Das Gemeindekind. Marie von Ebner-EschenbachЧитать онлайн книгу.
der ihn betrogen hatte.
„Was soll aus dir werden?“ wiederholte der Lehrer.
Pavel streckte sich, stemmte die Hände in die Seiten und sagte:
„Ein Dieb.“
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V.
Die Frau Baronin kam noch am Abend des selben Tages nach Hause, aber allein. Ihre Fahrten nach der Stadt wiederholten sich jede Woche den ganzen Sommer hindurch, und man wusste bald im Dorfe, dass ihre Besuche dem Kloster der frommen Schwestern galten, mit deren Oberin sie sehr befreundet war, und denen sie die kleine Milada zur Erziehung anvertraut hatte. Das Institut stand in hohen Ehren, und als Pavel hörte, dass seine Schwester dort untergebracht war, durchströmte ihn ein Gefühl von Glück und Stolz und von Dankbarkeit gegen die Frau Baronin. Er widerstand auch einige Zeit lang den Aufforderungen Vinskas und der eigenen Lust, Raubzüge in den herrschaftlichen Wald zu unternehmen. Nur eine Zeit lang. Seitdem der alte Förster pensioniert und sein Sohn an dessen Stelle gekommen, war der Eintritt in den Wald jedem Unbefugten ein für allemal verboten worden. Das neue Gesetz machte böses Blut und reizte gewaltig zu Übertretungen.
Es bildete sich eine Bande von Buben und Mädeln, lauter Häuslerskindern, deren Führerschaft Pavel übernahm wie ein natürliches Recht. In kleinen Gruppen wanderten sie hinaus, lustig, kühn und schlau. Sie kannten die Schlupfwinkel und gedeckten Stege besser als selbst die Heger und gingen mit köstlichem Gruseln ihren Abenteuern entgegen, die nur auf zweierlei Weise enden konnten. Entweder glücklich heimkehren, das gestohlene Holz auf dem Rücken, mit der Aussicht auf Lob und ein warmes Abendessen, oder erwischt werden und Prügel kriegen, an Ort und Stelle wegen Dieberei, und daheim, weil man sich hatte erwischen lassen. Das letztere Schicksal traf selten einen anderen als Pavel, dem es oblag, den Rückzug zu decken, und den man immer im Stiche liess, weil man seiner Verschwiegenheit sicher war. Der Pavel verriet keinen, und hätte er es getan, dem schlechten Buben würde man nicht geglaubt haben.
Sein Ruf verschlimmerte sich von Tag zu Tag. Fand sich im Walde irgend eine böswillige Beschädigung vor, sie war sein Werk. Entdeckte man eine Schlinge, er hatte sie gelegt; fehlten Hühner, Kartoffeln, Birnen, er hatte sie gestohlen. Trat ihn jemand an und drohte ihm, dann stellte er sich und starrte ihm stumm ins Gesicht. Die alten Leute schimpften ihn nicht einmal mehr; er wäre imstande, meinten sie, einem Steine nachzuwerfen aus dem Busch. So schwarz erschien er mit der Zeit, dass die Familie Virgil förmlich in Unschuld schimmerte im Gegensatz zu ihm.
Dass Pavel hundert Hände und die Kraft eines Riesen hätte haben müssen, um die zahllosen Schelmenstreiche, die ihm zugeschrieben wurden, wirklich auszuführen, überlegten seine Mitbürger nicht; er aber kam langsam dahinter, und ihn erfüllte eine grenzenlose Verachtung der Dummheit, die das Unsinnigste von ihm glaubte, wenn es nur etwas Schlechtes war. Er fand einen Genuss darin, das blöde und ihm übelgesinnte Volk bei jeder Gelegenheit von neuem aufzubringen, und wie ein anderer im Bewusstsein der Würdigung schwelgt, die ihm zu teil wird, so schwelgte er in dem Bewusstsein der Feindseligkeit, die er einflösste. Was er zu tun vermochte, sie zu nähren, das tat er, und kannte Aufrichtigkeit nicht einmal gegen den Geistlichen im di Beichtstuhl.
Die Zeit verfloss; der Sommer ging zur Neige; der erste September, der Tag des grossen Kirchenfestes, kam heran. Im vorigen Jahre noch hatte sich Pavel durch die Menge gedrängt und während des Hochamtes barfüssig und zerlumpt unter den Bauernkinder gekniet, dicht an den Stufen des Altars. Heute trat er nicht in die Kirche ein; er hielt sich draussen wie die Bettler und Vagabunden, zu denen er seiner Ausstaffierung nach passte. Sein ehemals langer, grüner Rock reichte ihm jetzt gerade bis zum Gürtel und präsentierte, geplatzt an allen Nähten, eine Musterkarte von abgelegten Kleidern der Virgilova in Gestalt von grossen und kleinen Flicken. Das grobe Hemd liess die Brust unbedeckt, die Leinwandhose, altersgrau und verschrumpft, war so hoch über die Knie heraufgezogen, als ob ihr Eigentümer eben im Begriff sei, durch den Bach zu waten.
