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Die Rabenringe - Gabe (Band 3). Siri PettersenЧитать онлайн книгу.

Die Rabenringe - Gabe (Band 3) - Siri Pettersen


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      Siri Pettersen

      Die Rabenringe

      Gabe

      Aus dem Norwegischen von Dagmar Lendt

Verlagslogo

      Für alle, die an ihrem ersten Buch schreiben.

      Und für dich und alle, die verloren haben. Für euch, die ihr so voller Narben seid, dass euch schlecht wird, wenn andere sagen, ihr hättet Glück gehabt. Für euch, die ihr daran zweifelt, dass ihr jemals ein Ganzes werden könnt, weil ihr in so viele Stücke zerbrochen seid. Für euch, die ihr glaubt, nie wieder aufstehen zu können. Das hier ist euer Buch.

      Zurück aus Draumheim

      Rime lief den Hang hinauf, in der Gewissheit, dass ihn im Dunkeln niemand sehen konnte. Er erreichte die Hügelkuppe, presste sich an einen Felsvorsprung und blickte hinunter auf die Ebene. Was eine verlassene Gegend hätte sein sollen, war ein ausgedehntes Zeltlager. Die Zelte standen in schnurgeraden Reihen, ein Muster, das man nur dort fand, wo Ordnung die treibende Kraft war. Wo jemand den Befehl hatte.

      Ein Heer.

      Es war zu dunkel, um seine Größe zu erkennen. Ein paar Tausend Mann vielleicht, den Fackeln nach zu urteilen. Er bemerkte Spuren im Schnee. Ein Netz von schwarzen Adern zwischen den Zelten. Männer versammelten sich um ein Lagerfeuer direkt unter ihm. Sie gingen mit federnden Schritten und lachten laut. Rime kannte diese Stimmung. Der erste oder zweite Abend, vermutete er. Früh genug würden sie stumm mit gebeugten Rücken dasitzen. Alle, die nicht erfroren waren oder krank in den Zelten lagen.

      Die Wimpel hingen schlaff herab, aber er wusste, dass sie das Zeichen des Sehers trugen. Es war das Heer von Mannfalla, das draußen vor der Stadt lagerte. Warum? Worauf warteten sie? Welchen Befehl hatten sie erhalten und von wem?

       Sie hatte recht.

      Damayanti hatte gesagt, dass er sie hier finden würde. Sie hatte auch gesagt, dass es um ihn ging. Um Ravnhov. Aber ihre Verbindung zum Rat war mit Urd gestorben. Die Vermutungen der Tänzerin waren nicht fundierter als seine eigenen.

      Es konnte eine Übung sein, natürlich. Standortwechsel. Oder Truppenbewegungen im Kielwasser des Krieges …

      Die Erklärungen kamen ihm sehr dünn vor. Unruhe nagte in seiner Brust. Das beklemmende Gefühl, dass nichts so war, wie es sein sollte.

      Lag es vielleicht an den Rabenringen? War es überhaupt möglich, sich zwischen den Welten zu bewegen, ohne das Gefühl zu haben, den Boden unter den Füßen zu verlieren? Verunsicherung war wohl zu erwarten?

      Nein. Das hier war mehr als ein Gefühl. Es war eine Gewissheit, die ihn daran hinderte, geradewegs nach Hause zu gehen. Er war kaum zwanzig Tage weg gewesen und in dieser Zeit hatte jemand die Krieger aus ihren Betten gescheucht. Die Wachen an der Stadtmauer waren verstärkt und mehrere der Gardisten durch Männer ersetzt worden, die er noch nie gesehen hatte.

      Da stimmte etwas nicht.

      Er musste mit Jarladin sprechen.

      Rime lief wieder hinunter zur Stadt. Der feuchte Schnee knirschte unter seinen Füßen. Er näherte sich der Stadtmauer und bewegte sich vorsichtiger, geduckt hinter Wacholderbüschen. Vier Gardisten patrouillierten über dem Tor. Ansonsten war die Steinmauer über lange Strecken leer, eine grau gefleckte Schlange in der Dunkelheit. Er schlich zurück zu der Stelle, über die er gekommen war, ein Mauervorsprung, der ihn vor den Torwächtern verbarg.

      Rime zog die Handschuhe aus, klopfte den Schnee ab und steckte sie in die Tasche am Rucksack. Dann umarmte er die Gabe und begann zu klettern. Die Unebenheiten der Steine gaben ihm gerade genug Halt, um vorwärtszukommen. Er zog sich über die Kante, überwand die Mauer und ließ sich auf der anderen Seite auf ein Hausdach fallen. Ein Dachziegel löste sich und rutschte abwärts. Rime warf sich hinterher und erwischte ihn gerade noch, bevor er über die Dachrinne fallen konnte.

