Gesammelte Werke: Psychoanalytische Studien, Theoretische Schriften & Briefe. Sigmund FreudЧитать онлайн книгу.
Freiheit anerkennen, der psychoanalytisch nicht mehr aufzulösen ist. Ebensowenig darf man den Ausgang dieses Verdrängungsschubes als den einzig möglichen Ausgang hinstellen wollen. Einer anderen Person wäre es wahrscheinlich nicht geglückt, den Hauptanteil der Libido der Verdrängung durch die Sublimierung zur Wißbegierde zu entziehen; unter den gleichen Einwirkungen wie Leonardo hätte sie eine dauernde Beeinträchtigung der Denkarbeit oder eine nicht zu bewältigende Disposition zur Zwangsneurose davongetragen. Diese zwei Eigentümlichkeiten Leonardos erübrigen also als unerklärbar durch psychoanalytische Bemühung: seine ganz besondere Neigung zu Triebverdrängungen und seine außerordentliche Fähigkeit zur Sublimierung der primitiven Triebe.
Die Triebe und ihre Umwandlungen sind das letzte, das die Psychoanalyse erkennen kann. Von da an räumt sie der biologischen Forschung den Platz. Verdrängungsneigung sowie Sublimierungsfähigkeit sind wir genötigt, auf die organischen Grundlagen des Charakters zurückzuführen, über welche erst sich das seelische Gebäude erhebt. Da die künstlerische Begabung und Leistungsfähigkeit mit der Sublimierung innig zusammenhängt, müssen wir zugestehen, daß auch das Wesen der künstlerischen Leistung uns psychoanalytisch unzugänglich ist. Die biologische Forschung unserer Zeit neigt dazu, die Hauptzüge der organischen Konstitution eines Menschen durch die Vermengung männlicher und weiblicher Anlagen im stofflichen Sinne zu erklären; die Körperschönheit wie die Linkshändigkeit Leonardos gestatteten hier manche Anlehnung. Doch wir wollen den Boden rein psychologischer Forschung nicht verlassen. Unser Ziel bleibt der Nachweis des Zusammenhanges zwischen äußeren Erlebnissen und Reaktionen der Person über den Weg der Triebbetätigung. Wenn uns die Psychoanalyse auch die Tatsache der Künstlerschaft Leonardos nicht aufklärt, so macht sie uns doch die Äußerungen und die Einschränkungen derselben verständlich. Scheint es doch, als hätte nur ein Mann mit den Kindheitserlebnissen Leonardos die Mona Lisa und die heilige Anna selbdritt malen, seinen Werken jenes traurige Schicksal bereiten und so unerhörten Aufschwung als Naturforscher nehmen können, als läge der Schlüssel zu all seinen Leistungen und seinem Mißgeschick in der Kindheitsphantasie vom Geier verborgen.
Darf man aber nicht Anstoß nehmen an den Ergebnissen einer Untersuchung, welche den Zufälligkeiten der Elternkonstellation einen so entscheidenden Einfluß auf das Schicksal eines Menschen einräumt, das Schicksal Leonardos zum Beispiel von seiner illegitimen Geburt und der Unfruchtbarkeit seiner ersten Stiefmutter Donna Albiera abhängig macht? Ich glaube, man hat kein Recht dazu; wenn man den Zufall für unwürdig hält, über unser Schicksal zu entscheiden, ist es bloß ein Rückfall in die fromme Weltanschauung, deren Überwindung Leonardo selbst vorbereitete, als er niederschrieb, die Sonne bewege sich nicht. Wir sind natürlich gekränkt darüber, daß ein gerechter Gott und eine gütige Vorsehung uns nicht besser vor solchen Einwirkungen in unserer wehrlosesten Lebenszeit behüten. Wir vergessen dabei gern, daß eigentlich alles an unserem Leben Zufall ist, von unserer Entstehung an durch das Zusammentreffen von Spermatozoon und Ei, Zufall, der darum doch an der Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit der Natur seinen Anteil hat; bloß der Beziehung zu unseren Wünschen und Illusionen entbehrt. Die Aufteilung unserer Lebensdeterminierung zwischen den »Notwendigkeiten« unserer Konstitution und den »Zufälligkeiten« unserer Kindheit mag im einzelnen noch ungesichert sein; im ganzen läßt sich aber ein Zweifel an der Bedeutsamkeit gerade unserer ersten Kinderjahre nicht mehr festhalten. Wir zeigen alle noch zu wenig Respekt vor der Natur, die nach Leonardos dunklen, an Hamlets Rede gemahnenden Worten »voll ist zahlloser Ursachen, die niemals in die Erfahrung traten« (La natura è piena d’infinite ragioni che non furono mai in isperienza. M. Herzfeld, 1906, 11). Jedes von uns Menschenwesen entspricht einem der ungezählten Experimente, in denen diese ragioni der Natur sich in die Erfahrung drängen.
Totem und Tabu
Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker
(1912–13)
VORREDE ZUR HEBRäISCHEN AUSGABE
II DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ DER GEFüHLSREGUNGEN
III ANIMISMUS, MAGIE UND ALLMACHT DER GEDANKEN
IV DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS
VORWORT
Die nachstehenden vier Aufsätze, die unter dem Untertitel dieses Buches in den beiden ersten Jahrgängen der von mir herausgegebenen Zeitschrift Imago erschienen sind, entsprechen einem ersten Versuch von meiner Seite, Gesichtspunkte und Ergebnisse der Psychoanalyse auf ungeklärte Probleme der Völkerpsychologie anzuwenden. Sie enthalten also einen methodischen Gegensatz einerseits zu dem groß angelegten Werke von W. Wundt, welches die Annahmen und Arbeitsweisen der nicht analytischen Psychologie derselben Absicht dienstbar macht, und anderseits zu den Arbeiten der Züricher psychoanalytischen Schule, die umgekehrt Probleme der Individualpsychologie durch Heranziehung von völkerpsychologischem Material zu erledigen streben. Es sei gern zugestanden, daß von diesen beiden Seiten die nächste Anregung zu meinen eigenen Arbeiten ausgegangen ist.
Die Mängel dieser letzteren sind mir wohlbekannt. Ich will diejenigen nicht berühren, die von dem Erstlingscharakter dieser Untersuchungen abhängen. Andere aber erfordern ein Wort der Einführung. Die vier hier vereinigten Aufsätze machen auf das Interesse eines größeren Kreises von Gebildeten Anspruch und können eigentlich doch nur von den wenigen verstanden und beurteilt werden, denen die Psychoanalyse