Aristoteles: Metaphysik, Nikomachische Ethik, Das Organon, Die Physik & Die Dichtkunst. AristotelesЧитать онлайн книгу.
die sich mit einem speziellen Fach beschäftigen, einsichtig nennen, wenn sie zu einem wertvollen Zweck richtige Überlegungen da anstellen, wo es sich nicht um eine besondere Kunstfertigkeit handelt. Demnach wäre ein einsichtiger Mann überhaupt ein Mann, der richtige Überlegungen anstellt. Kein Mann aber überlegt sich solche Dinge, die sich gar nicht anders verhalten können, und ebenso wenig solche, die zu bewerkstelligen sich ihm keinerlei Möglichkeit bietet. Ist also Wissenschaft auf Beweis gerichtet und gibt es keinen Beweis für Dinge, deren Prinzipien sich auch anders verhalten können, denn dann gehören auch die daraus gefolgerten Dinge zu dem, was sich auch anders verhalten kann, läßt sich ferner keine Überlegung anstellen über das was notwendig ist: so ergibt sich, daß Einsicht weder wissenschaftliche Erkenntnis noch Kunstfertigkeit ist; jenes nicht, weil, was Gegenstand des Handelns ist, sich auch anders verhalten kann; und nicht Kunstfertigkeit, weil das Gebiet auf dem sich das Handeln bewegt ein anderes ist als dasjenige, auf dem das Gestalten sich betätigt. Es bleibt also nur übrig, daß sie die Fertigkeit ist, im Bunde mit vernünftigem Denken richtig urteilend tätig zu sein in bezug auf das, was für den Menschen ein Gut oder ein Übel ist. Die gestaltende Tätigkeit hat ihr Ziel außerhalb ihrer; so ist es beim Handeln nicht. Denn bei diesem ist das Ziel das richtige Handeln selber.
Unter diesem Gesichtspunkt halten wir einen Perikles und seinesgleichen für einsichtige Männer, weil sie das was für sie und das was für die Menschen ein Gut ist, im Geiste zu erfassen vermögen. Für Menschen von solcher Art halten wir diejenigen, die sich in wirtschaftlicher und politischer Tätigkeit bewähren. Aus diesem Grunde wenden wir diesen Ausdruck auch auf die Besonnenheit (sôphrosynê) an, sofern sie sich die Einsicht bewahrt (hôs sôzousan tên phronêsin); was sie bewahrt, ist eben ein solches einsichtiges Urteil. Es wird nämlich nicht jedes Urteil durch die Rücksicht auf das was Lust oder Unlust bereitet verderbt oder verkehrt, z.B. nicht das Urteil, daß die Winkelsumme im Dreieck 2 Rechten gleich oder nicht gleich sei, sondern nur solche Urteile, die für das praktische Verhalten von Bedeutung sind. Denn die Gründe für das praktische Verhalten bilden die Zwecke, die durch das Handeln erreicht werden sollen. Demjenigen aber, der sich durch die Rücksicht auf Lust und Unlust in den Irrtum verführen läßt, steht gleich auch die Maxime des Handelns nicht klar vor Augen, auch nicht der Gedanke, daß man für diesen Zweck, und auch nicht daß man um seinetwillen alle seine Vorsätze und Handlungen einrichten soll. Die Schlechtigkeit des Charakters pflegt auch die Maxime des Handelns zu verfälschen. So ist es das notwendige Ergebnis, daß die Einsicht die Fertigkeit ist, mit vernünftigem Denken richtig urteilend das was für Menschen ein Gut ist handelnd zu verwirklichen.
Nun gibt es aber wohl eine höhere oder geringere Durchbildung bei der Kunstfertigkeit, dagegen gibt es sie nicht bei der Einsicht. Ferner, wo es sich um Kunstfertigkeit handelt, da steht unter denen die einen Fehler begehen derjenige höher, der ihn mit Absicht begeht: bei der Einsicht gilt das nicht so, wie es auch bei den anderen Arten von Vollkommenheiten nicht gilt. Offenbar bedeutet also die Einsicht eine Art innerer Vollkommenheit, und nicht eine bloße Kunstfertigkeit. Und da es zwei Vermögen der Seele gibt, die mit Vernunft ausgestattet sind, so wäre sie demnach die Vollkommenheit des einen der beiden, nämlich des Vermögens der Ansichtsbildung. Denn die Ansichtsbildung hat zum Gegenstande das, was sich auch anders verhalten kann, und die praktische Einsicht ebenso. Andererseits ist die Einsicht auch nicht eine bloße Fertigkeit im Bunde mit dem Gedanken. Das sieht man schon daran, daß eine Fertigkeit dieser Art auch durch Vergessen abhanden kommen kann, die Einsicht aber nicht.
