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Gesammelte Werke: Psychoanalytische Studien, Theoretische Schriften & Briefe. Sigmund FreudЧитать онлайн книгу.

Gesammelte Werke: Psychoanalytische Studien, Theoretische Schriften & Briefe - Sigmund Freud


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ist uns versagt, dagegen erkennen wir, daß die akzidentellen Umstände seiner Kindheit eine tiefgreifende störende Wirkung ausüben. Seine illegitime Geburt entzieht ihn bis vielleicht zum fünften Jahre dem Einflusse des Vaters und überläßt ihn der zärtlichen Verführung einer Mutter, deren einziger Trost er ist. Von ihr zur sexuellen Frühreife emporgeküßt, muß er wohl in eine Phase infantiler Sexualbetätigung eingetreten sein, von welcher nur eine einzige Äußerung sicher bezeugt ist, die Intensität seiner infantilen Sexualforschung. Schau-und Wißtrieb werden durch seine frühkindlichen Eindrücke am stärksten erregt; die erogene Mundzone empfängt eine Betonung, die sie nie mehr abgibt. Aus dem später gegenteiligen Verhalten, wie dem übergroßen Mitleid mit Tieren, können wir schließen, daß es in dieser Kindheitsperiode an kräftigen sadistischen Zügen nicht fehlte.

      Ein energischer Verdrängungsschub bereitet diesem kindlichen Übermaß ein Ende und stellt die Dispositionen fest, die in den Jahren der Pubertät zum Vorschein kommen werden. Die Abwendung von jeder grobsinnlichen Betätigung wird das augenfälligste Ergebnis der Umwandlung sein; Leonardo wird abstinent leben können und den Eindruck eines asexuellen Menschen machen. Wenn die Fluten der Pubertätserregung über den Knaben kommen, werden sie ihn aber nicht krank machen, indem sie ihn zu kostspieligen und schädlichen Ersatzbildungen nötigen; der größere Anteil der Bedürftigkeit des Geschlechtstriebes wird sich dank der frühzeitigen Bevorzugung der sexuellen Wißbegierde zu allgemeinem Wissensdrang sublimieren können und so der Verdrängung ausweichen. Ein weit geringerer Anteil der Libido wird sexuellen Zielen zugewendet bleiben und das verkümmerte Geschlechtsleben des Erwachsenen repräsentieren. Infolge der Verdrängung der Liebe zur Mutter wird dieser Anteil in homosexuelle Einstellung gedrängt werden und sich als ideelle Knabenliebe kundgeben. Im Unbewußten bleibt die Fixierung an die Mutter und an die seligen Erinnerungen des Verkehrs mit ihr bewahrt, verharrt aber vorläufig in inaktivem Zustand. In solcher Weise teilen sich Verdrängung, Fixierung und Sublimierung in die Verfügung über die Beiträge, welche der Sexualtrieb zum Seelenleben Leonardos leistet.

      Aus dunkler Knabenzeit taucht Leonardo als Künstler, Maler und Plastiker vor uns auf, dank einer spezifischen Begabung, die der frühzeitigen Erweckung des Schautriebes in den ersten Kinderjahren eine Verstärkung schulden mag. Gerne würden wir angeben wollen, in welcher Weise sich die künstlerische Betätigung auf die seelischen Urtriebe zurückführt, wenn nicht gerade hier unsere Mittel versagen würden. Wir bescheiden uns, die kaum mehr zweifelhafte Tatsache hervorzuheben, daß das Schaffen des Künstlers auch seinem sexuellen Begehren Ableitung gibt, und für Leonardo auf die von Vasari übermittelte Nachricht hinzuweisen, daß Köpfe von lächelnden Frauen und schönen Knaben, also Darstellungen seiner Sexualobjekte, unter seinen ersten künstlerischen Versuchen auffielen. In aufblühender Jugend scheint Leonardo zunächst ungehemmt zu arbeiten. Wie er in seiner äußeren Lebensführung den Vater zum Vorbild nimmt, so durchlebt er eine Zeit von männlicher Schaffenskraft und künstlerischer Produktivität in Mailand, wo ihn die Gunst des Schicksals im Herzog Lodovico Moro einen Vaterersatz finden läßt. Aber bald bewährt sich an ihm die Erfahrung, daß die fast völlige Unterdrückung des realen Sexuallebens nicht die günstigsten Bedingungen für die Betätigung der sublimierten sexuellen Strebungen ergibt. Die Vorbildlichkeit des Sexuallebens macht sich geltend, die Aktivität und die Fähigkeit zu raschem Entschluß beginnen zu erlahmen, die Neigung zum Erwägen und Verzögern wird schon beim heiligen Abendmahl störend bemerkbar und bestimmt durch die Beeinflussung der Technik das Schicksal dieses großartigen Werkes. Langsam vollzieht sich nun bei ihm ein Vorgang, den man nur den Regressionen bei Neurotikern an die Seite stellen kann. Die Pubertätsentfaltung seines Wesens zum Künstler wird durch die frühinfantil bedingte zum Forscher überholt, die zweite Sublimierung seiner erotischen Triebe tritt gegen die uranfängliche, bei der ersten Verdrängung vorbereitete zurück. Er wird zum Forscher, zuerst noch im Dienste seiner Kunst, später unabhängig von ihr und von ihr weg. Mit dem Verlust des den Vater ersetzenden Gönners und der zunehmenden Verdüsterung im Leben greift diese regressive Ersetzung immer mehr um sich. Er wird »impacientissimo al pennello«, wie ein Korrespondent der Markgräfin Isabella d’Este berichtet, die durchaus noch ein Bild von seiner Hand besitzen will. Seine kindliche Vergangenheit hat Macht über ihn bekommen. Das Forschen aber, das ihm nun das künstlerische Schaffen ersetzt, scheint einige der Züge an sich zu tragen, welche die Betätigung unbewußter Triebe kennzeichnen, die Unersättlichkeit, die rücksichtslose Starrheit, den Mangel an Fähigkeit, sich realen Verhältnissen anzupassen.

