Ellingham Academy - Die Botschaft an der Wand. Maureen JohnsonЧитать онлайн книгу.
noch leben würde. Die wird bald freigegeben. Daher konnten wir schon mal den Kunstschuppen bauen und ein paar weitere neue Gebäude werden auch noch dazukommen.«
Und zack, lösten sich Fentons Theorien in Rauch auf.
Genau wie ihr Haus.
»Darf ich dich jetzt auch was fragen?«, fuhr Charles fort. »David Eastman ist nach Burlington gefahren und nicht zurückgekehrt. Eigentlich will ich dich da ungern mit reinziehen, du hast schließlich schon genug mitgemacht. Aber Davids Vater …«
»… ist Senator King.«
»Dachte ich mir schon, dass du Bescheid weißt.« Er nickte ernst. »Normalerweise versuchen wir das hier so gut wie möglich geheim zu halten – aus Sicherheitsgründen. Beim Sohn eines Senators sind nun mal gewisse Vorsichtsmaßnahmen erforderlich. Und dieser spezielle Senator …«
»… ist ein Monster«, ergänzte Stevie.
»Nun ja, jedenfalls vertritt er sehr kontroverse politische Thesen, denen wir nicht alle zustimmen. Aber du hast es eigentlich treffender ausgedrückt.«
Stevie und Charles grinsten sich verschwörerisch zu.
»Ich will ganz offen zu dir sein, Stevie. Ich weiß, dass Senator King dafür gesorgt hat, dass du an die Schule zurückkehren konntest. Und vermutlich hast du dich dabei nicht sonderlich wohlgefühlt.«
»Er saß bei uns im Wohnzimmer.«
»Bist du eng mit David befreundet?«, fragte er.
»Äh …«
Stevie hatte noch alles vor Augen, jeden Moment. Ihren ersten Kuss. David und sie in ihrem Zimmer auf dem Fußboden. Sie beide allein im Tunnel. Seine Locken unter ihren Fingern. Sein Körper, drahtig und stark und warm und …
»Wir wohnen halt im selben Haus«, sagte sie dann.
»Und du hast keine Ahnung, wo er ist?«
»Nein«, antwortete sie. Und das war die Wahrheit. Sie hatte tatsächlich keine Ahnung. Er hatte auf keine ihrer Nachrichten reagiert. »David ist … nicht so mitteilungsbedürftig.«
»Um ehrlich zu sein, Stevie, wir stecken ziemlich in der Bredouille. Wenn es jetzt auch nur noch den kleinsten Zwischenfall gibt, weiß ich nicht, wie wir die Schule am Laufen halten sollen. Falls David sich doch irgendwann meldet, würdest du mir dann Bescheid geben?«
Das war eine berechtigte und vernünftige Bitte. Stevie nickte.
»Danke«, sagte er. »Wusstest du übrigens, dass Dr. Fenton einen Neffen hatte? Er studiert in Burlington und hat mit ihr zusammengewohnt.«
»Hunter.« Stevie nickte.
»Tja, er hat jetzt leider kein Zuhause mehr. Und da Dr. Fenton der Ellingham Academy so lange eng verbunden war, hat die Verwaltung beschlossen, dass er fürs Erste hier wohnen darf. Bei euch in Minerva sind ja nun ein paar Zimmer frei …«
Das stimmte. Jetzt, da die Hälfte seiner Bewohner verschwunden oder tot war, kam ihr das nächtliche Knacken und Knarzen des halb leeren Hauses noch unheimlicher vor.
»Zur Uni kann er auch von hier aus fahren. Wir hatten einfach das Gefühl, das wäre das Mindeste, was wir für ihn tun können. Und ich glaube, er interessiert sich genauso sehr für die Schule wie seine Tante.«
»Wann kommt er denn?«
»Morgen, sobald er aus dem Krankenhaus entlassen wird. Es geht ihm gut, aber sie haben ihn eine Weile zur Beobachtung dabehalten und damit die Polizei ihn befragen konnte. Er hat bei dem Brand alles verloren, darum wollen wir von der Schule versuchen, ihn wenigstens mit dem Grundlegendsten zu versorgen. Leider hatte ich wegen der Sache mit David noch keine Zeit, selbst nach Burlington zu fahren, doch wenn du möchtest, könnte ich dir eine Genehmigung ausstellen, sodass du ein paar Sachen für ihn einkaufen kannst. Vermutlich kannst du sowieso viel besser beurteilen, was ihm gefallen würde, als so ein alter Knacker wie ich.«
Er klappte seine Brieftasche auf, zog eine Kreditkarte heraus und reichte sie Stevie.
