Wolf unter Wölfen. Ханс ФалладаЧитать онлайн книгу.
alter Gärten mit hohen Bäumen, verschollener Gärten, die sich seit den achtziger, neunziger Jahren kaum geändert haben. Es ist gut hier zu wohnen – für alternde Leute. Die Hochbahn mag donnern und der Dollar klettern – geruhig schaut die verwitwete Frau Pagel in die Gärten. Das Weinlaub ist emporgestiegen bis zu ihren Fenstern, drunten wächst alles immer weiter, blüht weiter, sät sich aus – die Rasenden, Hastigen, Ruhelosen drüben mit ihrem Gepolter und Betrieb wissen es nur nicht. Sie kann zuschauen und sich erinnern, sie braucht nicht zu hetzen, der Garten darf sie erinnern. Aber daß sie hier immer noch wohnen kann, daß sie nicht mit zu hasten braucht – das hat er gemacht, dessen Werk hier in diesem Zimmer ist.
Vor fünfundvierzig Jahren sahen sie sich zum erstenmal, liebten sich, heirateten sich später. Es gab nichts Strahlenderes, Fröhlicheres, Rascheres als ihn. Wenn sie zurückdenkt, ist ihr immer, als sei sie mit ihm bei hellem Wind durch Blütenstraßen gelaufen. Von den Mauern senkten sich die Zweige auf sie. Sie liefen schneller. Über der Spitze des häuserbestandenen Hügels wehte – zwischen zwei Zypressen – der Himmel wie ein Zelt …
Wenn sie nur liefen, gleich würde sich der blauseidene Vorhang vor ihnen öffnen.
Ja, was so recht seines Wesens Zeichen war, das war seine Schnelle, die nichts von Hast hatte, die aus der Kraft kam, dem Wohlgefühl der völligen Gesundheit.
Sie kamen zu einer Wiese mit Herbstzeitlosen. Einen Augenblick hielten sie still auf dem festlichen grünen, lilagestirnten Teppich. Dann bückte sie sich zum Pflücken – doch sie hatte kaum zwanzig Blüten in der Hand, da kam er mit dem Strauß, leicht, rasch, ohne Eile, mit dem großen, fröhlichen Strauß.
Wie machst du das? fragte sie atemlos.
Ich weiß nicht, sagte er. Es ist mir immer, als sei ich ganz leicht, wehe mit dem Wind.
Der Vorhang rauscht. Ein halbes Jahr ist vorbei, sie sind nun schon eine Weile verheiratet, die junge Frau hört in ihrem Schlaf einen klagenden Ruf. Sie wacht auf. Ihr junger Mann sitzt im Bett, er sieht völlig verändert aus, dies Gesicht kennt sie noch nicht.
Bist du es –? fragt sie so leise, als fürchte sie, durch ihre Worte könne der Traum Wahrheit werden.
Der fremdvertraute Mann neben ihr versucht zu lächeln, ein verlegenes, um Verzeihung bittendes Lächeln. Entschuldige, wenn ich dich gestört habe. Es ist so seltsam, ich verstehe es nicht. Mir ist wirklich angst. Und nach einer langen Pause, während er sie zweifelnd ansieht: Ich kann nicht aufstehen …
Du kannst nicht aufstehen? fragt sie ungläubig. Es ist so unwirklich, ein Scherz, Unsinn von ihm, schlechter Unsinn natürlich. So etwas gibt es ja gar nicht, daß man plötzlich nicht aufstehen kann.
Ja, sagt er langsam und scheint es auch nicht zu glauben. Mir ist so, als hätte ich keine Beine mehr. Jedenfalls fühle ich sie nicht mehr.
Unsinn! ruft sie und springt auf. Du hast dich erkältet, oder sie sind dir eingeschlafen. Warte nur, ich helfe dir …
Aber noch während sie dies sagt, noch während sie um die Betten zu ihm geht, dringt ein eisiges Gefühl in sie … Noch während sie spricht, fühlt sie: Es ist wahr, es ist wahr, es ist wahr …
Fühlt sie –? Noch die alte Frau am Fenster macht eine wütende Schulterbewegung. Wie kann sie das Unmögliche fühlen?! Der Schnellste, der Fröhlichste, der Lebendigste – und nicht gehen können, nicht einmal stehen können! Unmöglich, das zu fühlen.
Aber die Eiseskälte bleibt in ihr, es ist, als atme sie die Kälte mit der Lebensluft immer tiefer in sich ein. Das Herz will sich wehren, aber es wird auch schon kalt, der Eispanzer legt sich enger darum.
Edmund! ruft sie beschwörend. Wach auf! Steh auf!
Ich kann nicht, murmelt er.
Er konnte es wirklich nicht. So wie er an jenem Morgen im Bett gesessen, so saß er nun tagaus, tagein, Jahr um Jahr, da – im Bett, im Rollstuhl, in einem Liegestuhl … saß da, völlig gesund, ganz ohne Schmerzen, nur: er konnte nicht gehen. Das Leben, das so flammend begonnen, das hurtige, rasche, leuchtende Leben, das lachende Glücksleben, blaue Seidenzelte und Blüten – vorbei! Vorbei! Einmal und nicht wieder. Warum nicht wieder –? Keine Antwort. Ach, Herre, Herre, warum denn –? Wenn es aber sein mußte, warum dann so plötzlich –? Warum ohne alle Warnung, ohne Übergang –? Glücklich in den Schlaf geglitten – und elend erwacht, unermeßlich elend!
