Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist. Jan SkudlarekЧитать онлайн книгу.
wir sagen:
X gilt als echtes Y in der Gemeinschaft G, weil G dieses X als Y anerkennt.
Echtheit ist kollektive Echtheitszuschreibung. Dieses Anerkennen geschieht mit Bezug auf bestimmte Eigenschaften (»hat einen Schmelzpunkt von 1064 °C«, »ist Schaumwein aus der Champagne«, »hat die Ausbildung zum Polizisten erfolgreich absolviert« usw.).
Relevante Eigenschaften können auch soziale Eigenschaften sein.
Und die folgenden Merkmale sind wichtig, wenn wir über Echtheit philosophieren:
Geschichte. Ein echtes X kommt daher, »wo normalerweise Xe herkommen«. Diese Echtheitsgeschichte ist nicht zuletzt eine kausale. Echte Diamanten stammen aus der Natur, echtes Geld stammt vom Staat, echte Zeugnisse von Schulen und Universitäten. Stammen Zeugnisse oder Geld aus meinem persönlichen Drucker, sind sie nicht echt. Bastle ich mir meine Polizeiuniform selber, ist sie nicht echt. Wir müssen also etwas über die Herkunftsgeschichte von X erfahren, um auf dieser Grundlage einschätzen zu können, ob wir es als echtes X anerkennen sollten.
Eigenschaften. Unabhängig davon, ob es um echtes Gold, echtes Geld, echte Polizisten oder echte Attentatsopfer-Angehörige geht: Man muss bestimmte Eigenschaften aufweisen, um als Gold, Geld, Polizist oder Angehöriger zu gelten.
Zwischen Eigenschaften und Geschichte besteht dabei ein Zusammenhang. In der Regel: ein kausaler. Ein X hat deswegen diese und jene Beschaffenheit, weil es diese und jene Geschichte hat. Geschichte ist insofern Ursachengeschichte. Aber nicht nur. Eine Geschichte zu haben, heißt darüber hinaus, eine soziale Einbettung zu haben.
Wir ergänzen:
X gilt als echtes Y in der Gemeinschaft G, weil G dieses X als Y anerkennt. Diese Anerkennung ist nicht willkürlich. Geschichte und Eigenschaften von X sind Grundlage der Echtheitsanerkennung.
Am Beispiel Champagner formuliert:
Veuve Clicquot (X) gilt als echter Champagner (Y) innerhalb der Gemeinschaft der Weinkenner (G), weil Weinkenner Veuve Clicquot als Champagner anerkennen. Handverlesene Trauben, Flaschengärung, ein streng abgegrenztes Anbaugebiet usw. sind Grundlage der Echtheitsanerkennung.
Oder am Beispiel Polizist formuliert:
Max Musterpolizist (X) gilt als echter Polizist (Y) innerhalb der Bundesrepublik Deutschland (G), weil die Bundesrepublik Deutschland und die Bürger Max Musterpolizist als Polizisten anerkennen. Eine körperliche und geistige Eignung, eine mehrjährige erfolgreiche Ausbildung usw. sind Grundlage dieser Echtheitsanerkennung.
Und aus der anderen Richtung gesehen:
Unechtheit steht in einer negativen Relation zum Original (oder auch: einer parasitären, wie ein Parasit, der von seinem Wirtstier lebt). Kunstleder ist vor allem eines nicht: echtes Leder. Falschgeld ist vor allem eines nicht: echtes Geld. Ein Betrüger, der einen Polizisten spielt, ist vor allem eines nicht: ein echter Polizist. Ein Schauspieler, der einen trauernden Vater spielt, ist vor allem eines nicht: ein echter trauernder Vater. Besteht Verwechslungsgefahr zwischen echt und unecht, dann deshalb, weil absichtlich oder unabsichtlich – meist absichtlich – eine Ähnlichkeitsbeziehung betont und ausgenutzt wird. Kunstleder soll identisch oder ähnlich aussehen wie Leder. Beltracchis gefälschte Gemälde sollten identisch oder ähnlich aussehen wie echte Meistergemälde. Anders Breivik hat sich als Polizist verkleidet, um durch diese Ähnlichkeit für einen echten Polizisten gehalten zu werden. Das sind Fälle bewusster Täuschung.
Wo liegt aber das Problem bei der Unechtheit? Wenn jemand die Situation ausnutzt. Wo eine Verwechslungsgefahr besteht, vermuten wir eine Täuschungsabsicht. Ob diese besteht oder nicht, gilt es jeweils zu untersuchen. Bei Echtheit oder Unechtheit geht es somit vor allem um eines: Fakten. Um nachprüfbare Fakten.
Wir haben viel über die Probleme bei der Einschätzung von Echtheit gesprochen. Die Unterscheidung von Echtheit und Unechtheit und einer Täuschung ist deshalb wichtig, weil dies in dieselbe Richtung wie Wahrheit und Falschheit deutet.