Wissenschaftliche Erkenntnis sahen wir, ist gedankliche Auffassung des Allgemeinen und des Notwendigen. Für alles nun was Gegenstand eines Beweises ist, und mithin für alle Wissenschaft, gibt es Prinzipien, aus denen es stammt; denn Wissenschaft stützt sich auf Gründe. Der letzte Grund für das was Objekt der Wissenschaft ist, kann also weder der Wissenschaft selber noch der Kunstfertigkeit noch der praktischen Einsicht zugehören. Denn was Objekt der Wissenschaft ist, das muß sich beweisen lassen; die beiden anderen aber haben es mit dem zu tun, was sich auch anders verhalten kann. Aber auch in der idealen Geisteskultur haben jene letzten Gründe nicht ihren Platz. Denn es bezeichnet gerade den hochgebildeten Mann, daß es so manches gibt, wofür er imstande ist einen Beweis zu führen. Wenn es nun viererlei ist, wodurch wir über das was möglicherweise sich auch anders verhalten kann oder nicht kann, die Wahrheit erlangen und niemals in Irrtum geraten: wissenschaftliche Erkenntnis, Einsicht, Geisteskultur und Vernunft, und wenn von den drei ersten darunter also praktische Einsicht, wissenschaftliche Erkenntnis und Geisteskultur keines es leisten kann, so bleibt nur übrig, daß es die Vernunft ist, die die Prinzipien erfaßt.
Ideale Geisteskultur schreiben wir im Gebiete der Kunstfertigkeiten denjenigen zu, die in der Ausübung derselben die vollendetsten Meister sind; so nennen wir Pheidias einen hochgebildeten Bildhauer in Stein und Polykleitos einen ebensolchen Bildner in Erz, und damit wollen wir von solcher Geisteskultur gar nichts anderes aussagen, als daß sie vollendete Meisterschaft in der Kunst bedeutet. Manchen aber schreiben wir Geisteskultur überhaupt und nicht bloß auf einem speziellen Gebiete oder in irgendeiner besonderen Beziehung zu. So heißt es bei Homer im Margites:
Diesen machten die Götter zum Ackrer nicht, auch nicht zum Pflüger,
Oder in sonst was gebildet.
Man sieht daraus, daß Geisteskultur die vollendetste Form von Bildung überhaupt bedeutet. Ein geistig gebildeter Mann muß also nicht nur das wissen, was aus den Prinzipien folgt, sondern auch betreffs der Prinzipien selber im Besitze wahrer Erkenntnis sein. Geistesbildung ist mithin intuitive Vernunft vereint mit wissenschaftlicher Erkenntnis, die auch die höchsten Objekte gleichsam als den Gipfel alles Erkennbaren zu eigen hat. Denn das hätte keinen Sinn, wenn jemand die Staatskunst oder die praktische Einsicht überhaupt für das wertvoll Höchste halten wollte; es müßte denn der Mensch für das höchststehende Wesen unter allen in der Welt vorhandenen gelten. Wenn für die Menschen etwas anderes gesund und gut ist als für die Fische, das Weiße und das Gerade aber immer dasselbe ist, so werden geistige Bildung alle als immer dasselbe, praktische Einsicht aber als immer anderes bezeichnen. Denn einsichtsvoll wird man es nennen, das Verständnis zu haben für den günstigen Fortgang in den einem obliegenden Einzelheiten, und dem Einsichtigen wird man denn auch die Sorge dafür übertragen. So nennt man ja auch manche Tiere klug, die augenscheinlich das Vermögen haben, für ihren eigenen Lebensunterhalt vorzusorgen. Damit aber ist auch das offenbar, daß Geisteskultur und Staatskunst nicht dasselbe ist. Wollte man Geisteskultur die Kenntnis dessen nennen, was jedesmal dem der sie hat frommt, so gäbe es viele Arten von Geisteskultur. Denn es gibt nicht eine Kenntnis, die das was allen Arten von lebenden Wesen gut ist umfaßte, sondern für jede Gattung ist es eine andere; es müßte sonst auch die Heilkunst eine einzige sein für alles was existiert. Beruft man sich aber darauf, daß der Mensch das höchststehende unter allen lebenden Wesen sei, so ändert das nichts an der Sache. Denn es gibt auch dann noch andere Wesen, die von Natur viel göttlicher sind als der Mensch, so mindestens die Wesen, die am meisten in die Augen fallen, die Himmelskörper, aus denen das Universum besteht.
4. Praktische Einsicht
Aus dem Dargelegten geht hervor, daß Geisteskultur Erkenntnis und intuitives Erfassen der ihrer Natur nach höchststehenden Gegenstände ist. Darum schreibt man Männern wie Anaxagoras, Thales und ihresgleichen wohl hohe Geisteskultur, aber nicht auch praktische Einsicht zu, in der Erwägung, daß sie ihre persönlichen Interessen nicht wahrzunehmen wußten. Man sagt von solchen, daß ihre Kenntnisse überschwänglich, die Gegenstände derselben bewundernswert, schwierig und göttlich, aber nichts fürs Leben Brauchbares seien, weil ihr Forschen nicht auf das gerichtet ist, was der menschlichen Natur dienlich ist.
Dagegen hat die praktische Einsicht die menschlichen Dinge, dasjenige worüber sich eine Überlegung anstellen läßt, zum Gegenstande. Denn dem praktisch Einsichtigen schreiben wir am allermeisten dies als seine Leistung zu, daß er richtige Überlegungen anstellt. Es überlegt sich aber niemand dasjenige, was sich nicht anders verhalten kann, oder was kein Ziel und keinen Zweck hat; Ziel und Zweck aber ist das durch Handeln zu bewirkende Gute. Zu rechter Überlegung befähigt schlechthin ist