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Das Gemeindekind. Marie von Ebner-EschenbachЧитать онлайн книгу.

Das Gemeindekind - Marie von Ebner-Eschenbach


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man darüber einig: Der Junge bleibt, wo er ist — wo ja sein eigener Vater ihn hingegeben hat: bei dem Spitzbuben, dem Gemeindehirten.

      Freilich, wenn die Gemeinde sich den Luxus eines Gewissens gestatten dürfte, würde es gegen dieses Auskunftsmittel protestieren. Der Hirt (er führte den klassischen Namen Virgil) und sein Weib gehörten samt den Häuslern, bei denen sie wohnten, zu den Verrufensten des Ortes. Er war ein Trunkenbold, sie, katzenfalsch und bösartig, hatte wiederholt wegen Kurpfuscherei vor Gericht gestanden, ohne sich dadurch in der Ausübung ihres dunkeln Gewerbes beirren zu lassen.

      Ein anderes Kind diesen Leuten zu überliefern, wäre auch niemanden eingefallen; aber der Pavel, der sieht bei ihnen nichts Schlechtes, das er nicht schon zu Hause hundertmal gesehen hat.

      So biss man denn in den sauren Apfel und bewilligte jährlich vier Metzen Korn zur Erhaltung Pavels. Der Hirt erhielt das Recht, ihn beim Austreiben und Hüten des Viehes zu verwenden, und versprach, darauf zu sehen, dass der Junge am Sonntag in die Kirche und im Winter so oft als möglich in die Schule komme.

      Virgil bewohnte mit den Seinen ein Stübchen in der vorletzten Schaluppe am Ende des Dorfes. Es war eine Klafter lang und ebenso breit und hatte ein Fenster mit vier Scheiben, jede so gross wie ein halber Ziegelstein. Aufgemacht wurde es nie, weil der morsche Rahmen dabei in Stücke gegangen wäre. Unter dem Fenster stand eine Bank, auf der der Hirt schlief; der Bank gegenüber eine mit Stroh gefüllte Bettlade, in der Frau und Tochter schliefen. Den Zugang zur Stube bildete ein schmaler Flur, in dessen Tiefe sich der Herd befand. Er hätte zugleich als Ofen dienen sollen, erfüllte aber nur selten eine von beiden Bestimmungen, weil die Gelegenheiten, Holz zu stehlen, sich immer mehr verminderten. So diente er denn als Aufbewahrungsort für die mageren Vorräte an Getreide und Brot, für Virgils nie gereinigte Stiefel, seine Peitsche, seinen Knüttel, für ein schmutzfarbiges Durcheinander von alten Flaschen, henkellosen Körben, Töpfen und Scherben, würdig des Pinsels eines Realisten.

      Zwischen dem Gerümpel hatte Pavel eine Lagerstätte für Milada zurechtgemacht, auf der sie ruhte, zusammengerollt wie ein Kätzlein. Er streckte sich auf dem Boden, dicht neben dem Herde aus, und wenn die Kleine im Laufe der Nacht erwachte, griff sie gleich mit den Händen nach ihm, zupfte ihn an den Haaren und fragte: „Bist da, Pavlicek?“

      Er brummte sie an: „Bin da, schlaf du nur“, biss sie wohl auch zum Spass in die Finger, und sie stiess zum Spass einen Schrei aus, und Virgil wetterte aus der Stube herüber: „Still, ihr Raubgesindel, ihr Galgenvögel!“

      Bebend schwieg Milada, und Pavel erhob sich unhörbar auf seine Knie, streichelte das Kind und flüsterte ihm leise zu, bis es einschlief.

      Als er zum erstenmal ohne die Schwester zur Ruhe gegangen war, hatte er gedacht: „Heut wird’s gut, heut weckt er mich wenigstens nicht auf, der Balg.“ Am frühesten Morgen aber befand er sich schon auf der Dorfstrasse und lief graden Weges zum Schlosse. Das stand mitten im Garten, der von einem Drahtgitter umgeben war; ein dichtes, immergrünes Fichtengebüsch verwehrte ringsum den Einblick in dieses Heiligtum. Pavel pflanzte sich am Tore auf, das dem des Hauses gegenüberlag, presste das Gesicht an die eisernen Stäbe und wartete. Sehr lange blieb alles still; plötzlich jedoch meinte Pavel, das Zuschlagen von Fenstern und Türen und verworrenes Geschrei zu hören, meinte auch die Stimme Miladas erkannt zu haben. Zugleich erbrauste ein heftiger Windstoss, schüttelte die toten Zweige von den Bäumen und trieb die dürren Blätter im rauschenden Tanze durch die Luft. Zwei Mägde kamen aus dem Dienertrakte zum Hause gelaufen; eine von ihnen wäre beinahe über den alten Pfau gestolpert, der im Hofe auf- und abstelzte. Er sprang mit einem so komischen Satz zur Seite, dass Pavel laut auflachen musste. Im Schlosse und in seiner Umgebung wurde es nun lebendig, es kamen auch Leute zum Gartentor; wer aber durch dieses ein- und ausging, sperrte es sorgsam hinter sich ab. Eine Vorsichtsmassregel, die ihrer Neuheit wegen manchem Vorübergehenden auffiel. — Das Gartentor absperren bei helllichtem Tage; was soll denn das heissen? Wird sich schwerlich lange halten, die unbequeme Einführung.

