Der Kurier des Zaren. Jules VerneЧитать онлайн книгу.
sein Angesicht so ruhig wie zuvor.
Inzwischen war der schwerwiegende Umstand, der diese rasch gewechselten Worte verursacht hatte, nicht so unbekannt, wie der Offizier der Gardejäger und General Kissoff es glauben konnten. Man sprach nicht offiziell davon, allerdings, nicht einmal offiziös, da der Gegenstand noch nicht auf allerhöchsten Befehl freigegeben war, aber einige hohe Personen waren mehr oder minder genau über die Ereignisse unterrichtet, die sich jenseits der Grenze vollzogen. Was sie vielleicht nur vom Hörensagen wussten, worüber sich nicht einmal die Mitglieder des diplomatischen Korps besprachen, darüber unterhielten sich jedenfalls zwei Gäste, an denen keine Uniform und keine Auszeichnung verriet, woraufhin sie im Neuen Palais empfangen worden waren, mit leiser Stimme und schienen ziemlich genaue Auskunft zu besitzen. Auf welchem Wege oder durch welchen Zwischenhandel hatten diese einfachen Sterblichen erfahren, was so viele weit bedeutendere Persönlichkeiten kaum vermuteten? Das liess sich nicht sagen. Beruhte es bei ihnen auf einer Gabe der Vorahnung oder Voraussicht? Besassen sie einen Sinn mehr, der sie befähigte, über den begrenzten Horizont hinauszublicken, auf den jeder menschliche Blick beschränkt ist? Hatten sie eine besondere Witterung, um die geheimsten Neuigkeiten aufzuspüren? Dank der bei ihnen zur zweiten Natur gewordenen Gewohnheit, von der Erkundigung und durch die Erkundigung zu leben, hatte ihre Natur sich vielleicht in dieser Weise umgeformt. Man wäre versucht gewesen, dies zuzugeben.
Von diesen zwei Männern war der eine ein Engländer, der andere ein Franzose, beide gross und mager, dieser braun wie die Leute aus der Provence, jener rot wie einer aus Lancashire. Abgemessen, kalt, phlegmatisch, sparsam mit Worten und Gebärden, schien der Anglo-Normanne nur zu sprechen oder zu gestikulieren auf die Wirkung einer Feder hin, die in bestimmten Zwischenzeiten in Tätigkeit trat. Dagegen war der Gallo-Romane lebhaft und ungestüm, redete zugleich mit Lippen, Augen und Händen und hatte zwanzig Arten, seine Gedanken wiederzugeben, während sein Widerpart nur eine einzige unlösbar in seinem Gehirn versteifte Methode besass. Diese physischen Verschiedenheiten hätten leicht auch dem ungeübtesten Menschenbeobachter auffallen müssen; aber wenn ein Physiognomiker diese beiden Fremden aus der Nähe betrachtet hätte, so würde er wohl den physiologischen Unterschied, der sie charakterisierte; mit den Worten ausgedrückt haben, dass der Franzose „ganz Auge“, der Engländer „ganz Ohr“ wäre. In der Tat hatte sich der Gesichtssinn des einen durch den Gebrauch eigentümlich vervollkommnet, die Empfindlichkeit seiner Netzhaut war ebenso gewandt in Augenblickswahrnehmungen wie die eines Taschenspielers, der eine Karte beim Schlag des schnellsten Mischens oder lediglich an einem, jedem anderen nicht wahrnehmbaren Merkmal erkennt. Der Franzose besass also im höchsten Grade, was man das, „Gedächtnis des Auges“ nennt. Der Engländer dagegen schien besonders geschaffen für das Lauschen und Hören. Wenn der Klang der Stimme einmal sein Ohr getroffen hatte, dann konnte er sie nicht wieder vergessen, und nach zehn, zwanzig Jahren hätte er sie unter Tausenden wieder herausgekannt. Seine Ohren waren freilich nicht beweglich wie die der Tiere, die mit grossen „Hörlöffeln“ ausgestattet sind; aber wenn die Gelehrten festgestellt haben, dass die menschlichen Ohren immerhin eine gewisse Beweglichkeit haben, so hätte man mit Recht behaupten können, dass die des besagten Engländers sich aufzurichten, zu verdrehen und zu neigen suchten, um in einer auch für den Naturwissenschaftler kaum auffälligen Weise die Töne zu erhaschen. Es darf bemerkt werden, dass diese Vervollkommnung des Gesichts und des Gehörs den beiden Männern in ihrem Beruf von grossem Nutzen war; denn der Engländer war Berichterstatter für den Daily-Telegraph und der Franzose Berichterstatter für den . . ., welcher Zeitung oder welcher Zeitungen, das sagte er nicht, und wenn man ihn fragte, antwortete er launig, er korrespondiere mit seiner „Cousine Madeleine“. Im Grunde war dieser Franzosn bei aller Ungezwungenheit seines Äusseren sehr scharfsinnig und höchst klug. Wenn er vom hundertsten ins tausendste schwatzte — vielleicht nur, um sein Verlangen, etwas zu erfahren, besser zu verbergen — so verriet er sich doch nie. Seine Geschwätzigkeit diente ihm vielmehr zum Schweigen, und er war vielleicht verschlossener und verschwiegener als sein Kollege vom Daily-Telegraph.
