Die Propeller-Insel. Jules VerneЧитать онлайн книгу.
die sich niemals nach der falschen Seite entladen, wie das bei den Geschützen des alten Europa so häufig vorkommt!« bemerkt Calistus Munbar dazu.
An dieser Stelle zeigt die Küste einen sehr scharfen Rand und bildet einen spitz auslaufenden Vorsprung, der dem Vorderteile eines Schiffsrumpfes oder gar dem Sporn eines Panzerschiffes gleicht, an dem sich die Wellen zerteilen, indem sie ihn mit ihrem weißen Schaum benetzen. Offenbar ist das eine Wirkung der Strömung, denn draußen bewegt sich das Wasser nur in langer, flacher Dünung,3 die mit dem Niedergange der Sonne noch weiter abzunehmen verspricht.
Von diesem Punkte geht eine zweite Trambahnlinie nach dem Mittelpunkte der Stadt aus, während die erstere der Uferkrümmung weiter folgt.
Calistus Munbar steigt hier mit seinen Gästen um und meldet ihnen, dass sie nun geradewegs nach der Stadt zurückkehren werden.
Die Promenade ist auch lang genug gewesen. Calistus Munbar zieht seine Uhr hervor, ein Meisterstück von Sivan in Genf … eine sprechende, phonographische Uhr. Er drückt daran auf einen Knopf und man hört sie deutlich sagen: »Vier Uhr dreizehn Minuten.«
»Sie vergessen doch nicht, dass wir den Turm des Observatoriums besteigen wollen?« meldet sich Frascolin.
»Vergessen, meine lieben und schon alten Freunde! … Eher würde ich meinen eigenen Namen vergessen, der sich übrigens einiger Berühmtheit erfreut. Noch vier Meilen, und wir werden vor dem prächtigen Gebäude stehen, das am Ende der Ersten Avenue errichtet ist und die beide Hälften unserer Stadt scheidet.«
Der Wagen ist abgegangen. Jenseits der Felder, auf die noch immer »der Nachmittagsregen« – so sagte der Amerikaner – niederrieselt, zeigt sich wieder der mit Barrieren umschlossene Park mit seinen Baumgruppen, Rasenflächen und Blumenkörben.
Da schlägt es halb fünf Uhr. Zwei Weiser zeigen die Stunde auf einem riesigen Zifferblatte, das, an einem viereckigen Turme angebracht, etwa dem des Londoner Parlamentshauses ähnelt.
Am Fuße des Turmes liegen die für die verschiedenen Dienstzweige des Observatoriums bestimmten Gebäude. Einige derselben, die mit metallenen Kuppeln und verglasten Spalten in letzteren versehen sind, gestatten den Astronomen, den Lauf der Gestirne zu beobachten. Sie umschließen einen geräumigen Hof, in dessen Mitte sich der hundertfünfzig Fuß hohe Turm erhebt. Von seiner oberen Galerie reicht der Blick auf fünfundzwanzig Kilometer weit hinaus, da der Horizont von keinem Hügel, keinem Berg verdeckt wird.
Seinen Gästen vorausgehend, schreitet Calistus Munbar durch eine Tür, die ihm ein Diener in reicher Livrée geöffnet hat. Im Hintergrunde des Hausflurs befindet sich der mittels Elektrizität betriebene Aufzug. Das Quartett nimmt mit seinem Führer in dem Fahrstuhle Platz. Dieser steigt sofort sanft und gleichmäßig in die Höhe. Nach fünfundvierzig Sekunden hält er an der Plattform des Turmes an.
Auf dieser Plattform erhebt sich eine riesige Flaggenstange, an der das Flaggentuch im schwachen Nordwinde flattert.
Welche Nationalität diese Flagge bezeichnet, vermögen unsere Pariser nicht zu ergründen. Auf den ersten Blick scheint es die amerikanische Flagge mit den waagrechten rotweißen Streifen zu sein; die obere innere Ecke enthält aber statt der siebenundsechzig Sterne, die zu jener Zeit am Firmament des Staatenbundes funkeln, nur einen einzigen: einen Stern oder vielmehr eine goldene Sonne, die von dem Himmelblau der Flaggenecke schimmert und mit dem Strahlenglanze des Tagesgestirns rivalisieren zu können scheint.
»Unsere Flagge, meine Herren«, sagt Calistus Munbar, der ehrerbietig das Haupt entblößt.
Sébastien Zorn und seine Kameraden können nicht umhin, es ihm nachzutun. Dann treten sie an die Brustwehr der Plattform heran, beugen sich hinaus …
Da entringt sich ihrer Brust ein lauter Aufschrei – erst der Überraschung und dann des hellen Zorns.
Vor ihren Blicken liegt das ganze Land, und dieses Land zeigt die Form eines regelmäßigen Ovals, das von einem Meereshorizonte eingefasst ist. Soweit der Blick schweifen kann, nirgends ist Land in Sicht.
Und doch sind Sébastien Zorn, Frascolin, Yvernes und Pinchinat gestern in der Nacht, nachdem sie das Dorf Freschal im Wagen des Amerikaners verlassen hatten, zwei Meilen weit stets dem Wege über Land gefolgt. Darauf haben sie, gleich im Wagen verbleibend, mittels der Fähre nur einen Wasserlauf überschritten und sind dann wieder auf festes Land gekommen. Hätten sie die Küste Kaliforniens auf einem Schiffe verlassen, so müssten sie das doch bemerkt haben …
Frascolin wendet sich voller Erregung an Calistus Munbar.
»Wir sind doch auf einer Insel?« fragt er.
»Wie Sie sagen«, bestätigte der Yankee, dessen Mund sich zum verbindlichsten Lächeln verzieht.
»Und welche Insel ist das?«
»Standard Island.«
»Und diese Stadt heißt …?«
»Milliard City.«
1 Angehörigen der sozialen Oberschicht <<<
2 nach François Rabelais, französischer Schriftsteller der Renaissance (1494–1553) <<<
3 durch den Wind hervorgerufener Seegang mit gleichmäßigen, lang gezogenen Wellen <<<
Fünftes Kapitel – Standard Island und Milliard City
Zu jener Zeit erwartete man noch einen unternehmenden Statistiker und gleichzeitigen Geographen, der die wirkliche Zahl der auf der Erdkugel verstreuten Inseln angegeben hätte. Es wird nicht übertrieben sein, wenn man diese Zahl zu mehreren Tausenden veranschlagt. Und unter diesen Inseln hätte sich keine einzige befunden, die den Wünschen der Gründer von Standard Island und den Bedürfnissen seiner späteren Bewohner entsprochen hätte? Nein, keine einzige! Daher der »amerikamechanisch« praktische Gedanke, eine nach allen Seiten neue, künstliche Insel herzustellen, die die vollkommenste Leistung der modernen Metallurgie bilden sollte.
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