      »Einen Wunsch hätte ich an Sie. Dass Sie Viktors Hesped halten. Den Kletzki kann ich damit nun wirklich nicht betrauen.«

      »Wenn Rabbiner Kletzki damit einverstanden ist, werde ich das gerne tun«, sagte Klein.

      »Würden Sie das mit ihm direkt regeln? Das würde mir sehr helfen.«

      »Kann ich machen«, brummte er, ging die paar letzten Stufen bis zur Haustür und trat ins Freie, wo ihn eine erfrischende Luft empfing.

      Dem Navigationssystem folgend fuhr er denselben Weg zurück, den er hergefahren war, bei Rheinfelden über die Brücke vom deutschen zum Schweizer Ort desselben Namens, danach auf die Autobahn. Der Verkehr floss ruhig und friedlich dahin. Klein ließ zuerst noch das Radio laufen, doch es störte ihn in seinen Gedanken, die um das Ehepaar Ehrenreich kreisten. Er hatte nicht erfahren, was Sonja die ganze Zeit über alleine in Vietnam gemacht hatte, warum sie sich so lange nicht bei Viktor gemeldet hatte und früher zurückgekommen war. Er hatte keine Ahnung, in welche Richtung die Polizei ermittelte. Doch seine Aufgabe war es nun ohnehin zuallererst, in den nächsten Tagen eine anständige Trauerrede auf Viktor zu schreiben. Was wusste er über ihn? Eigentlich ziemlich viel, auch wenn er ihn nur einmal im Jahr für zwei bis drei Stunden getroffen hatte.

      Ihre Bekanntschaft hatte an einem organisierten Wochenende in dem etwas heruntergekommenen Koscherhotel von Arosa begonnen. Klein hatte dort einen Vortrag gehalten und war deshalb mit der ganzen Familie über den Schabbat eingeladen. Viktor und Sonja hatten die Gelegenheit genutzt, aus ihrer gewohnten Schabbateinsamkeit auszubrechen, auch wenn sie von den anwesenden, fast durchgehend schweizerischen Juden kaum jemanden kannten. Man hatte sich nett unterhalten, aber Klein war recht erstaunt gewesen, wenige Wochen danach von Viktor Ehrenreich eine Mail zu bekommen, ob er bereit wäre, ihn zu Beginn des Monats Elul, der einen Monat vor dem Neujahrsfest die Zeit der Besinnung und Buße ankündigte, zu einer »Sichat Nefesch«, einem Seelengespräch zu empfangen. Klein hatte damals zugesagt, und seither hatte Viktor jedes Jahr von Neuem ein solches Gespräch erbeten. Rivka hatte sich darüber geärgert und gemeint, es gehe nicht an, dass jemand, der nicht aus seiner Gemeinde stamme, dem Rabbiner regelmäßig so viel Arbeitszeit abverlange, ohne etwas dafür zu bezahlen – außer vielleicht mit einer Dose Kekse oder einem Wein. Aber Klein musste zugeben,


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