Bodies. Im Kampf mit dem Körper. Susie OrbachЧитать онлайн книгу.
und einer Kultur ausmacht.
Es fällt uns schwer, Andrews Beine, mit denen er fünfzig Jahre wider Willen leben musste, als eine ähnliche Art von Geburtsfehler zu betrachten. Unsere Vorstellungskraft ist zu beschränkt. Die meisten von uns fürchten körperliche Behinderung. Wir assoziieren eingeschränkte Bewegungsfähigkeit mit dem Alter, nicht mit dem Beginn eines neuen Lebens. Und doch können wir – betrachten wir einmal Andrews Verhältnis zu seinen Beinen und den Wunsch von Transsexuellen nach Geschlechtsangleichung als psychologisch vergleichbar – an seinen Fall ähnlich herangehen. Woher, fragen wir, kommt dieser Wunsch? Wie sieht der familiäre Hintergrund aus? Wie kam es dazu, dass seine Beine eine ähnliche Bedeutung annahmen wie ein unerwünschter Penis?
Um uns einer Vorstellung anzunähern, die bei vielen von uns zunächst so wenig emotionalen Widerhall findet, können wir Fragen formulieren, die uns die Konstruktion eines Bildes erleichtern – eines Bildes, das in diesem Fall vielleicht das Woher und Wozu von Andrews Wünschen und Handlungen zu erhellen vermag.
Hatten sich Andrews Eltern, als er klein war, über seine ersten Gehversuche lustig gemacht? Wurde er immer getragen, sodass seine Beine für ihn ein Anhängsel darstellten, das er von seinem Gefühl her nicht brauchte? Wollte er unbedingt getragen werden, musste aber selbst laufen? Repräsentierten seine Beine für ihn eine Form von Selbstständigkeit, für die er sich nie bereit fühlte? War jemand in seiner Umgebung – Eltern, Verwandte, Lehrer – körperbehindert? Fühlte er sich innerlich »von den Beinen geholt«? Während ich mir diese Fragen stellte, versuchte ich, mich in seine Situation zu versetzen und meine eigenen Beine wegzudenken. Sofort fühlte ich mich extrem exponiert. Meine Sexualität fühlte sich zu bloß liegend an, mein Gesäß zu markant. Das Überraschende war, dass, zumindest in meiner kurzzeitigen Fantasie, weder Schwäche noch Hilflosigkeit das dominante Gefühl war. Aber diese Art der Exploration am eigenen Leib brachte mich nicht sehr weit: Die Situation war mir zu fremd, um in mir ein Echo zu finden. Also wandte ich mich wieder der Frage zu, was an seinem vollständigen Körper für Andrew zu einem solchen Affront geworden sein konnte. Ich ging ihr nach, indem ich reflektierte, was in den USA der 1950er-Jahre mit Körpern passierte und ob darunter etwas war, was eine Amputation erstrebenswert erscheinen lassen könnte.
Andrew wuchs in einem spannungsgeladenen Elternhaus auf. Er beschreibt seine Mutter, die Lehrerin war, als hart und streng, seinen Vater als gleichgültig und vernachlässigend. Als einsames, unglückliches Kind pflegte er aus dem Fenster zu starren und zu hoffen, dass irgendetwas passieren würde. Aber in den weißen vorstädtischen USA jener Zeit passierte nicht viel, was sein Interesse hätte auf sich ziehen können. In allen Häusern ging es, zumindest nach außen hin, mehr oder minder gleich zu.[17] Eine gefürchtete Ausnahme war die Kinderlähmung: Die Infektionsangst war allgegenwärtig. Immunisierung durch Impfung war das große Ziel der Gesundheitspolitik. Eine enge Freundin seiner Mutter, die nett zu ihm war, hinkte. Ein Kind in der Schule bewegte sich geschickt an Krücken fort. Eine fröhliche Bilderserie in Life – damals eine wichtige Wochenzeitschrift mit enormer Reichweite – zeigte Kinder mit Kinderlähmung beim Ballspielen. Diese Fotos fesselten ihn. Sie waren ein lebhafter Kontrast zur öden Gleichförmigkeit seiner Tage.
Im Kopf entwickelte Andrew eine Lösung für sein Problem, sich emotional auf dem Trockenen zu fühlen: Er würde aus seinem Körper einen Körper machen, der Mitgefühl weckte – bei anderen und bei ihm selbst. Er begann, sich nach einem Körper zu sehnen, der die seelischen Wunden des Kindes, das sich nicht liebenswert und akzeptabel fühlte, nach außen zeigte. Einem Körper, der seine emotionale Verletzung und Beschädigung widerspiegelte. Einem Körper, der vielleicht etwas Teilnahme auslösen würde. Als er in die Pubertät kam, experimentierte er heimlich damit, beide Beine in ein Hosenbein zu stecken und sich an Krücken fortzubewegen – ein Vorgefühl des Körpers, auf den er fast vierzig Jahre würde warten müssen.
Andrews Situation stellt eine Herausforderung dar. Wir haben wenig gelernt, wenn wir sie nur als Obsession einstufen, als hysterische Fehlinterpretation des faktisch Gegebenen, als bizarres Symptom. Wenn wir das tun, packen wir sie in eine Schublade, sperren unsere eigene Beunruhigung säuberlich weg, aber verstanden haben wir nichts. Auch wenn sich diese Situation zunächst unserem Verständnis entziehen mag – indem wir uns Zeit nehmen und neben dem Intellekt auch unsere eigenen aufgewühlten Gefühle, statt sie als Hindernis zu begreifen, als Werkzeug der Exploration benutzen, gelangen wir zu einer Reihe von Fragen, die den Körper in unserer Zeit generell betreffen und deren Relevanz weit über Andrews konkretes Dilemma hinausgeht.
