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Die Rabenringe - Gabe (Band 3). Siri PettersenЧитать онлайн книгу.

Die Rabenringe - Gabe (Band 3) - Siri Pettersen


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dann wollte sie es jedenfalls richtig auskosten.

      Hirka zog an dem Strickhemd, aber es war immer noch zu kurz. Weigerte sich, den Nabel zu bedecken. Es war sehr locker gestrickt, aus einem glänzenden Garn, das es wie eine unbrauchbare Kettenbrünne wirken ließ. Was für ein nutzloses Kleidungsstück. Aber sie musste ihr Bestes tun, um sich anzupassen.

      Sie ging dem Stimmengeräusch nach. Der Korridor hatte Wände, die sich nach innen neigten, wie ein umgestürztes Boot. Er mündete in einen rechteckigen Saal, an dessen Ende sich die Decke öffnete. Durch die Eisschicht darüber fiel blaugrünes Licht auf eine Gruppe von Leuten. Zu vielen Leuten. Ǫni stand ein Stück abseits von den anderen an einer Wand. Hirka merkte, wie ihr der Atem stockte. Sie zog wieder an dem Strickhemd. Fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, ohne große Hoffnung, dass es half.

       Die Familie. Ihre Familie. Blutsbande.

      Sie hatten sie entdeckt. Die Gespräche verstummten. Es wurde so still, dass Hirka das Geräusch ihrer Sohlen auf dem Steinfußboden hörte. Den Wind hörte, der über die Fenster fegte. Endlose Reihen von gewölbten Glasscheiben. Würde sie all diesen Blicken entgehen, wenn sie einfach durch das Fenster sprang und sich in den Krater stürzte? Wohl kaum … Nach dem Unwetter zu urteilen, hielt das Glas eine Menge aus.

       Sei stolz. Furchtlos. Sei eine Dreyri.

      Hirka straffte die Schultern und hob das Kinn. Ǫni kam zu ihr und stellte sich wie ein Schatten hinter sie. Bereit zu helfen. Zu übersetzen. Zu unterstützen. Hoffte sie wenigstens.

      Sie waren alle so fremd. Hirka wurde bewusst, dass sie allein in einem Raum mit Totgeborenen war. Starken, tierischen Wesen mit Klauen und Milchglasblick. Sie holte tief Luft, bebend.

      Ein Mann kam auf sie zu. Ein starker Mann, wie durch das enge schwarze Strickhemd gut zu erkennen war. Er trug einen kurz geschnittenen Vollbart und langes Haar, das herzergreifend rot war. Rot … Wie ihr eigenes Haar. Es wallte ihm auf die Brust hinunter. Hirka straffte die Lippen, damit sie aufhörten zu zittern.

      Er blieb vor ihr stehen. Breitschultrig, aber mit schmalen Hüften. Sie hob den Blick. Die Stille verlangte nach Taten. Sie musste etwas sagen. Kein anderer sagte etwas. Alle warteten auf ihn. Dass er sie abschätzte. Sie verstieß oder aufnahm.

      Er drehte sich zu den anderen um und breitete die Arme aus. »Haaaah!«

      Hirka zuckte zusammen. Das war halb Lachen, halb Ausruf. Er warf den Kopf zurück und lachte noch einmal. »Haaaah!« Dann drehte er sich wieder zu ihr um. Sagte etwas, das sie nicht verstand.

      »Sie spricht miserabel Umǫni«, sagte Skerri und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Mann ließ sich nichts anmerken. »Sie hat mein Haar!«, sagte er auf Ymsländisch. »Die Tochter meines Sohnes!«

      »Und Augen wie ein Tier«, kam es von Skerri.

      Hirka wünschte, sie wüsste, was sie Skerri getan hatte. Außer dass sie ein Herz mitgebracht hatte, das Skerri nur zu gern selbst herausgeschnitten hätte.

      »Mein Haar …«, flüsterte er. Dann kämmte er mit den Klauen durch ihr Haar. Hirka presste die Arme an den Körper. Kämpfte gegen den Drang, ihn zu berühren.

      »Seht!«, sagte er halb erstickt. »Seht, wie jung sie ist! Seht sie euch an!«

      Er schlang die Arme um sie. Ihr Gesicht wurde gegen eine steinharte Brust gedrückt. Sie spürte, wie seine Finger sich um ihren Kopf legten. Sein Bart stach auf ihrer Kopfhaut. Er sog ihren Geruch ein. »Die Tochter meines Sohnes. Blut von meinem Blut.«

      Er zog sich wieder zurück, ohne sie loszulassen. Sein Blick wanderte über ihr Gesicht.

      »Ich bin Raun«, sagte er. Der Name grub sich in ihr Herz und begann zu wachsen. Machte es ihr beinahe schwer, zu atmen.

      »Ich bin Hirka«, antwortete Hirka.

      »Und ob du das bist. Und ob du das bist«, erwiderte er, als hätte sie gerade gesagt, sie sei eine Göttin.