Pavel stand mit dem Rücken an die Planken des Pfarrhofgartens gelehnt, die Arme über den zur Seite geneigten Kopf erhoben, und sah gleichgültigen Blickes den Zug der Kirchgänger vorüberwallen. In Scharen kamen Bursche und Mädel heran; die letzteren begaben sich sofort in das Gotteshaus, die ersteren blieben bei den am Weg aufgerichteten Marktbuden zurück und erwarteten, deren Inhalt musternd, das Zusammenläuten zur Predigt. Einer unter ihnen, ein kleiner junger Mensch mit hässlichem, flachgedrücktem Gesicht, tat sich dabei durch ein auffallend protziges Wesen hervor. Er trug seine, halbstädtische Kleidung; an die schwarze Jacke war aus lauter Wohlhabenheit so viel Stoff verschwendet worden, dass sie sich vorne wie eine Tonne blähte und sich hinten zu einem stolzen Katzenbuckel aufbauschte. Die anderen Burschen begegneten dem Dorfstutzer mit einer Rücksichtnahme, die trotz einer kleinen Beimischung von Spott den Wunsch verriet, auf gutem Fusse mit ihm zu stehen. Natürlich auch! Er war ja der Peter, der einzige Sohn des Bürgermeisters, der Erbe des grössten, im besten Stande befindlichen Bauernhofes im ganzen Ort.
Das erste Glockenzeichen klang vom Turme, der Zudrang der Bevölkerung zur Kirche hatte aufgehört, hastend eilten nur noch einzelne Verspätete die Dorfstrasse herab. — Ganz zuletzt, ganz allein erschien Vinska und erregte alsbald die Aufmerksamkeit des Hofstaates, der den Peter umgab.
„Sakerment!“ hiess es, „die Vinska! was die heute schön ist! — Wie prächtig ihr das Kopftüchel steht. — Es ist von Seide, meiner Treu’! — Und wenigstens sechs Röcke hat sie an. — Und wie bescheiden sie tut! o du Heilige du!“
Jeder hatte ein boshaftes Wörtlein für sie, oder ein galantes, das viel beschämender war als das boshafte. Nur der Peter schwieg und sah aufmerksam einem Vogel nach, der auf dem Eckpfeiler des Pfarrhofgartens gesessen hatte und sich in die Luft schwang bei Vinskas Nahen. Sie war bald in der Menge verschwunden, die vor der Kirchenpforte stand. Die Burschen folgten ihr nach, und Pavel hörte den einen von ihnen zum andern sagen:
„Ich möcht nur wissen, wie der Virgil, der alte krummbeinige Lump, zu der hübschen Tochter gekommen ist?“
Der Angeredete verzog den Mund: „Und ich möcht wissen,“ erwiderte er, „wie die Tochter des Lumpen zu den schönen Kleidern gekommen ist?“
Dass sie schöne Kleider trug, hatte Pavel nicht bemerkt, und von der ganzen Vinska nichts gesehen, als ihre Füsse oder eigentlich ihre Stiefel. — Eine halb verwischte Erinnerung an eine grosse Freude, an ein bitteres Leid, war beim Anblick derselben in ihm aufgetaucht, und er sann ihr nach in seiner langsamen und hartnäckigen Weise.
Wenn ihn die Vinska schalt, schloss sie meistens mit den Worten: „Und dumm bist du, dumm, der Dümmste im ganzen Dorf.“ Vor kurzem noch hatte diese Versicherung ihn kühl gelassen, seit einiger Zeit begann sie; ihn zu verdriessen; ihm schwante, dass etwas Wahres an ihr sei. „Dumm,“ murmelte er und griff sich an die Stirn, — „aber so dumm doch nicht, wie sie glaubt, die Spitzbübin.“ So dumm doch nicht, dass aus seinem Gedächtnis alles verschwunden wäre, was sich vor einem Jahre begeben hatte, und dass er nicht vermöchte, einen Verdacht, der damals schon flüchtig in ihm aufgestiegen war, von neuem, und jetzt kräftiger zu fassen.
Das Hochamt dauerte lange; die Sonne stand im Scheitel, als Gesang und Musik endlich verstummten, und die Beter sich so eilig aus der Kirche herausdrängten, wie sie sich hineingedrängt hatten. Pavels Augen suchten nur die eine und vermochten nicht, sie zu entdecken, auch dann nicht, als das Gewühl sich zerstreute, und ein Teil der Leute die Marktbuden umringte, der andere in leicht übersehbarem Zug die Dorfstrasse hinabschritt. Vinska war wie verschwunden, und der Peter mit ihr.
Nach der Messe wäre es Pavels Sache gewesen, heimzukehren und mit Virgil das Vieh auf die Weide zu treiben; aber das fiel ihm heute nicht ein. Er vagabundierte in der nächsten Umgebung auf den Feldern und im Walde herum und suchte die Vinska. Bis zur Wut gesteigerte Ungeduld kochte in seiner Brust, und quälend nagte der Hunger an ihm.
Gegend Abend kam er zum Wirtshaus, vor dem es lustig zuging. Betrunkene sangen, Buben balgten sich, kleine Mädchen hüpften im Reigen beim Schall des Zymbals und der Fiedeln, der durch die offene Tür herausgellte. Neugierige hielten die Fenster der Tanzstube besetzt, beobachteten, was drinnen vorging und machten ihre Glossen darüber. Nach