Dr. Bert Berger berichtet, dass Andrew nach der selbst erzwungenen Amputation ein Leben fand, das für ihn stimmig war. Er erlangte eine Zufriedenheit mit seinem Körper, die vorher für ihn unerreichbar war. Vielleicht ist es in diesem Sinn gemeint, wenn Dr. Berger sagt, Andrew sei nicht psychisch krank. Er hat ja in der Amputation seiner Beine tatsächlich eine Lösung gefunden. Sie hat ihm das Gefühl gegeben, einen Körper zu haben, der für ihn richtig ist. Bei Aleshia Brevard spüren wir deutlich, dass ihr die physische Beseitigung ihres Problems eine ruhige Zufriedenheit mit sich selbst beschert hat. Da ihr »Geburtsfehler« schon früh korrigiert wurde, lebte sie viele Jahre als Frau, mit den üblichen Unzufriedenheiten, die das Frausein in unserer Zeit mit sich bringt.
Natürlich laufen Körper manchmal aus dem Ruder. Nicht auf der medizinisch-organischen Ebene – Körper weigern sich aus irgendeinem Grund, sich so zu verhalten, wie sie sich verhalten sollten. Sie funktionieren nicht mehr erwartungsgemäß. Ein Arm oder ein Bein ist plötzlich gelähmt, oder eine Frau bildet einen schwanger wirkenden Bauch aus, obwohl keine Befruchtung stattgefunden hat. Ein Mann entwickelt vielleicht eine zwanghafte sexuelle Fixierung auf Stöckelschuhe und kann nicht ejakulieren, ohne einen solchen Schuh zu sehen oder zu liebkosen. Solche Phänomene fielen Sigmund Freud im ausgehenden 19. Jahrhundert auf, und ihn faszinierte das Verhältnis zwischen Psyche und Körper, oder genauer gesagt, die psychischen Entstehungswege des körperlichen Symptoms. In Gesprächen mit seinen Patient*innen spürte er den Ursprüngen körperlicher Symptome nach, die nicht konstitutionell oder erblich bedingt waren. Er zog Verbindungen zwischen dem, was die Einzelnen erlebt hatten, ihrer Erinnerung und Konstruktion des Geschehenen und ihrer Einordnung dieses Erlebens im Licht ihrer unbewussten Wünsche und Konflikte. Freud wies überzeugend nach, dass die Psyche großen Einfluss auf den Körper üben konnte. Sein Werk hat, auch wenn es anfangs nur zögerlich aufgenommen wurde, unsere Sicht des Verhältnisses und der Interaktion zwischen Psyche und Körper revolutioniert.
Freuds Erkenntnisse leiten uns zu Recht seit über einem Jahrhundert. Sie sind nicht nur die Grundlage des psychoanalytischen Instrumentariums, sondern haben auch den gesamten medizinischen Bereich durchdrungen, sodass es heute Allgemeingut ist, die Auswirkungen von Stress auf das Immunsystem, das endokrine System und das Verdauungssystem oder auch auf das größte unserer Organe, die Haut, zu berücksichtigen. Wir zögern nicht, Ekzeme mit psychischem Stress in Verbindung zu bringen. Wir ignorieren zwar nicht die chemischen Reizstoffe, die Jucken und Rötung auslösen, belassen es aber kaum je dabei; wir gehen dem Verhältnis zwischen Emotionen, persönlicher Geschichte und den verschiedenen Körpersystemen nach.
Vor allem aber hat uns Freud gezeigt, dass die Annahme einer »natürlichen« menschlichen Sexualität eine irrige Vorstellung ist. Sexuelles Begehren ist durchtränkt von Konflikten, Wünschen und Fantasien. Es gibt gewaltsame Sexpraktiken wie Pädophilie oder Sex mit Tieren, aber auch auf Konsens basierende und dennoch in der Mehrheitsgesellschaft als deviant angesehene Praktiken wie Fetischismus, Klappensex und BDSM, um nur ein paar zu nennen. Im 21. Jahrhundert ist der Körper selbst ein ebenso kompliziertes Feld geworden, wie es zu Freuds Zeiten die Sexualität war. Auch er ist geformt und deformiert durch die früheste Interaktion mit unseren Bezugspersonen, Träger*innen der Normen und Imperative unserer Kultur, wie der Körper auszusehen und wie man mit ihm umzugehen hat. Deren Wahrnehmung eigener körperlicher Mängel und Stärken, ihr Körperideal und ihre Körperängste wirken sich auf das Kind aus. In meinem Sprechzimmer wird dieser Niederschlag im kindlichen Körpergefühl und in der Körperinstabilität des Erwachsenen deutlich. Neu und beunruhigend ist aus meiner Sicht die Häufigkeit, mit der elterliches Körperunbehagen im Körpererleben meiner erwachsenen Patient*innen zum Tragen kommt. Was sich da offenbart, ist die Weitergabe unsicherer Körperlichkeit von einer Generation an die nächste.
In meiner Anfangszeit als Psychotherapeutin