      Auf der Höhe seines Lebens, in den ersten Fünfzigerjahren, zu einer Zeit, da beim Weibe die Geschlechtscharaktere bereits rückgebildet sind, beim Manne nicht selten die Libido noch einen energischen Vorstoß wagt, kommt eine neue Wandlung über ihn. Noch tiefere Schichten seines seelischen Inhaltes werden von neuem aktiv; aber diese weitere Regression kommt seiner Kunst zugute, die im Verkümmern war. Er begegnet dem Weibe, welches die Erinnerung an das glückliche und sinnlich verzückte Lächeln der Mutter bei ihm weckt, und unter dem Einfluß dieser Erweckung gewinnt er den Antrieb wieder, der ihn zu Beginn seiner künstlerischen Versuche, als er die lächelnden Frauen bildete, geleitet. Er malt die Mona Lisa, die heilige Anna selbdritt und die Reihe der geheimnisvollen, durch das rätselhafte Lächeln ausgezeichneten Bilder. Mit Hilfe seiner urältesten erotischen Regungen feiert er den Triumph, die Hemmung in seiner Kunst noch einmal zu überwinden. Diese letzte Entwicklung verschwimmt für uns im Dunkel des herannahenden Alters. Sein Intellekt hat sich noch vorher zu den höchsten Leistungen einer seine Zeit weit hinter sich lassenden Weltanschauung aufgeschwungen.

      Ich habe in den voranstehenden Abschnitten angeführt, was zu einer solchen Darstellung des Entwicklungsganges Leonardos, zu einer derartigen Gliederung seines Lebens und Aufklärung seines Schwankens zwischen Kunst und Wissenschaft berechtigen kann. Sollte ich mit diesen Ausführungen auch bei Freunden und Kennern der Psychoanalyse das Urteil hervorrufen, daß ich bloß einen psychoanalytischen Roman geschrieben habe, so werde ich antworten, daß ich die Sicherheit dieser Ergebnisse gewiß nicht überschätze. Ich bin wie andere der Anziehung unterlegen, die von diesem großen und rätselhaften Manne ausgeht, in dessen Wesen man mächtige triebhafte Leidenschaften zu verspüren glaubt, die sich doch nur so merkwürdig gedämpft äußern können.

      Was immer aber die Wahrheit über Leonardos Leben sein mag, wir können von unserem Versuche, sie psychoanalytisch zu ergründen, nicht eher ablassen, als bis wir eine andere Aufgabe erledigt haben. Wir müssen ganz allgemein die Grenzen abstecken, welche der Leistungsfähigkeit der Psychoanalyse in der Biographik gesetzt sind, damit uns nicht jede unterbliebene Erklärung als ein Mißerfolg ausgelegt werde. Der psychoanalytischen Untersuchung stehen als Material die Daten der Lebensgeschichte zur Verfügung, einerseits die Zufälligkeiten der Begebenheiten und Milieueinflüsse, anderseits die berichteten Reaktionen des Individuums. Gestützt auf ihre Kenntnis der psychischen Mechanismen sucht sie nun das Wesen des Individuums aus seinen Reaktionen dynamisch zu ergründen, seine ursprünglichen seelischen Triebkräfte aufzudecken sowie deren spätere Umwandlungen und Entwicklungen. Gelingt dies, so ist das Lebensverhalten der Persönlichkeit durch das Zusammenwirken von Konstitution und Schicksal, inneren Kräften und äußeren Mächten aufgeklärt. Wenn ein solches Unternehmen, wie vielleicht im Falle Leonardos, keine gesicherten Resultate ergibt, so liegt die Schuld nicht an der fehlerhaften oder unzulänglichen Methodik der Psychoanalyse, sondern an der Unsicherheit und Lückenhaftigkeit des Materials, welches die Überlieferung für diese Person beistellt. Für das Mißglücken ist also nur der Autor verantwortlich zu machen, der die Psychoanalyse genötigt hat, auf so unzureichendes Material hin ein Gutachten abzugeben.

      Aber selbst bei ausgiebigster Verfügung über das historische Material und bei gesichertster Handhabung der psychischen Mechanismen würde eine psychoanalytische Untersuchung an zwei bedeutsamen Stellen die Einsicht in die Notwendigkeit nicht ergeben können, daß das Individuum nur so und nicht anders werden konnte. Wir haben bei Leonardo die Ansicht vertreten müssen, daß die Zufälligkeit seiner illegitimen Geburt und die Überzärtlichkeit seiner Mutter den entscheidendsten Einfluß auf seine Charakterbildung und sein späteres Schicksal übten, indem die nach dieser Kindheitsphase eintretende Sexualverdrängung ihn zur Sublimierung der Libido in Wissensdrang veranlaßte und seine sexuelle Inaktivität fürs ganze spätere Leben feststellte. Aber diese Verdrängung nach den ersten erotischen Befriedigungen der Kindheit hätte nicht eintreten müssen; sie wäre bei einem anderen Individuum


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