»Er braucht auf jeden Fall eine neue Jacke, Winterstiefel, dann noch einige andere warme Klamotten, Socken, Hausschuhe … Wäre gut, wenn du möglichst unter tausend Dollar bleiben könntest. Ich lasse dich von einem der Wachleute zu L.L.Bean fahren und dann könntest du ein Stündchen durch die Stadt bummeln. Meinst du, so ein kleiner Ausflug würde dir vielleicht guttun?«
»Definitiv«, sagte Stevie.
Was für eine unerwartete, aber überaus willkommene Entwicklung. Vielleicht war es ja doch nicht so schlecht, sich hin und wieder ein wenig zu öffnen.
Sobald Stevie wieder nach draußen trat, zog sie ihr Handy aus der Tasche und schrieb:
Komme nach Burlington. Können wir uns treffen?
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
Wann und wo?
Zeit, sich ein paar wirkliche Informationen zu beschaffen, dachte Stevie zufrieden.
3
Burlington war eine kleine Stadt auf einem Hügel am Ufer des Lake Champlain, der Vermont vom Staat New York trennte. Der malerische, lang gezogene See erstreckte sich bis nach Kanada hinein und bei schönem Wetter konnte man darauf segeln. Hier hatte Albert Ellingham seinen schicksalhaften letzten Bootsausflug unternommen. Burlington selbst war lange Zeit relativ schlicht und von Industrie geprägt gewesen; in den vergangenen Jahren jedoch durchwehte die Stadt ein eher künstlerisches Flair. Ateliers, Yogastudios und allerlei esoterisch angehauchte Läden wurden eröffnet. Außerdem spielte der Wintersport eine entscheidende Rolle, was sich besonders in der riesigen L.L.Bean-Filiale mit ihrer reichen Auswahl an Schneeschuhen und Skistöcken, dick gefütterten Jacken, Skiern und Stiefeln bemerkbar machte, die allesamt zu rufen schienen: »Vermont! Ihr glaubt gar nicht, wie krass kalt es hier werden kann!«
Stevie wurde vor dem Laden abgesetzt, in der Hand die Kreditkarte, die Charles ihr vor einer Stunde überreicht hatte. Es war mehr als seltsam, für einen Typen shoppen zu gehen, den sie kaum kannte. Hunter war supernett, da gab es nichts zu meckern. Er war blond und sommersprossig, studierte Ökologie und interessierte sich tatsächlich für den Ellingham-Fall. Wenn auch vielleicht nicht ganz so brennend wie Stevie oder seine Tante. Außerdem hatte er Stevie erlaubt, in Fentons Unterlagen herumzuschnüffeln. Viel hatte Stevie dabei zwar nicht entdeckt, aber zumindest war sie dadurch auf die Sache mit der Drahttonaufnahme gekommen.
Und nun war das alles in Flammen aufgegangen. Fentons gesamte Arbeit, was immer sie dabei ausgegraben und zusammengetragen hatte.
Egal, Stevie musste sich beeilen. Charles hatte ihr eine kurze Liste mit Größenangaben mitgegeben, angefangen bei einer Jacke. An schwarzen Jacken bestand nun wahrhaft kein Mangel und alle kosteten mehr, als Stevie jemals für ein Kleidungsstück bezahlt hatte. Nachdem sie ein paar Minuten planlos zwischen den Kleiderständern umhergewandert war und Preise sowie Angaben über Daunenmengen und Temperaturbereiche verglichen hatte, nahm sie einfach die erstbeste. Weiter ging es mit Pantoffeln. Die waren ihr immer ziemlich überflüssig erschienen, bis sie am ersten richtigen Wintermorgen an der Ellingham den Fuß auf den Boden gesetzt hatte. In der Sekunde, als Haut auf Fliese getroffen und ein winziger Teil ihrer Seele erfroren war, hatte sie begriffen, wofür Pantoffeln gut waren. Sie entschied sich für ein kuschelig gefüttertes Paar, das fast wie richtige Schuhe aussah und Antirutschsohlen hatte – Hunter litt unter Arthritis und brauchte manchmal eine Krücke, darum war das wohl sicherer.
Schließlich hievte sie ihre Ausbeute auf die Kassentheke, wo ein freundlicher Ladenangestellter versuchte, mit ihr ein Schwätzchen übers Skifahren und das Wetter anzufangen, was Stevie jedoch lediglich mit einem ausdruckslosen Blick quittierte, bis die Transaktion beendet war. Wenige Minuten und viele Hundert Dollar später