Der Kurier des Zaren. Jules VerneЧитать онлайн книгу.
Jules Verne
Der Kurier des Zaren
Vollständige Ausgabe
Saga
Der Kurier des ZarenCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1876, 2020 Jules Verne und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726642896
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
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1. Ein Fest im Neuen Palais
„Sire, ein neues Telegramm!“
„Woher?“
„Aus Tomsk.“
„Jenseits dieser Stadt sind die Drähte zerschnitten?“
„Seit gestern, jawohl.“
„Telegraphieren Sie alle Stunden nach Tomsk, General, ich wünsche, auf dem laufenden zu bleiben.“
„Zu Befehl, Sire,“ antwortete General Kissoff.
Diese Worte wurden um zwei Uhr morgens gewechselt, eben als das Fest im Neuen Palais auf den Höhepunkt seines Glanzes gelangt war. Während des Essens hatten ununterbrochen die Regimenter Preobraschensky und Pawlowsky gespielt: Polkas, Masurkas, schottische Tänze — ihre besten Musikstücke. Unzählbar schienen die Tänzer und Tänzerinnen, wie sie dahinschwebten durch die prunkvollen Säle dieses Palastes, der nur wenige Schritte entfernt lag vom alten Steinbau, wo dereinst so viele Schreckensdramen sich abgespielt hatten, deren Echo in dieser Nacht aus den Motiven von Quadrillen herauszutönen schien.
Der Oberhofmeister fand übrigens in seinen heiklen Obliegenheiten treffliche Unterstützung. Die Grossfürsten und ihre Adjutanten, die Kammerherren vom Dienst, die Schlossoffiziere leiteten selbst die Anordnung der Tänze. Die Grossfürstinnen, mit Diamanten übersät, und die Hofdamen, in Galakleidern, gingen den Frauen der hohen Militär- und Zivilbeamten aus der alten „Stadt der weissen Steine“ mit gutem Beispiel voran. Als daher das Zeichen zur Polonaise ertönte, als die Hofgäste jedes Ranges an diesem rhythmischen Rundgang teilnahmen, der bei derartigen Feierlichkeiten die hohe Bedeutung eines Nationtltanzes hat — da bot das Durcheinander der langen Spitzenroben und der mit Orden geschmückten Uniformen unter dem Licht von hundert Kronleuchtern, das die rückstrahlenden Spiegel noch vervielfältigten, ein unbeschreibliches Bild, eine blendende Augenweide. Es war ein Meer von Glanz und Prunk. Der grosse Saal, der schönste von allen, die das Neue Palais besass, war für diesen Aufzug von prunkvoll herausgeputzten Herren und Damen ein seines Glanzes würdiger Rahmen. Die reiche Deckenwölbung mit den schweren Vergoldungen, die schon etwas blind waren vom Rost der Zeit, erschien mit ihren einzelnen leuchtenden Flecken wie gestirnt. Die Brokatstoffe der Vorhänge und Portieren, die in stolzen Falten herniederfielen, waren von tiefem Purpur, der nur da, wo der schwere Stoff zu Ecken sich knickte, leuchtender erstrahlte. Die hohen, grossen Bogenfenster trübten nur wenig das Licht, das die Säle durchflutete, und es drang nach aussen wie der Widerschein einer Feuersbrunst, grell die Nacht durchstrahlend, die schon seit Stunden diesen flimmernden Palast finster umhüllte. Dieser Kontrast fiel auch wirklich denjenigen der Gäste auf, die nicht bloss für das Tanzen schwärmten. Wenn sie dann und wann an den Fensterkreuzen stehenblieben, konnten sie hier und dort im Dunkel der Nacht die Schattenrisse von Türmen sehen. Unter den mit Bildhauerarbeit verzierten Balkonen sahen sie zahlreiche Posten, die schweigend hin- und hergingen, das Gewehr auf die Schulter gelegt. Im Schein des nach aussen strahlenden Lichtes blitzte die Spitze des Helms hin und wieder flüchtig auf. Sie hörten auch die Patrouillen, die in abgerissenem Takt über die Steinfliesen stampften und die Beine jedenfalls korrekter aufsetzten als die Tänzer auf dem Parkett des Saales. Von Zeit zu Zeit erklang ein Ruf, der sich von Posten zu Posten fortpflanzte, und bisweilen übertönten die Klänge des Orchesters einen Trompetenstoss, dessen heller Ton in die allgemeine Harmonie hineinschmetterte. Noch tiefer, vor der Fassade, zeichneten sich in den Lichtstreifen, die von den Fenstern des Neuen Palais ausgingen, düstere Massen ab. Das waren Boote, die den Lauf eines Flusses hinabglitten, dessen Wasser, vor dem flimmernden Licht mehrerer Leuchtfeuer erhellt, die äussersten Grundquadern der Terrassen bespülte.