Wenn diese beiden nem Fest im Neuen Palais in der Nacht vom 15. zum 16. Juli beiwohnten, so geschah es in ihrer Eigenschaft als Journalisten und zur grössten Erbauung ihrer Leser. Es braucht nicht besonders betont zu werden, dass diese beiden Männer ihrer Mission auf dieser Welt leidenschaftlich zugetan waren, dass sie sich mit Vorliebe wie Spürhunde auf die Suche nach den unerwartetsten Neuigkeiten, begaben, dass nichts sie zurückschreckte oder vom Erfolge abbrachte, dass sie die ganze unerschütterliche Kaltblütigkeit und den wahren. Mut der Berufsjournalisten besassen. Wahre Jockeis in dieser Schnitzeljagd, in dieser Jagd nach Nachrichten, setzten sie über Hecken, nahmen die Flüsse und sprangen über die Hürden mit dem unvergleichlichen Feuer der echten Vollblutpferde, die lieber sterben, als dass sie nicht als „gute Erste“ einlaufen. Übrigens hielten ihre Zeitungen sie auch nicht knapp an Geld — dem sichersten, schnellsten und vollkommensten Mittel, etwas zu erfahren, das man bis heutigentags kennt. Auch muss — und zwar zu ihrer Ehre — hinzugefügt werden, dass sie niemals über die Mauern des Privatlebens hinweg horchten oder spähten, und dass sie nur da tätig waren, wo politische oder soziale Belange im Spiel waren. Mit einem Wort, sie besorgten, um einen seit einigen Jahren üblichen Ausdruck zu gebrauchen, „die Hauptberichte über Politik und Wehrmacht“. Man wird jedoch, wenn man sie näher beobachtet, erkennen, dass sie in der Regel eine eigentümliche Art hatten, die Tatsachen und vor allem ihre Folgen anzusehen, da ein jeder sein ganz besonderes Verfahren hatte, zu betrachten und zu beurteilen. Da sie jedoch immer den Grundsatz hegten, „leben und leben lassen“, und bei keiner Gelegenheit sich knauserig zeigten, so dürfte man unrecht tun, ihnen daraus einen Vorwurf zu machen. Der französische Berichterstatter hiess Alcide Jolivet, der Name des englischen war Harry Blount. Sie hatten sich zum erstenmal getroffen auf dieser Feierlichkeit im Neuen Palais, über die in ihrem Blatte zu berichten sie beauftragt worden waren. Die Verschiedenheit ihrer Charaktere und ein gewisser Berufsneid waren Grund, dass sie einander wenig sympathisch waren. Indessen gingen sie sich nicht aus dem Wege, im Gegenteil, sie suchten einander, um sich gegenseitig über die Neuigkeiten des Abends auszuforschen. Es waren eben zwei Jäger, die auf dem gleichen Revier, im gleichen Bannforst jagten. Was der eine fehlte, konnte vom anderen vorteilhaft abgeschossen werden, und ihr eigenes Interesse verlangte, dass sie in Seh- und Hörweite voneinander verblieben.
An diesem Abend waren sie also beide auf dem Anstand. Es lag wirklich etwas in der Luft. „Wenn es auch bloss ein Schwarm Enten sein sollte,“ sprach Alcide Jolivet bei sich, „einen Büchsenschuss lohnt es schon.“
Die beiden Berichterstatter wurden also während des Balles, kurze Zeit nach General Kissoffs Weggang, in Gespräch miteinander geführt und führten es zunächst behutsam und vorsichtig.
„Das muss man sagen, mein Herr, diese kleine Festlichkeit ist ganz allerliebst,“ sagte mit verbindlichster Miene Alcide Jolivet, der durch diese echt, französische Redensart die Unterhaltung eröffnen zu sollen meinte.
„Ich habe schon gedrahtet: splendid!“ versetzte kühl Harry Blount, indem er jenes Wort gebrauchte, das beim Bürger des Vereinigten Königreichs als Ausdruck jeglicher Bewunderung den Anstrich besonderer Weihe hat.
„Indessen meinte ich,“ setzte Alcide Jolivet seinen vorigen Worten hinzu, „zur selben Zeit meiner Cousine schreiben zu —“
„Ihrer Cousine?“ wiederholte Harry Blount mit Erstaunen, seinem Kollegen ins Wort fallend.
„Jawohl,“ versetzte Alcide Jolivet, „meiner Cousine Madeleine. Ich stehe nämlich mit ihr in Briefwechsel; sie ist gern schnell und genau unterrichtet, meine Cousine. Deshalb meinte ich ihr mitteilen zu sollen, dass es während dieser Festlichkeit den Anschein habe, als zöge ein finsterer Schatten über die Stirn des Landesherrn.“
„Mir aber ist es vorgekommen, als sei dies kein Schatten, sondern ein Sonnenstrahl gewesen,“ erwiderte Harry Blount, der vielleicht seine Gedanken über diesen Fall verschleiern wollte.
„Und selbstverständlich haben Sie auch ,Sonnenstrahl‘ in die Spalten des ,Telegraph‘ setzen lassen!“
„Ganz, wie Sie sagen.“
„Besinnen Sie sich noch darauf, Herr Blount,“ fragte Alcide Jolivet, was sich Anno 1812 in Zakret ereignete?“
„Als ob ich dabei gewesen wäre,