      Aber sie hielt sich doch zum allgemeinen und missbilligen Erstaunen der Dorfbewohner, und nach und nach erfuhr man auch ihren Grund.

      Dem Pavel wurde er durch Vinska, des hässlichen Hirten hübsche Tochter in folgender Weise mitgeteilt:

      „Du Lump du, deine Schwester ist just so ein Lump wie du! Die Patruschka aus der herrschaftlichen Küche sagt, dass die gnädige Frau es mit deiner Schwester treibt, wie mit einem eigenen Kind, und deine Schwester will immer auf und davon. Darum wird das Schloss jetzt abgesperrt wie eine Geldtruhe. Wenn ich die gnädige Frau wäre, ich möcht solche Geschichten nicht machen; was ich tät, weiss ich . . . Deinen Vater hat man am Hals aufgehängt, deine Schwester würde ich an den Händen und Füssen binden und an die Wand hängen.“

      Dieses Bild schwebte dem Pavel den ganzen Tag vor Augen, und nachts verschwamm es ihm mit einem andern, dessen er sich aus der Kindheit besann.

      Da hatte er gesehen, wie der Heger ein gefangenes blutjunges Reh aus dem Walde getragen hatte. Die Läufe waren ihm mit einem Strick zusammengeschnürt, und an denen hing es am Stock über des Hegers Rücken. Pavel erinnerte sich, wie es den schlanken Hals gebogen, die Ohren gespitzt und das Haupt empor zu heben gesucht; er erinnerte sich der Verzweiflung, die dem seinen Geschöpf aus den Augen geschaut hatte.

      Im Traume kamen ihm diese Augen nun vor — aber wie Miladas Augen.

      Einmal rief er laut: „Bist da?“ richtete sich im Halbschlafe auf, wiederholte: „Bist da?“ tastete suchend umher und erwachte darüber völlig. Mit der Schnelligkeit des Blitzes, mit der Gewalt des Sturmes kam das verwaisende Gefühl der Trennung über ihn und warf ihn nieder. Der harte Junge brach in Tränen, in ein leidenschaftliches Schluchzen aus, weckte die Leute in der Stube, weckte die Häusler, seine Wandnachbarn mit seinem Geheul. Die ganze Gesellschaft kam herbei, bedrohte ihn, und da er taub blieb für jede, auch die nachdrücklichste Ermahnung, wurde er mit vereinten Kräften zur Tür hinausgeschleudert.

      Das war eine tüchtige Abkühlung, selbst für den heissesten Schmerz. Pavel blieb eine Weile ganz ruhig und still auf der festgefrornen Erde liegen. Die ihm neue und grässliche Empfindung einer ungeheuren Sehnsucht verminderte sich allmählich, und eine alte, wohlbekannte trat an ihre Stelle: Trotz, kalter, wühlender Groll.

      „Wartet,“ dachte er, „wartet, ich werde euch!“ . .

      Der Entschluss, ein Ende zu machen, war gleich da; der Plan zu dessen Ausführung reifte langsam in Pavels schwerfälligem Kopf. Nachdem aber die grosse Anstrengung, ihn auszudenken, überstanden war, erschien dem Burschen alles übrige nur noch wie Spielerei. Er wollte ins Schloss eindringen, die Schwester entführen, mit ihr über die Berge in die Fremde gehen, sich als Arbeiter verdingen und nie wieder den Vorwurf hören, dass er der Sohn seiner Eltern sei.

      Mit dem Bewusstsein eines Siegers erhob Pavel sich vom Boden und ging in weitem Bogen hinter den Häusern des Dorfes dem Schlossgarten zu. Die Pfeife des Nachtwächters warnte freundlich vor den Wegen, die zu vermeiden waren. Auf den Feldern lag harter, hoher Schnee, die Erde schimmerte lichter als der Himmel, an dem die bleiche Mondsichel immer wieder hinter treibendem Gewölk verschwand. Pavel gelangte ans Gartengitter, überkletterte es und liess sich von oben in die Fichten und dann von Zweig zu Zweig zu Boden fallen. Da befand er sich nun im Garten, wusste auch, in welcher Gegend desselben, in der dem Dorf entgegengesetzten, der besten, die er hätte wählen können, für jetzt sowohl, wie später zur Flucht. Von steigender Zuversicht erfüllt ging er vorwärts . . . immer gerade aus, und man musste zum Schlosse kommen. Was dann zu geschehen hätte, malte Pavel sich nicht deutlich aus; er ging, Milada zu befreien, das war ihm herrlich klar, und mochte alles übrige Zweifel und Ratlosigkeit sein, der Gedanke erleuchtete ihm die Seele, den hielt er fest. Dass er jämmerlich zu frieren begann in seinen elenden Kleidern, dass ihm die Glieder steif wurden, grämte ihn nicht; aber schlimm war’s, dass immer tiefere Finsternis einbrach, und Pavel alle Augenblicke an einen Baum anrannte und hinfiel. Wenn er auch das erste Mal gleich wieder auf die Beine sprang, beim zweitenmal schon kam die Versuchung: „Bleib ein wenig liegen, raste, schlafe!“ Trotzdem aber erhob er sich mit starker Willenskraft, tappte weiter und gelangte endlich ans vorgesetzte Ziel — ans Schloss. Hochauf schlug ihm das Herz, als er an die alte verwitterte Mauer griff. Weiss Gott, wie nahe er der Schwester


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