Die Hauptperson des Balles — der Mann, der dieses Fest veranstaltete und den General Kissoff mit einem den Untertanen zukommenden Titel angeredet hatte — trug die schlichte Uniform eines Offiziers der Gardejäger. Das war keine absichtlich zur Schau getragene Einfachheit seinerseits, sondern lediglich die Gewohnheit eines Mannes, der für Prunk und Pomp nicht viel übrig hatte. So stand seine Erscheinung auch in scharfem Gegensatz zu den prächtigen Kostümen, die ihn bunt umgaben, und ebenso zeigte er sich auch in der Regel inmitten seiner Leibgarde von Georgiern, Kosaken und Lesghiern, der prächtigen Schwadronen, die die prunkvollen Uniformen vom Kaukasus trugen. Diese hochgewachsene Person mit leutseliger Miene, ruhigem Gesichtsausdruck und doch sorgenvoller Stirn ging von einer Gruppe zur anderen, sprach aber wenig. Den launigen Worten junger Gäste oder den ernsteren Worten hoher Beamten oder der Mitglieder des diplomatischen Korps, die am Hofe die Hauptstaaten Europas vertraten, schien er nur wenig Aufmerksamkeit zu schenken. Einige dieser scharfsinnigen Politiker — geborene Physiognomiker — hatten auf dem Antlitz ihres Gastgebers einige Anzeichen von Unruhe wahrzunehmen geglaubt, über deren Ursache sie jedoch nichts erfuhren. Jedenfalls war es der Wille des Offiziers der Gardejäger, dass seine geheimen Besorgnisse dieses Fest in keiner Weise beeinträchtigen sollten, und da er zu den seltenen Fürsten zählte, denen — selbst in Gedanken — eine ganze Welt zu gehorchen gewohnt war, so erlitt die Ballfestlichkeit keinen Augenblick Störung.
Inzwischen wartete General Kissoff, dass der Offizier, dem er das von Tomsk gesandte Telegramm übermittelt hatte, ihm den Befehl zum Gehen erteilen würde, dieser jedoch verharrte schweigend. Er hatte das Telegramm genommen und gelesen, und seine Stirn verdüsterte sich noch mehr. Die Hand fuhr unwillkürlich nach dem Griff des Degens und hob sich dann nach den Augen, die sie ein Weilchen bedeckte. Man hätte meinen mögen, das grelle Licht blende ihn und er suche das Dunkel, um besser in sein Inneres schauen zu können.
„Also“, sagte er, nachdem er General Kissoff in eine Fensternische geführt hatte, „seit gestern sind wir ohne Verbindung mit meinem Bruder, dem Grossfürsten?“
„Ohne Verbindung, Sire, und es ist zu befürchten, dass die Telegramme bald nicht mehr über die sibirische Grenze hinüberkommen werden.“
„Aber die Truppen der Provinzen Amur und Jakutsk sowie von Transbaikalien haben doch Befehl erhalten, unverzüglich auf Irkutsk zu marschieren?“
„Dieser Befehl ist gegeben worden in dem letzten Telegramm, das über den Baikalsee hinaus befördert werden konnte.“
„Aber mit den Bezirken Jenisseisk, Omsk, Semipalatinsk und Tobolsk stehen wir doch noch immer in direkter Verbindung seit dem Beginn des Einfalls?“
„Jawohl, Sire, dorthin gelangen unsere Telegramme noch, und wir haben bis zur Stunde die Gewissheit, dass die Tataren noch nicht über den Irtysch und Obi hinaus vorgedrungen sind.“
„Und über den Verräter Iwan Ogareff liegt noch keine Nachricht vor?“
„Noch keine,“ antwortete General Kissoff. „Der Polizeidirektor kann nicht bestimmt sagen, ob er die Grenze überschritten hat oder nicht.“
„Sein Signalement soll sofort nach Nischni-Nowgorod, Perm, Jekaterinburg, Kassimoff, Tjumen, Ischim, Omsk, Jelamsk, Koliwan, Tomsk und allen Telegraphenplätzen gesandt werden, mit denen noch Verbindung besteht.“
„Die Befehle Eurer Majestät sollen augenblicklich befolgt werden,“ antwortete General Kissoff.
„Stillschweigen über dies alles!“
Nach einer Gebärde ehrfurchtsvoller Anhänglichkeit verneigte sich der General, mischte sich noch zunächst in die Menge und verliess dann die Säle, ohne dass sein Verschwinden aufgefallen wäre. Der