Wolf unter Wölfen. Ханс ФалладаЧитать онлайн книгу.
kann, was ihm das Herz bedrückt.
Das Mädchen lag abgekehrt vom Mann, der auf dem Rücken schlief, mit schlaffen Armen, in einem Zustand äußerster Erschöpfung. Auf der Stirn, bis in das krause, blonde Kopfhaar hinein, standen kleine Schweißtropfen. Das schöne und trotzige Gesicht sah ein wenig leer aus.
Es war – trotz des geöffneten Fensters – sehr heiß in dem Zimmer. Ohne Decke und Nachtkleid schliefen die beiden.
Es ist Berlin, Georgenkirchstraße, dritter Hinterhof, vier Treppen, Juli 1923, der Dollar steht jetzt – um 6 Uhr morgens – vorläufig noch auf 414 Tausend Mark.
2
In den Schlaf der beiden sandte der dunkle Schacht des Hinterhofs die flauen Gerüche aus hundert Wohnungen. Hundert Geräusche, sachte noch, drangen durch das offene Fenster, vor dem reglos eine gelblichgraue Gardine hing. Plötzlich schrie, auf der andern Seite des Hofes, keine acht Meter entfernt, ein Flüchtlingskind von der Ruhr angstvoll auf.
Die Lider des schlafenden Mädchens zuckten. Der Kopf hob sich ein wenig. Die Glieder spannten sich. Nun weinte das Kind leiser, eine Frauenstimme schalt schrill, ein Mann brummte – und der Kopf sank zurück, die Glieder entspannten sich neu, das Mädchen schlief weiter.
Im Haus rührte es sich. Türen schlugen, Schritte schlürften über den Hof. Auf den Treppen polterte es, Emaillekannen schlugen gegen eiserne Geländer. In der Küche nebenan lief die Wasserleitung. Im Erdgeschoß, in der Blechstanzerei, schrillte eine Glocke, Räder surrten, Riemen schleiften …
Die beiden schliefen …
3
Über der Stadt lag – trotz früher Stunde und klaren Himmels – ein trüber Dunst. Der Brodem eines verelendeten Volkes stieg nicht gen Himmel, er haftete träg an den Häusern, kroch durch alle Straßen, sickerte durch die Fenster, in jeden atmenden Mund. Die Bäume in den verwahrlosten Anlagen ließen fahl die Blätter hängen.
Dem Schlesischen Bahnhof näherte sich, aus dem Osten des Reiches kommend, ein früher Fernzug, mit klappernden Fenstern, zerbrochenen Scheiben, zerschnittenen Polstern – die Ruine eines Zuges. Schlagend, klirrend, stoßend fuhren die Wagen über die Weichen und Kreuzungen von Stralau-Rummelsburg.
Ein Herr, Rittmeister a. D. und Rittergutspächter, Joachim von Prackwitz-Neulohe, weißhaarig und schlank, doch mit dunkel glühenden Augen, beugte sich hinaus, zu sehen, wo man wäre. Er fuhr zurück – ein glühendes Rußteilchen war ihm ins Auge geflogen. Mit dem Taschentuch wischte er, er schalt zornig: Elende Dreckstadt!
4
Im Herd war Feuer entzündet mit lappigem gelbem Papier und Streichhölzern, die stanken oder deren Kuppe abflog. Feuchtes, schwammiges Holz oder minderwertige Kohle schwelten. Das verfälschte Gas brannte puffend, ohne zu hitzen. Langsam wurde wäßrige blaue Milch warm, das Brot war klitschig oder zu trocken. In der Hitze der Wohnung weich gewordene Margarine roch ranzig.
Eilig aßen die Leute das lieblose Essen, eilig, wie sie eilig in die zu oft entfleckten, gewaschenen, ausgebeutelten Kleider gefahren waren. Eilig überflogen ihre Augen die Zeitungen. Es hatte Teuerungskrawalle, Unruhen und Plünderungen in Gleiwitz und Breslau, in Frankfurt am Main und Neuruppin, in Eisleben und Dramburg gegeben, 6 Tote und 1000 Verhaftete. Daraufhin hat die Regierung Versammlungen unter freiem Himmel verboten. Der Staatsgerichtshof verurteilt eine Prinzessin wegen Begünstigung des Hochverrats und Meineids zu 6 Monaten Gefängnis – aber der Dollar steht auf 414 Tausend Mark gegen 350 Tausend am 23. Am Ultimo, in einer Woche, gibt es Gehalt – wie wird der Dollar dann stehen? Werden wir uns zu essen kaufen können? Für vierzehn Tage? Für zehn Tage? Für drei Tage? Werden wir Schuhsohlen kaufen, das Gas bezahlen können, das Fahrgeld –? Schnell, Frau, hier sind noch 10 000 Mark, kauf was dafür. Was, ist gleichgültig, ein Pfund Mohrrüben, Manschettenknöpfe, die Schallplatte ›Bananen verlangt sie von mir‹ – oder einen Strick, uns aufzuhängen … Nur schnell, lauf, rasch –!