Oh, sie fand sich nicht damit ab, keinesfalls fand sie sich damit ab! Alle zwanzig Jahre, die dies dauerte, fand sie sich nicht darein. Als er schon längst jede Hoffnung aufgegeben hatte, schleppte sie ihn immer noch von Arzt zu Arzt. An Meldungen von einer Wunderheilung, an einer Zeitungsnotiz entzündete sich ihr Hoffen. Nacheinander glaubte sie an Bäder, Bestrahlungen, Packungen, Massagen, Medikamente – wundertätige Heilige. Sie wollte daran glauben, sie tat es.
Laß es doch, lächelte er. Vielleicht ist es gerade gut so.
Das möchtest du! rief sie zornig. Dich darein finden – demütig, was?! Das wäre bequem! Demut mag für die Übermütigen, die Glücklichen gut sein, die einen Zügel brauchen. Ich halte es mit den Alten, die um ihr Glück mit den Göttern kämpften.
Aber ich bin glücklich, sagte er freundlich.
Doch sie wollte dies Glück nicht. Sie verachtete es, es erfüllte sie mit Zorn. Sie hatte einen Gesandtschaftsattaché geheiratet, einen tätigen Mann, Mensch im Umgang mit Menschen, einen künftigen Botschafter. An der Tür aber hing ein Schild ›Edmund Pagel – Gesandtschaftsattaché‹ und dabei blieb es! Sie ließ kein neues machen: ›Pagel – Kunstmaler‹? Nein, sie hatte keinen Farbenreiber und Kleckser geheiratet.
Ja, da saß er nun und malte. Er saß in seinem Rollstuhl und lächelte und pfiff und malte. Eine zornige Ungeduld erfüllte sie. Begriff er denn nicht, daß er sein Leben vertat mit diesen komischen Schildereien, über die alle nur lächelten –?
Laß ihn doch, Mathilde, sagte die Verwandtschaft. Für einen Kranken ist das sehr gut. Er hat doch seine Beschäftigung und Ablenkung.
Nein, sie ließ ihn nicht. Als sie ihn heiratete, war nicht von Malen die Rede gewesen. Ihr war nichts davon bekannt, daß er je einen Pinsel in der Hand gehabt hatte. Sie haßte das alles, schon den Geruch der Ölfarben. Sie stieß ständig gegen die Keilrahmen, die Staffelei war ihr immer im Wege. Sie fand sich nie mit ihr ab. In den Gastzimmern der Badeorte, auf den Böden der Mietswohnungen vergaß sie seine Bilder, die Kohlezeichnungen lagen herum, verkamen.
Manchmal, mitten aus einer Arbeit heraus, aus den Sorgen heraus, aus dem sehr engen Gefängnis ihres eigenen Ich heraus, konnte sie hochsehen und solch Bild an der Wand betrachten, als sähe sie es zum erstenmal. Irgend etwas wollte sie dann leise anrühren, als rege sich etwas im Schlaf – dem Erwachen zu. Halte ein! Halte doch ein! Es war sehr hell, ein Baum etwa, in der Sonne, in der Luft, gegen einen klaren Sommerhimmel. Halte doch ein! Aber der Baum schien sich zu heben, Wind wehte sachte, der Baum bewegte sich – flog er? Doch, die ganze Erde flog, die Sonne, Spiele von Licht und Luft, leise, eilig, zart – halte doch ein, grimmige, dunkle Erde!
Sie trat näher heran. Der Vorhang vor dem Geheimnisvollen wehte. Es war Leinwand, riechende Ölfarbe, Erdenstoff, fester, fester Erdenstoff. Aber Wirbel erklangen, Wind wehte, der Baum bewegte die Äste, das Leben floß, wehte – fliege, halte nicht ein, fliehe und fliege, wie wir armen Irdischen fliehen und fliegen. Umsonst hängen wir die Bleigewichte der Sorgen, der Hoffnungen, der Entwürfe an unsere Sohlen, uns der Stunde zu verhaften. Wir fliehen dahin, wir rinnen ins Meer …
Von einem Gelähmten gemalt, erschaffen aus dem Nichts. Freilich von einem Manne, der Bewegung kannte und liebte, der jetzt nichts mehr ist als ein schwerfälliger Leib, den man aus dem Bett in den Stuhl wälzt – nein, halte nicht ein, wir fliehen, wir fliegen.
Ja, es rührt sich sachte in der betrachtenden Frau. Eine Ahnung will sie überkommen, als hätte sie ihren Mann unvergänglicher, strahlender, rascher als je zuvor – doch sie schüttelt es ab, sie sinkt wieder in Schlaf. Leinwand und Farbe, eine plane Fläche nach bestimmten Regeln bunt gemacht, nichts von Bewegung,