      Der Moment wurde durch ein schneidendes Frauengelächter zerstört. »Das da? Das sollen wir Hods Haus präsentieren?«

      Modrasmes Haus war eine siebenköpfige Familie, die Dienerschaft nicht mitgerechnet. Raun, der Rothaarige, war freundlich und gut aussehend. Seine Frau Uhere hatte kurzes schwarzes Haar und einen leichten Unterbiss. Der verlieh ihr etwas Grimmiges, als würde sie die ganze Zeit die Zähne zusammenbeißen. Raun und Uhere. Graals Vater und Mutter. Ihre Großeltern. Hirka wiederholte es in Gedanken immer wieder, aber es blieb trotzdem unwirklich.

      Im Haus lebte auch Uheres Vater, Lug. Ein magerer Mann mit glattem Haar, das ihm ins Gesicht hing wie eine dunkle Gardine. Er hatte eine jüngere Frau, Cirra. Die beiden hatten eine gemeinsame Tochter, Vana, mit ihren 298 Jahren die Jüngste in der Familie. Bis Hirka aufgetaucht war natürlich.

      Vana lag wie hingegossen in einem Sessel voller Tierfelle und spielte mit einer Halskette, die sie sich um den Finger wickelte. Sie hatte braunes, lockiges Haar und volle Lippen, die zu groß für das Gesicht wirkten.

      Modrasme war das Oberhaupt der Familie. Über 3700 Jahre alt, aber ohne eine einzige Falte im Porzellangesicht. Sie würdigte niemanden eines Blickes. Saß nur auf einem hochlehnigen Stuhl da und starrte ins Leere. Ihr Silberhaar wallte bis hinunter zur Taille.

      »Lasst mich sie sehen«, sagte sie schließlich. Raun führte Hirka zu ihrem Stuhl. Hirka wäre beinahe vor ihr auf die Knie gefallen, konnte sich aber gerade noch zurückhalten. Sie lehnte sich etwas vor, auf Modrasmes erhobene Hand zu. Auf dem Gesicht der Frau, die dem Haus ihren Namen gegeben hatte, lag ein müder Ausdruck. Nicht erschöpft, eher so, als könnte nichts sie jemals beeindrucken. Sie legte eine kühle Hand an Hirkas Wange. Betrachtete sie eine Weile, dann seufzte sie und wedelte mit der Hand, als wollte sie alle wegscheuchen.

      Das schien Skerri und Vana zu erheitern, denn sie lächelten einander zu. Auf welche Weise Skerri der Familie angehörte, blieb unklar für Hirka. Aber sie sprach, als wäre sie der Mittelpunkt. Hirka hatte Mühe, den Gesprächen zu folgen, bekam aber mit, dass sie sich offen über Hirkas Mängel unterhielten. Die Sprache. Die Augen. Die stockdürren Ärmchen. Die fehlenden Klauen … Hirka hasste es langsam, dass sie keine hatte. Die anderen sprachen über sie, als wäre sie nicht anwesend.

      Ǫni übersetzte ihr alles. Sie flüsterte Hirka ins Ohr, sich offenbar nicht bewusst, wie weh die Worte taten.

      Wie war es dazu gekommen? Wie war sie in eine Situation geraten, in der sie eine Art Rettung für eine totgeborene Familie war? Das waren Fremde! Mit fremden Leben und fremder Lebensart, und was ihnen wichtig war, zählte für Hirka nicht. Weder Haus noch Ehre. Für sie gab es nur eins, was zählte, und das war die Gabe. Das Wissen dieser Leute war der einzige Weg, den Schnabel zu verstehen.

      Hirka beugte den Kopf zu Ǫni. »Sag ihnen, dass ich einen Seher treffen muss. Sag, dass es wichtig ist.«

      Ǫni schüttelte den Kopf. »Andere Dinge sind viel wichtiger.«

      Hirka bestand darauf. »Sag es.«

      Ǫni übersetzte. Die anderen sahen sich an, als verstünden sie die Bitte nicht. Vana lachte hochmütig in ihrem Sessel, aus dem sie sich immer noch nicht erhoben hatte. Seltsam für eine Dreyri, nach allem, was Hirka gelernt hatte.

      Es war Uhere, die antwortete. Ihre Großmutter, die aussah, als wäre sie um die dreißig Winter alt, und so sah sie sicher schon seit einer ganzen Ewigkeit aus. Das schwarze Stirnhaar hing ihr vor den Augen. Ein Anflug von Sorge streifte ihr Gesicht. Sie trug einen Halsschmuck, der erdrückend eng aussah.

      »Kein Seher kann dir helfen bei dem, was du jetzt tun musst. Die Zeit ist knapp. Hods Haus weiß, dass du hier bist, und sie werden dich bald sehen wollen. Wenn wir Glück haben, kannst du bis dahin einen Satz auf Umǫni zustande bringen. Und wenn wir noch mehr Glück


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