5
Auch über Rittergut Neulohe leuchtete die frühe Sonne. Auf den Feldern stand der Roggen in Stiegen, der Weizen war reif, der Hafer auch. Ein paar Maschinen klapperten verloren in der Felderweite, über der die Lerchen unermüdlich ihre Wirbel und Triller schlugen.
Förster Kniebusch, rotbraunes, faltiges Altersgesicht, mit kahlem Kopf, aber weißgelblichem, rundem Vollbart, tritt aus der Hitze des offenen Feldes in den Wald. Er geht langsam, mit der einen Hand rückt er den Flintenriemen auf der Schulter zurecht, mit der andern wischt er den Schweiß von der Stirn. Er geht nicht fröhlich, nicht eilig, nicht kraftvoll; er geht in seinen eigenen, also wenigstens in den von ihm betreuten Forst sachtfüßig, mit weichen Knien, vorsichtig. Sein Auge sieht auf dem Wege jeden Ast, er vermeidet, auf ihn zu treten, er will leise gehen.
Und doch trifft er trotz aller Vorsicht bei einer Wegbiegung, hinter einem Gebüsch vorkommend, auf eine kleine Prozession von Handwagen. Männer und Frauen. Auf den Wagen liegt frisch geschlagenes Holz, nur schiere Stämme – die Äste sind denen zu schlecht. Förster Kniebusch steigt die Zornröte in die Wangen, seine Lippen bewegen sich, in die vom Alter ausgeblaßten Augen kommt ein tieferer Glanz, ein wenig Feuer, aus der Jugend her.
Der Mann am vordersten Wagen – natürlich der Bäumer – hat gestutzt. Nun geht er schon weiter. Nahe, in kaum einem Meter Abstand, klappern die Wägelchen mit dem gestohlenen Holz am Förster vorüber. Die Leute starren in die Luft oder zur Seite, als sei er nicht da, der da schwer atmend steht … Dann verschwinden sie um die Gebüschecke.
›Sie werden alt, Kniebusch‹, hört der Förster des Rittmeisters von Prackwitz Stimme.
›Ja‹, denkt er trübe. ›Ich bin so alt geworden, daß ich gerne in meinem Bette sterben möchte.‹
Denkt es und geht weiter.
Er wird nicht in seinem Bette sterben.
6
Im Zuchthaus Meienburg schrillen die Alarmglocken, die Wachtmeister rennen von Zelle zu Zelle, der Direktor telefoniert mit der Reichswehr um Verstärkung, die Verwaltungsbeamten schnallen sich Gürtel mit Pistolen um die Bäuche und greifen nach Gummiknüppeln. Vor zehn Minuten hat Gefangener 367 dem Wachtmeister sein Brot vor die Füße geworfen: Ich verlange Brot, vorgeschriebenes Gewicht, und keinen verdammten Gipsbrei! hat er geschrien.
In der gleichen Sekunde war der Tumult, der Aufruhr losgebrochen. Aus zwölfhundert Zellen hatte es geschrien, gebrüllt, gejammert, gesungen, geheult: Kohldampf! Hunger! Kohldampf! Hunger!
Unter den strahlend weißen Mauern des hochgelegenen Zuchthauses lag geduckt das Städtchen Meienburg – in jedes Haus, in jedes Fenster drang das Gebrüll: Kohldampf! Hunger! Nun krachte es, tausend Gefangene waren mit ihren Schemeln gegen die Eisentüren gerannt.
Durch die Gänge liefen die Wachtmeister und Kalfaktoren, flüsterten beschwörend an den Türen der Aufrührerischen. Die Zellen der Gutgesinnten wurden aufgeschlossen: Seid vernünftig, niemand in Deutschland bekommt anderes Essen … der Dollar … das Ruhrrevier … Es werden sofort Erntekommandos zusammengestellt, die auf die großen Güter geschickt werden. Jede Woche ein Paket Tabak, täglich Fleisch … für die mit guter Führung …
Mählich schwillt der Lärm ab. Erntekommandos … Fleisch … Tabak … gute Führung … Es sickert durch die Mauern, es besänftigt die knurrenden Mägen, eine Aussicht, eine Hoffnung auf Sättigung, freien Himmel, vielleicht Flucht … Die letzten Lärmschläger, die von der eigenen Wut Wütenden schleppen die Wachtmeister in die Arrestzellen: Da, versucht, wie es sich ohne den Gipsbrei lebt!
Die Eisentüren fliegen krachend zu.
7
Trotz der frühen Morgenstunde ist im Bayerischen Viertel zu Berlin in der Wohnung