      Mit dem Ziegel in der Hand saß er da und lauschte. Ein Stück entfernt fiel eine Tür zu. In der Gasse unter ihm raschelte etwas. Eine Ratte. Sie schlug ihre Zähne in eine tote Taube und versuchte, sie über gefrorenes Laub mit sich zu ziehen.

      Rime legte den Dachziegel zurück an seinen Platz und lief über die Dächer weiter, hinauf nach Eisvaldr. Den ganzen Weg über standen die Häuser dicht nebeneinander. Erst kurz vor der Mauer musste er wieder hinunter auf die Straße.

      Die Mauer selbst war kein Hindernis. Schon immer waren die Leute ungehindert zwischen Mannfalla und Eisvaldr hin- und hergewechselt. Trotzdem waren auch hier die Wachen verstärkt. Gardesoldaten säumten alle Bogengänge. Ein Zeichen, das deutlicher war als ein Wegweiser. Hier regierte die Angst.

      Rime verzog sich in die Gasse hinter einem Wirtshaus. Durch ein leicht geöffnetes Fenster drang Gesang heraus. Halb ertrunkene Strophen, aber sogar die Töne waren auf dieser Seite der Stadt sauberer. Er nahm den Rucksack ab und verschob die Schwerter zum Mittelgurt, sodass sie verborgen entlang des Rückgrats lagen und nicht wie eine Kriegserklärung hinter seinen Schultern aufragten. Dann zog er sich die Kapuze tief ins Gesicht und überquerte den Marktplatz. Die Gardisten beobachteten ihn mit trägen Blicken, ließen ihn aber ungehindert nach Eisvaldr hinein.

      Heimatstadt. Stadt des Rats. Stadt des Sehers.

      Des Sehers, den er getötet hatte.

      Mit dem Gedanken kam die Erinnerung. Naiell, fauchend wie eine in die Ecke getriebene Katze. Der Körper, der dem Schwert Widerstand geboten hatte. Das Blut auf Hirkas nackten Füßen. Ihr Blick. So voller Trauer. So abgrundtief enttäuscht.

       Ich bin so, wie ich bin.

      Rime warf einen Blick hinauf zum Steinkreis. Der stand dort in falscher Unschuld, wie die Spitze eines Eisbergs. Die Steine reichten so tief hinab, dass sie in einer Höhle unter Mannfalla von der Decke hingen. Von dort war er gerade gekommen, vor allen Blicken verborgen.

      Hier an der Oberfläche waren sie nur bleiche Monolithen vor dunklem Himmel, ganz oben an der Treppe, wo einmal der Ritualsaal gewesen war. In dem er selbst gestanden hatte, mitten im Kreis, umringt von allen lebenden Seelen der Stadt, während Schwarzfeuer zu seinen Füßen verblutete. Wofür?

      Rime beugte den Nacken und ging weiter. Er hatte genug Zeit mit Trauer und Wut verschwendet, mehr, als er sich vorzustellen ertrug. Jetzt musste er herausfinden, was während seiner Abwesenheit passiert war.

      Jarladins Haus lag ganz oben am Hang, eines von vielen gepflegten Häusern der Ratsfamilien. Rime schlich zwischen winterkahlen Obstbäumen bergauf. Hielt sich auf den Wegen, um keine Spuren im Schnee zu hinterlassen. Er musste unentdeckt bleiben, wenigstens bis er mit Sicherheit wusste, was vor sich ging. Er sprang über die kleine Steinmauer auf der Rückseite des Hauses. Es war spät, aber hinter einem Fenster im oberen Stock sah er flackernden Kerzenschein.

      Das Haus war ein Prachtbau im andrakarischen Stil mit Säulenreihen und Schnitzereien in dunklem Holz. Kinderleicht zu erklettern.

      Rime zog sich auf ein Schrägdach hinauf und schlich am Rand entlang zum Fenster. Er legte die Hand ans Glas und ließ die dünne Reifschicht schmelzen, sodass er hineinsehen konnte.

      Jarladin war allein im Zimmer. Er saß auf einem gepolsterten Schemel und starrte in eine Feuerstelle, als wartete er darauf, dass die Flammen zur Nacht erloschen. Er drehte ein leeres Glas in den Händen. Sein breiter Rücken war gebeugt. Rime war sich schmerzlich bewusst, dass er selbst ein Teil dessen war, was den Ratsherrn bedrückte. Er war verschwunden. Ohne Ankündigung oder Erklärung.

      Er kämpfte gegen den Impuls, wieder hinunterzuklettern. Verschwunden zu bleiben. Ein schwarzer Schatten in der Winternacht. Wann hatte er eigentlich seinen Platz drinnen im Warmen gehabt?

       Tu, was notwendig ist.

      Rime warf einen Blick über die Schulter, versicherte sich, dass er allein war.


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