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Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist. Jan SkudlarekЧитать онлайн книгу.

Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist - Jan Skudlarek


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Internet-Verschwörungstheoretiker lediglich vor seinem Publikum »spielen«. Ganz recht: Derjenige, der die Echtheit und Aufrichtigkeit anderer quasi berufsmäßig böswillig anzweifelt, lässt sich privat vor Gericht mit einer »Das ist alles gar nicht echt«-Strategie verteidigen. Als wäre das nicht verrückt genug, ging Jones anschließend zurück in seine Sendung und dementierte Medienberichte über seinen Gerichtsprozess und seine kuriose Verteidigungsstrategie und verkündete, er sei so »authentisch und hardcore und echt, wie es nur geht, und jeder weiß das«. Das texanische Gericht sprach der Kindesmutter das Sorgerecht zu (Jones darf die gemeinsamen Kinder jedoch besuchen).

      Doch zurück zum Thema: Beide False-Flag-Varianten basieren auf dem subjektiven Eindruck, immer getäuscht und belogen worden zu sein. Unterschiedlich ist jedoch jeweils das Ausmaß. Es zeigt sich eine fundamentale Eigenschaft von Verschwörungstheoretikern: Die Überzeugung oder auch das Bauchgefühl, immer und überall über den echten Lauf der Dinge getäuscht zu werden.

      Auf theoretischer Ebene hat die zweite Argumentform des Falsche-Flagge-Krisenschauspieler-Arguments zwei Komponenten.

      Erstens: Alles, was ich sehe, ist nicht echt, sondern inszeniert.

      Zweitens: Alles, was ich sehe, wurde von jemandem inszeniert. Wie echte Schauspieler handeln auch Krisenschauspieler nicht ohne Regie und Drehbuch. Jemand steckt dahinter. Und warum? Jemand steckt dahinter, um zu täuschen. Deswegen sind False-Flag-Vorwürfe in der Regel Verschwörungstheorien. Weil Urheber mit bösen, heimlichen Absichten notwendiger Bestandteil des Schauspielvorwurfs sind.

      Es wird sich auch kein vermeintlicher Krisenschauspieler hinstellen und sagen: »Ja, klar, ich bin Schauspieler, und hinter allem steckt die Anti-Waffen-Lobby, hier ist mein Drehbuch. Ich verdiene pro Tag zweihundert Dollar«. Aus Sicht des gesunden Menschenverstands: Weil es ja keine Krisenschauspieler gibt. Oder aus der Sicht der Verschwörungstheoretiker: Weil das Täuschungsmanöver sonst auffliegen würde.

      Diese konspirative Wirklichkeitsverdrehung ist weniger amüsant, als sie klingt. Oft eskaliert der Streit um Echtheit und Wahrheit – und zwar auf Grundlage solcher abstrusen Behauptungen. Im Zeitalter des Internets konkretisiert sich das abstrakte Krisenschauspieler-Argument leicht in Hasskommentaren, Rufmord und Psychoterror.

      Nehmen wir den Fall von Lenny Pozner. Lenny Pozner gehört zu den Eltern, die beim Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School im Dezember 2012 ihr Kind verloren haben. Der Grundschüler Noah Pozner wurde vom Amokläufer mit mehreren Schüssen aus einem halbautomatischen Sturmgewehr aus kurzer Distanz erschossen. Er galt als fröhlicher, liebenswürdiger Sechsjähriger.

      So zumindest »die offizielle Story«.

      Verschwörungstheoretiker widersprechen.

      Vehement.

      Wenige Tage nach dem Tod seines Sohnes ging der Terror los. Pozner, der durch Interviews ins Visier der Verschwörungstheoretiker geraten war, wurde selbst zur Zielscheibe. Auch über fünf Jahre nach dem Attentat hält es an: Beleidigende E-Mails. Bedrohungen. Tiraden. Pozner erhält seit Jahren regelmäßig derartige Nachrichten:14

      »Fick dich!! Dein Kind starb nicht bei Sandy Hook. Du kannst nicht ernsthaft behaupten, dass er starb! Komm schon, Mann. Ich weiß die haben dir eine ordentliche Summe gezahlt, aber warum lügst du uns an?«

      Oder eine weitere E-Mail:

      »Du bist ein Betrüger und ein Arschloch. […] Bist du verrückt? […] Du stinkst. Du solltest angeklagt werden. Du und deine Kumpane sind Lügner und Diebe. […] Du Drecksack. […] Oh, und nebenbei, der Totenschein deines Sohnes – tolle Arbeit. […] Warum nennst du der Öffentlichkeit nicht deinen wahren Namen? […] Du bist ein verdammter Witz. […] Verrotte in der Hölle, du Wichser.«

      Und:

      »Pozner, für dich ist ein besonderer Platz in der Hölle reserviert. Nimm die Beine besser in die Hand, bevor wir dich finden.«

      Manche sagen, dass sein Kind dort gar nicht gestorben ist. Schreiben das Wort »tot« in Anführungszeichen. Andere behaupten, dass Pozner nie ein Kind gehabt habe. Dass er gar nicht Pozner heiße. Sie bezeichnen ihn als »Arschloch«, »Lügner«, »Betrüger« – oder wundern sich, wie eine solche erfundene, »fiktive Person« sich vor Gericht gegen Beleidigung und Bedrohungen wehren kann. Alles Zuschriften, die ihre theoretische Grundlage in der Vorstellungswelt von »Fake News« und »Lügenpresse« finden. Es ist die Wut der scheinbar Getäuschten. Dass sie keine handfesten Beweise für eine Täuschung haben, stört sie dabei nicht.