Kein echtes Ende
Echt und unecht liegen nah beieinander. Manchmal näher, als uns lieb ist. Durch die Blume gesprochen: Plastikpflanzen sehen echt aus, sind es aber nicht. Letztlich sind die Wörter »echt« und »unecht« Bewertungen unserer Realität. Sie sagen etwas darüber aus, was wir aus unserer Perspektive für wahr halten. Das gilt für uns als Individuen sowie für uns als Gemeinschaft. Anhand von Beobachtung und aus Erfahrung schätzen wir die Welt ein. Wie wir gesehen haben: Nicht immer richtig. Eher harmlose Fälle wie die Unsicherheit, ob es sich bei etwas um echtes Leder handelt, gehen nahtlos über in gesellschaftliche Fragen. Ist dieser Mensch vor mir der, der er vorgibt zu sein? Oder will er mich belügen? Betrügen? Das kann wie im Fall des falschen Polizisten Breivik tragische Konsequenzen haben. Deshalb ist es nicht grundsätzlich verkehrt, hier und da ein wenig misstrauisch zu sein. Auf sein Echtheits-Bauchgefühl zu hören.
Bei manchen von uns kippt ein grundsätzlich gesundes Misstrauen jedoch in einen verschwörungstheoretischen Zweifel. Bei diesen Verschwörungstheoretikern schlägt vor allem die Frage nach sozialer Echtheit hohe Wellen. Überall vermuten sie Lügner, Betrüger, Schauspieler. Sie fühlen sich von einer Medienmaschinerie getäuscht. Einer Medienmaschinerie, die auf nichts anderes ausgerichtet ist als darauf, die echte Wahrheit zu verdrehen. Diese Denkweise ist kein Randphänomen – sie ist bei Millionen von Menschen bestimmend. Die Opfer der Lügenpresse sind quasi vom Glauben abgefallen. Vom Glauben an die Verlässlichkeit der Medien, der Aufrichtigkeit ihrer Mitmenschen allgemein. Sie leben in einer feindlichen, auf Täuschung angelegten Umwelt.
Manche von ihnen macht das wütend, aggressiv. Solche Wutbürger teilen gegen jene aus, die sie vermeintlich täuschen und manipulieren. Weil man an die Hintermänner der Inszenierung nicht herankommt, werden häufig Journalisten selbst und jene zum Ziel erwählt, über die sie berichten. Menschen wie Lenny Pozner.
Der Glaube daran, dass alle Presse Lügenpresse ist, an False-Flag-Operationen mit Schauspielern oder gar an eine allumfassende Täuschung: Als Einzelner mag man darunter subjektiv fälschlicherweise leiden. Die irrtümliche Überzeugung, getäuscht zu werden, enthebt allerdings nicht ganz realer Konsequenzen. James Cohn, der Richter (vermutlich kein Schauspieler-Richter), der Lucy Richards, eine Sandy-Hook-Hetzerin, zu einer Gefängnisstrafe verurteilte, weil sie Lenny Pozner bedrohte, tat dies mit folgenden Worten:
»Dies ist die Realität und keine Fiktion. Es gibt keine alternativen Fakten.«15
Die möglichst wahre Beschreibung der Wirklichkeit ist und bleibt das übergeordnete Problem in einer unordentlichen Welt. Deshalb untersuchen wir im nächsten Kapitel, was eine verschwörerische Weltsicht bedingt, wie diese Mitmenschen ticken und was sie zu ihrer Weltsicht motiviert.
V wie Verschwörung. Über Wahrheit und Manipulation
Sie sind hinter dir (her)
Ist die Erderwärmung von falschen Experten erlogen? Oder noch schlimmer: von Chinesen? Um die Weltherrschaft an sich zu reißen? Werden Kinder in Wahrheit durch Impfungen krank? Und diese ganzen Flüchtlinge: Steckt Angela Merkel wirklich hinter der Flüchtlingskrise? Gibt es eine gezielte Islamisierung Europas? Aber vor allem: Für wen lügt die Lügenpresse?
Fragen über Fragen.
Verschwörungstheoretische Fragen.
Mal ist der Klimawandel ausgedacht, fast immer sind die Eliten korrupt.
Am Anfang des dritten Jahrtausends schwinden die Gewissheiten.
Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur. Zumindest gefühlt. Und gefühlte Wahrheiten sind die neuen Fakten.
Doch der Reihe nach. Was sind Verschwörungstheorien überhaupt? Die naive Antwort lautet: Vermutungen über Verschwörungen. Was zählt als Verschwörung? Und was nicht?
Die Erderwärmung: Hokuspokus.
Kondensstreifen: Giftig.
Merkel: Verrät uns.
In