      Immerhin gab es Konsequenzen für die Hasstiraden. Ein Professor wurde deswegen gefeuert. Eine Frau musste ins Gefängnis. Selbst Verschwörungstheoretiker werden bisweilen von der Wirklichkeit eingeholt.

      Internet und Echtheit

      Einen wichtigen Bereich haben wir noch nicht angesprochen: digitale Echtheit. Polizisten, Diamanten und Zeugnisse müssen wir nur in Ausnahmefällen auf ihre Echtheit hin überprüfen. Doch Echtheitsfragen sind im 21. Jahrhundert durchaus Alltagsfragen, die wir uns mehr oder minder bewusst stellen. Vor allem im Internet ist Zweifeln häufig sinnvoll. Zur Medienkompetenz gehört die Beantwortung der Frage: Was lese ich da gerade? Wer spricht mit mir? Ist das Gelesene aller Wahrscheinlichkeit nach wahr?

      In Zeiten von Fake News, Stimmungsmache und Propaganda ist das nicht immer einfach. Fake-Accounts treten als echte Menschen auf – und werden in Wahrheit von Agitatoren betrieben, um gezielt Stimmung zu machen. Nicht nur, dass es manche sich als Absender aufspielende Menschen hinter Fake-Accounts gar nicht gibt; oft betreiben solche Stimmungsmacher eine Vielzahl von Fake-Accounts, zwischen denen sie hin- und herwechseln. Sehr wenige aktive Nutzer sind also für sehr viele Kommentare verantwortlich. Von den social bots gar nicht zu reden, also von künstlichen Accounts, die maschinell reagieren und Meinungen zu beeinflussen versuchen.

      Und noch weiter: Vermeintliche Nachrichtenseiten werden in Wahrheit nicht von Journalisten, sondern von Privatpersonen betrieben. Ein paar Bilder drauf, dem Ganzen einen wohlklingenden Namen gegeben, Webseitenstruktur imitiert – und schon glauben viele Nutzer, es handele sich um eine echte Nachrichtenseite. (Klonen kann man nicht nur Lebewesen, sondern auch digitale Infrastrukturen.)

      Als Nutzer und Leser muss ich mich fragen: Was sind die Eigenschaften dieser Nachrichtenseite? Dieses Facebook-Accounts? Kann ich etwas über die Geschichte dieser Nachrichtenseite, dieses Accounts herausfinden? Postet er erst seit gestern? Auch zu anderen Themen? Wie ist der Tonfall, wird sich wenigstens im Ansatz um eine anderslautende Sichtweise bemüht? Ist alles nur emotional? Oder auch sachlich fundiert? Aus einem solchen Fragenkatalog können wir Indizien ableiten, die uns helfen, digitale Echtheit von digitaler Unechtheit zu trennen. Wer Quellen nicht nennt, Nachrichten emotionalisiert, aus Kleinigkeiten Skandale ableitet – der sollte bei uns unter Verdacht stehen, keine Quelle »echter Nachrichten« oder Informationen zu sein. Täuschungsabsichten lassen sich indirekt ableiten.

      Unsere kleine Theorie der Echtheit kann also im Digitalen angewendet werden. Es geht immer darum, Eigenschaften und Geschichte einer Sache in einen Gesamtzusammenhang zu stellen.

      Kleine Theorie der Echtheit

      Wir fassen zusammen. »Echt« und »unecht« sind Begriffe, die ein Sprecher dafür nutzt, um die Wirklichkeit zu beschreiben. Grundlage ist die stoffliche und die soziale Wirklichkeit – oder eine Kombination aus beidem. Die stoffliche Wirklichkeit spielt in erster Linie dann eine Rolle, wenn wir uns auf Physisches beziehen. Ein Diamant ist dann ein echter Diamant, wenn er die Eigenschaften eines Diamanten hat. Gleiches gilt für echtes Leder, echtes Gold oder echten Champagner.

      Echtheit zu erkennen, heißt Echtheit anzuerkennen. Dieses (An-)Erkennen ist nicht allein Angelegenheit des Sprechers. Ich kann Kunstleder nicht zu Leder machen, indem ich es »Leder« nenne anstelle von »Kunstleder«. Die Kriterien dafür, was echte Dinge sind und was nicht, sind überindividuell oder intersubjektiv. Überindividuell heißt: Es geht um Gemeinschaft und Kontext. Eine Gemeinschaft von Menschen entscheidet aus dem Zusammenhang heraus,


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